12.09.2024

Buchdetails

KI & Kultur: Chimäre oder Chance? Voraussetzungen – Anwendungen – Potentiale
von Martin Lätzel, Tobias Hochscherf
Verlag: Wachholtz
Seiten: 150
 

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Autor*in

Daniel Ivanov
hat einen Doppel-B.A. in Soziologie und Europäische Ethnologie/Volkskunde abgeschlossen und beendet gerade sein Masterstudium. Sein bevorzugter Zugang ist qualitative Forschung; thematisch u.a. Religionssoziologie. 
Buchrezension

KI & Kultur: Chimäre oder Chance? Voraussetzungen – Anwendungen – Potentiale

Die Breite der Einsatzmöglichkeiten Künstlicher Intelligenz wird im Kulturbereich bislang nur bedingt genutzt, insbesondere in Hinblick auf das Kulturmanagement, Inhaltserschließung oder Strategieentwicklung. Praktische Beispiele dafür präsentiert der Sammelband "KI & Kultur" und ordnet zugleich die Diskussionen um Künstliche Intelligenz kritisch ein.
 
Ein praktischer Ansatz 
 
"KI-generierte Bücher fluten Amazon." So oder so ähnlich klangen Schlagzeilen im Sommer 2023. Aufsehenerregend war, dass erstmals umfangreiche Texte mit KI generiert worden waren. Außerdem handelte es sich manchmal um Zusammenfassungen von bereits veröffentlichten Büchern. Ein Ärgernis für die Autor*innen. Rechtsexpert*innen sind sich in dem Fall uneinig, wie das Urheberrecht auf solche Fälle anzuwenden sei, weil Zusammenfassungen normalerweise keine Urheberrechtsverletzung darstellen. Ähnlich ist es bei KI-generierten Texten, bei Musik und Bildern, die mittels Künstlicher Intelligenz geschaffen wurden und selbst keinem Urheberrecht unterliegen, aber teilweise urheberrechtsgeschützte Vorbilder für die Generierung nutzen. Wir stehen hier vor der Umwertung von zentralen Kulturbegriffen wie Autor*innenschaft, Originalität oder Urheber*innenschaft. Dazu gehört auch, neue Kategorien bilden zu müssen, sagte der KI-experimentierfreudige Literaturwissenschaftler Hannes Bajohr in Sternstunde Philosophie. 
 
Das Werk "KI & Kultur: Chimäre oder Chance?" von Martin Lätzel und Tobias Hochscherf, erschienen 2023 im Wachholtz Verlag, geht das Thema KI praktisch an, indem es in 14 Kapiteln mehrere kulturorientierte KI-Forschungsprojekte präsentiert. Beispielsweise berichtet Kapitel 8 von dem Versuch des Stadtarchivs Kiel, die Erzeugung von Metadaten für historische Fotografien zu automatisieren. Die meisten Autor*innen sind dabei Mitwirkende an Projekten, die sich mit Digitalisierung und Kultur befassen. 
 
Im Gegensatz zu anderen Werken, die sich mit Künstlicher Intelligenz beschäftigen, nimmt dieser Text eine affirmativ-optimistische Haltung ein. Die Technologien werden als "Mehrwert für Menschen" verstanden. Maschinen ergänzen Menschen, anstatt sie zu ersetzen, lautet das Motto. Der Mensch wird in seiner Handlungsfähigkeit, die KI in ihrer Werkzeugfunktion betont. Eine pessimistische Kultur- und Technikkritik wird als ziellos zurückgewiesen. Stattdessen müsse man Technik in ihrer "Objekt-Funktion" und den Menschen als "zentrale Steuerfigur" verstehen. Somit zieht sich die Prämisse durch das Buch, dass KI und Kultur kein "unvereinbares Gegensatzpaar" (S. 10) darstellen, sondern zahlreiche Chancen bieten.  
 
Gliederung und Inhalt des Buches 
 
Das Buch gliedert sich in drei Teile: "Voraussetzungen - Forschung - Potentiale". Der erste Teil "Theorie: Voraussetzungen" (bestehend aus fünf Kapiteln) erklärt, was unter Künstlicher Intelligenz zu verstehen sei, und führt aus, dass Kultur sich "nur dann weiterentwickeln [könne], wenn auch hier konsequent die Chancen des Einsatzes und der Anwendung von KI ergriffen werden" (S. 34). Dem folgend kritisiert etwa Henning Mohr im vierten Kapitel zu Künstlicher Intelligenz als Herausforderung für die Kultur(politik) die konservative Haltung vieler Kulturmacher*innen in Bezug auf die "digitale Transformation" als zukunftsunfähig. Das Festhalten an einem "althergebrachten" (S. 41) bzw. "tradierten künstlerischen Kanon" (S. 36) bremse den technischen Fortschritt. Der Autor hält den Einzug von KI in den Kulturbereich für etwas, das nur gemeistert, aber nicht umgangen werden könne. Wenn auf die Klagen heutiger Künstler*innen verwiesen wird, die damit Mühe hätten, die Irreversibilität der technologischen Entwicklung zu akzeptieren, mag man an Maler wie William Turner denken, die in der aufkommenden Fototechnologie des 19. Jahrhunderts das Ende der Malerei befürchteten. Ähnliche Klagen gab es bei der breitenwirksamen Einführung jedes neuen Mediums und in Bezug auf die Digitalisierung auch schon vor Künstlicher Intelligenz.
 
Im zweiten Teil "Forschung: Anwendung" (bestehend aus vier Kapiteln) werden die Versuche vorgestellt, KI gewinnbringend im Kulturbetrieb einzusetzen. Zum Beispiel wurden von 943 Museumsbesucher*innendaten des Europäischen Hansemuseums Lübeck und des Freilichtmuseums Molfsee erhoben, um Zielgruppen zu definieren. Denn neben soziodemografischen Merkmalen sei es wichtig, die Bedürfnisse und Motivationen von Besucher*innen zu erfassen, so Autor Christian Möller. Mit KI habe man so herausfinden können, dass manche Besucher*innen von Spaß und Erlebnislust, andere aus Interesse an Tradition und lokaler Kultur motiviert seien. Außerdem versprechen sich die Autor*innen, Angebote zu personalisieren, indem Daten zu Besucher*innen- und Nutzer*innenverhalten ausgewertet und darauf aufbauend individuellere Angebote geschaffen werden. Sie hoffen zudem auf geringere Ausgaben sowie treffsicherere Werbung und die Steigerung von Besuchszahlen, weil Zielgruppen kosteneffizienter identifiziert werden können. "Die Kulturinstitution profitiert von sinkenden Ausgaben durch gezieltere Kommunikation, Werbung auf den richtigen Kanälen und steigenden Besucherzahlen", heißt es auf Seite 135. 
 
Ein anderes Projekt prüfte, inwiefern sich Metadaten für historische Bildbestände von Künstlicher Intelligenz generieren lassen. Hierfür stellt Autor Dennis Przytarski fest, dass Lokalisierung mit KI funktioniert, solange eine "gut ausgestattete Datenbank mit Landmarken und Ortsdaten vorhanden" (S. 131) ist. Insgesamt sei KI sowohl bei internen Prozessen als auch bei der Analyse von Kund*innenverhalten hilfreich. 
 
Der dritte Teil "Ergebnisse: Potentiale" (bestehend aus fünf Kapiteln) kommt zu dem Schluss, dass wir keine Wahl hätten, ob wir mit der digitalen Entwicklung mitgehen oder nicht. Das Wie sei entscheidend. Kulturpessimistische Deutungen werden als nicht-konstruktiv problematisiert. Stattdessen gehen die Autor*innen von Kulturschaffenden als autonomen Individuen aus, an denen es läge, wie KI zum Einsatz komme. "Künstliche Intelligenz ‚passiert‘ nicht, sondern wird von Menschen für Menschen entwickelt" (S. 184), so Tabea Golgath. Außerdem wird mehrmals erwähnt, wie geeignet Künstliche Intelligenz für das Marketing sei. Ähnlich wie in Kapitel 7 liest man in Kapitel 11 von dem Potential, aus großen Datenmengen Muster zu bilden, um feingliederige Personenmodelle zu formulieren. Dadurch bekämen Kultureinrichtungen einen guten Überblick darüber, welche Angebote für Besucher*innen attraktiv sein dürften. 
 
Beim Lesen des Werkes fällt auf, dass viel von Marketing gesprochen wird. Geht man von den Texten aus, dann dürfte der Grund dafür darin bestehen, dass Marketing einerseits einen Bereich darstellt, in den KI relativ einfach integriert werden kann, andererseits aber im Kulturbetrieb noch ausbaufähig ist und KI dort effektiv eingesetzt werden könnte.  
 
Reflexion stellenweise ausbaufähig. Eine Kritik
 
Unklar bleibt, weshalb Kapitel 12 und 13 einen KI-Schreib-Workshop und das Förderprogramm LINK - KI und Kultur vorstellen. Schließlich handelt es sich in beiden Fällen um Berichte von Projekten, die man eher in Teil 2 "Forschung: Anwendung" einordnen würde. Zugleich würde man unter dem Titel "Ergebnisse: Potentiale" eine Synthese und Reflexion des Anwendungsteils erwarten. Das Fazit (Kapitel 14) nennt zwar einige typische Herausforderungen von KI, zum Beispiel Diskriminierung und Arbeitsplatzverluste. Es wäre jedoch gelungener ausgefallen, wenn die Anmerkungen nicht generisch formuliert, sondern aus den Beiträgen der Anthologie abgeleitet worden wären. Beispielsweise heißt es im Fazit, dass KI menschliche Emotionen verstehen und nachahmen können sollte. Jedoch wird dieses Thema in den Beiträgen nicht erwähnt. Woher also die Behauptung kommt, bleibt also unklar. 
 
Die Reflexionsleistung ist aber nicht nur im Fazit verbesserbar. In Kapitel 9 lesen wir beispielsweise, dass Kreativität eine Eigenschaft sei, die nur Menschen hätten, und dass Künstler*innen von KI nicht ersetzt werden könnten. "KI ist also nicht aus sich heraus kreativ" (S. 138), so Annika Hartmann. Das mag korrekt sein, ist für viele Anwender*innen jedoch dahingehend irrelevant, als Künstliche Intelligenz ihnen vergleichsweise einfach den gewünschten künstlerischen Output liefert - und zwar günstiger als in der Zusammenarbeit mit Künstler*innen. Hierin liegt ein zentraler Sorgenpunkt in Hinblick auf den Einsatz Künstlicher Intelligenz im Kulturbereich: Während KI für Kulturorganisationen und deren manageriale Aufgaben viele Vorteile und Vereinfachungen bieten mag, stellt sie insbesondere für freischaffende Künstler*innen und Kreative eine Gefährdung ihres Lebensunterhalts dar - ein Problem, für das aktuell weder rechtlich noch ökonomisch eine Lösung gibt. Dieses Problem eines Einkommensverlustes behandelt der Band nur bedingt, sondern fokussiert eher auf die Frage, wie Künstler*innen KI-generierte Inhalte für ihre künstlerische Arbeit nutzen können. 
 
Dennoch besteht die Stärke der Anthologie darin, konkrete Forschungsprojekte zum Thema KI-Anwendung in Kulturorganisationen zu präsentieren. Diese wirken aufgrund des noch jungen Themas mitunter etwas unausgereift. Sie sind aber aufgrund ihrer Praxisnähe dennoch wertvoll und verdeutlichen, dass Künstliche Intelligenz keine Black-Box ist, die allein mit wissenschaftlichen Analysen durchdrungen werden kann. Zu manchen Erkenntnissen gelangen wir erst über Trial and Error. Gerade deshalb können kulturelle Institutionen - und das sagen einige Beiträge auch - zu "Laboren des Sozialen" werden. Sie können eine Bühne dafür bieten, das Verhältnis von KI und Gesellschaft gewinnbringend auszuhandeln. Denn Künstliche Intelligenz ist nicht nur eine technische, sondern vor allem eine sozio-kulturelle Angelegenheit. Wie eine solche kulturelle Einordnung aussehen kann, zeigte 2023 das Museum für Kommunikation Nürnberg in seiner Ausstellung "New Realities - Wie Künstliche Intelligenz uns abbildet".
 
Als letzte Anmerkung möchte ich auf eine Ambivalenz hinweisen. Der Sammelband könnte einseitig anmuten, wenn man davon liest, dass der Mensch die "zentrale Steuerfigur" sei, die das Werkzeug KI in der Hand halte. Dieses Motiv gerät schnell an seine Grenzen, wenn man an die Abhängigkeit von den entwickelnden Unternehmen denkt, die oftmals bedeutet, dass die Nutzenden aus der Weiterentwicklung weitgehend ausgeschlossen sind. Inhaltlich mag die nachdrückliche Aufteilung in Mensch als Subjekt und Maschine als Objekt verkürzt wirken. Als Apell jedoch ist sie aktuell. Wenn Kulturbetriebe den technischen Fortschritt unberücksichtigt lassen, besteht durchaus die Gefahr, von anderen abgehängt zu werden. Dahingehend bietet der Band vielfältige Inspirationen für die Anwendung Künstlicher Intelligenz in zahlreichen Bereichen der Kulturarbeit.

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