09.06.2021

Buchdetails

Kulturelle Teilhabe durch Musik?: Transkulturelle Kinder- und Jugendbildung im Spannungsfeld von Empowerment und Othering
von Nina Stoffers
Verlag: Transcript Verlag
Seiten: 356
 

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Autor*in

Roxana Wetter
1999 in Mühlacker geboren, studiert seit 2018 "Kultur- und Medienbildung" an der Pädagogischen Hochschule Ludwigsburg. Durch einige ehrenamtliche Tätigkeiten hat sie selbst schon viele Erfahrungen in der Kinder- und Jugendarbeit mit Musik gemacht und nach Diskussionsanstößen im Studium sich in diesem Zusammenhang mit dem Thema Teilhabegerechtigkeit beschäftigt.
Buchrezension

Kulturelle Teilhabe durch Musik?

Kann über Musik zur kulturellen oder sogar gesellschaftlichen Teilhabe verholfen werden? Und inwiefern kann kulturelle Bildung auch zu Othering und Exklusionsprozessen beitragen? Dieses Spannungsfeld, das in den Diskussionen um die Ziele kultureller Bildung schon lange Thema ist, beleuchtet Nina Stoffers in "Kulturelle Teilhabe durch Musik?" kritisch und praxisorientiert.
 
In Ihrer Publikation, die 2020 bei transcript erschien, analysiert und diskutiert Nina Stoffers anhand der empirischen Untersuchung und Beobachtung von drei Musikprojekten, wie kulturelle Teilhabe durch Musik praktisch angestrebt wird. Zu diesen zählen:
 
  • das Kinder- und Jugendkonzert "Heimat re-invented",
  • die Musikschule "Zukunftsmusik",
  • der Philharmonische Verein der Sinti und Roma.

Diese sind allesamt der transkulturellen Kinder- und Jugendarbeit zuzuordnen, da in jedem Fall die Teilhabe von Roma-Kindern und -Jugendlichen im Fokus steht. Dem Untertitel "Transkulturelle Kinder- und Jugendarbeit im Spannungsfeld von Empowerment und Othering" entsprechend, steht die Gegenüberstellung von Ein- und Ausschlussmechanismen im Vordergrund. Dabei untersucht Stoffers auch, inwiefern die kulturelle Teilhabe erfolgreich ist und ob kulturelle Bildung nicht sogar mitverantwortlich für strukturelle Ausschlüsse sein kann.

Vor dem Hauptteil, in dem die Projekte ausführlich erklärt werden, erläutert die Autorin alle für das Verständnis des Diskurses wichtigen Begriffe. Darunter vor allem den Begriff "Empowerment", der durch eine reflexive Definition die Selbst-Bemächtigung der von Machtlosigkeit und Ohnmacht Betroffenen selbst umfasst. "Othering" beschreibt den Prozess, der das Bild des "Anderen" durch Zuschreibungen und Fremdbilder konstruiert und sichtbar macht. Auch der Begriff "Teilhabe" wird tiefer gehend beleuchtet, wobei vor allem betont wird, dass es sich um aktive Teilhabe handelt, die sich von der bloßen Teilnahme abgrenzt. Sie bezieht sich immer auf die gesamtgesellschaftliche Teilhabe und unterliegt demnach einem weiten Kulturbegriff. Des weiteren erklärt die Autorin den Begriff "Transkulturalität", der über der ganzen Arbeit steht. In der Theorie sagt Transkulturalität aus, dass durch das Kennenlernen des jeweils "Fremden" und des folgenden Vermischens etwas Neues entsteht.

Nach der theoretischen Einführung folgt die Erläuterung und Begründung des methodischen Vorgehens. Dieses setzt sich aus der teilnehmenden Beobachtung, dem Besuch von Aufführungen, offenen Leitfadeninterviews und dem Analysieren von Präsentationserzeugnissen wie beispielsweise Flyern zusammen.

Zu den Projekten

Mit ihrer Publikation widmet sich die Autorin einem nach wie vor aktuellen Thema: Denn kulturelle Bildung wird oft gefordert, wo es benachteiligte Gruppen gibt. Nicht zuletzt wird ihr dabei die Hoffnung zugeschrieben, durch Kooperationsprojekte Teilhabegerechtigkeit zu schaffen. Bekannt sind vor allem "JeKi" (Jedem Kind ein Instrument) oder das vermehrte Aufkommen von Bläserklassen. Auch zwei der untersuchten Projekte fanden in Kooperation eines non-formalen, also außerschulischen und schulischen, Partners statt.

So war das Kinder- und Jugendkonzert "Heimat re-invented" in Köln von Nicht-Roma für Roma und Nicht-Roma ausgerichtet, da der Großteil der Dozent*innen nicht der Gruppe der Roma angehören. Dabei hatte das Projekt sowohl als in Form der Aufführung des Konzerts als auch im Probenprozess das Ziel, von Ausgrenzung betroffene Kinder und Jugendliche zurück in die Mitte der Gesellschaft zu holen.

Die Musikschule "Zukunftsmusik" in Berlin war von Roma für Roma gedacht, um den Roma-Kindern und -Jugendlichen ein Pendant zu gesellschaftlich etablierten Musikschulen in Deutschland zu bieten und dabei zusätzlich auf ihre Bedürfnisse einzugehen.

"Der Philharmonische Verein der Sinti und Roma" in Frankfurt am Main ist von Roma für Roma und Nicht-Roma ausgerichtet. Dabei steht vor allem das Bewahren des musikalischen Erbes der Sinti und Roma im Vordergrund, wobei die Musik so nicht Mittel zum Zweck wird, aber durch die Anpassung an die Strukturen anderer Philharmonien auch Nicht-Roma-Publikum erreicht werden soll.
Insgesamt betrachtet Stoffers in ihren Untersuchungen:
 
  • inwiefern kulturelle Bildung es leisten kann, gesamtgesellschaftliche Probleme zu lösen und
  • inwiefern dieser sozialpädagogische Aspekt der Integration oder Inklusion benachteiligter Gruppen in die Mehrheitsgesellschaft durch musikalische Projekte Vorwand ist, um Gelder für die Umsetzung der Projekte zu erlangen.
Dafür hat sie die Projekte dahingehend geprüft, ob die Musik jeweils Mittel zum Zweck (Inklusion) ist, was bei der Musikschule "Zukunftsmusik" der Fall war. Oder ob Musik Selbstzweck ist, also wie beim Philharmonischen Orchester im Vordergrund steht. Dem Untertitel entsprechend, werden die Projekte im abschließenden und zusammenführenden fünften Kapitel ("Im Spannungsfeld und Empowerment und Othering") in direkter Gegenüberstellung verglichen und jeweils darauf geprüft, ob sie inkludierend oder exkludierend wirken. Aus diesen Vergleichen führt die Autorin im Fazit dann den Begriff "Inkludierende Exklusion" ein, der ihre Arbeit zusammenfassend ausdrückt.

Kritik

Der Aufbau des Buches ist sehr verständlich. Denn durch das detaillierte Beschreiben der Projekte fällt es leicht, der direkten Gegenüberstellung im fünften Kapitel zu folgen. Das zu Beginn gestellte und durch Begrifflichkeiten untermauerte Erkenntnisinteresse kann nach der empirischen Forschung nicht grundsätzlich beantwortet werden. Vielmehr erklärt sich das Spannungsfeld zwischen Othering und Empowerment, das die Autorin "Schlüsselkategorie" nennt. Liest man das Buch aus pädagogischer Sicht, wird durch die wissenschaftliche Reflexion klar, welche Fehler bei der Arbeit gemacht beziehungsweise vermieden werden können. So kann der fehlende Einbezug der Teilnehmer*innen dazu führen, dass ihnen die Möglichkeit zur Selbstermächtigung genommen wird und ihre Lebenswelt, ihren Erfahrungen und Problemen nicht abgebildet werden. Auch eine regelmäßige Absprache und Reflexion zwischen verschiedenen Untergruppen während des Gestaltungsprozesses ist im Blick auf die Aussage einer Darstellung wichtig, da es möglich ist, dass Stereotype oder Zuschreibungen durch die Kombination verschiedener Komponenten entstehen. Ebenso sollte man Zeit und Ort nicht unbeachtet lassen, da von ihnen maßgeblich abhängt, welche Zielgruppe erreicht wird.

Wie schon durch den Titel vermuten lässt, verwendet die Autorin Transkulturalität als Analyseinstrument. Da Transkulturalität theoretisch aussagt, dass durch das Kennenlernen des jeweils "Fremden" und des daraus folgenden Vermischens etwas Neues entsteht, stehen auch die Gemeinsamkeiten zweier Kulturen im Fokus. Dadurch werden Konflikte sichtbar, wenn beispielsweise im Endprodukt eine ethnische Kultur deutlich im Vordergrund steht. Hier knüpft dann die Frage an, welche Wirkung dies erzielt: eine einschließende oder ausschließende? Da jedoch nicht alles am Produkt sichtbar ist, steht auch der Prozess im Vordergrund der Beobachtung. Vor allem im Projekt "Heimat re-invented" wird so sichtbar, dass die unterschiedlichen Arbeitsweisen der Dozent*innen im Gesamtergebnis ein Bild erschaffen, das Distinktionsmerkmale hervorhebt. Die Methodik der teilnehmenden Beobachtung ist demnach sehr gut gewählt. Eine Beobachtung, die auch bei den Prozessen der anderen beiden Projekte wünschenswert gewesen wäre. Obwohl dies durch die Wahl der Vergleichskategorien ausgeglichen wird, bringt es beim Lesen eine gewisse Unausgeglichenheit mit sich.

Begründet wird der Beitrag aufgrund der Doppeldeutigkeit von kultureller Bildung: Zum einen soll sie dazu beitragen, Ausgrenzung zu erkennen, aber auf der anderen Seite kann kulturelle Bildung auch selbst zu sozialer Ausgrenzung führen. Somit ist auch aus kultursoziologischer Sicht der Verweis auf die Ergebnisse Bourdieus (Praxis und Rezeption von Kultur sind Distinktionsmerkmal) gelungen. Etwas weniger zu Wort kamen daneben neuere Erkenntnisse wie die "Allesfresser-Hypothese". Diese bringt die kulturelle Distinktion unterschiedlicher gesellschaftlicher Milieus nicht mehr mit der Art der genutzten Kultur in Verbindung, wie etwa Hoch- und Popkultur, sondern mit der Vielfalt der rezipierten Musik. Im Zusammenhang mit den Ergebnissen aus den offenen Leitfadeninterviews, dass einige der teilnehmenden Kinder und Jugendlichen eine Vielzahl unterschiedlicher Musikgenres in ihrer Freizeit rezipieren, wäre das ebenfalls ein interessanter Aspekt gewesen.

Nach der Auswertung der Interviews ist außerdem zu bemerken, dass die Autorin immer wieder darauf hinweist, im Projekt "Heimat re-invented" sei die Perspektive der Teilnehmer*innen zu wenig in den Entstehungsprozess miteinbezogen worden. Dies wiederum lobt sie bei der Musikschule "Zukunftsmusik". Sehr nahe dazu steht der "capability approach", der von Sen und Nussbaum in den Diskurs eingebracht wurde. Sein Fokus liegt auf der Befähigung zu einer gelungenen Lebensgestaltung, weshalb das Individuum selbst im Vordergrund steht. In diesem Zusammenhang steht auch die Betonung darauf, dass es durch die Bereitstellung von Ressourcen keine Chancengleichheit geben kann, da mit dieser viele andere Einflüsse in Verbindung stehen. Vielmehr werden dadurch dieselben Voraussetzungen zum Erlangen von bestimmten Fähigkeiten geschaffen. Somit sind auch aktuellere wissenschaftliche Ansichten in die Beobachtungen miteingeflossen.

Sehr gelungen und wichtig ist auch immer wieder die Unterscheidung von Selbst- und Fremdbildern, die sich vor allem beim "Philharmonischen Verein der Sinti und Roma" unterscheiden. Die Gegenüberstellung von der eigenen Öffentlichkeitsarbeit und den Rückmeldungen von außen ist durch die Analyse von Präsentationsergebnissen möglich gewesen. Diese breit aufgestellte Methodik hat somit viele Aspekte abgedeckt und zum guten Verständnis beigetragen.

Empfehlung

Da das Buch Kritik an Projekten übt, die zum Teil auch als modellhaft bezeichnet werden, weist es auf gelungene Prozesse und mögliche Schwierigkeiten zugleich hin, die in der kulturellen Bildungsarbeit im Blick auf Teilhabe entstehen können. Vor allem durch die Analyse verschiedener Teilaspekte der Projektumsetzung auf inkludierende oder exkludierende Prozesse wird das deutlich.

Daher kann die Publikation relevant für Kulturpädagog*innen jeglicher Sparte sein, die in die Planung und Vorbereitung transkultureller Projekte involviert sind. Ebenso ist es für Projektleiter*innen spannend, da auch ein großer Fokus auf der Kommunikation zwischen den Dozierenden gelegt wird. Das Buch kann dabei vor allem die reflektierende Sicht auf die eigene Arbeit unterstützen.

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