18.03.2024

Themenreihe Besucherforschung

Autor*in

Vera Allmanritter
ist Politikwissenschaftlerin und Kulturmanagerin. Sie leitet das Institut für Kulturelle Teilhabeforschung (IKTf) Berlin und ist Honorarprofessorin für Kultur und Management an der Fachhochschule Potsdam. Zuvor war sie freiberuflich und als Mitarbeiterin an verschiedenen Hochschulen, Stiftungen und Kultureinrichtungen tätig. Sie ist Co-Sprecherin der Arbeitsgruppe "Methoden der empirischen (Kulturbesucher*innen-)Forschung". 
Das Kulturpublikum der Zukunft

Wie hat Corona das Kulturpublikum verändert?

Lange standen Merkmale wie Alter, Geschlecht oder Bildungshintergrund im Zentrum von Publikumsstudien. Inzwischen weiß die Forschung aber auch einiges über die Interessen, Einstellungen, Vorlieben und den Geschmack verschiedener Menschen in Bezug auf Kultur und kann anhand dessen genauere Aussagen zu den Auswirkungen der Pandemie auf Kulturbesuche treffen.

Themenreihe Besucherforschung

Dies ist der leicht angepasste erste Teil der Antrittsvorlesung von Vera Allmanritter, Leiterin des Instituts für Kulturelle Teilhabeforschung (IKTf), als Honorarprofessorin für Kultur und Management an der Fachhochschule Potsdam, gehalten am 24. Januar 2024. Das vollständige Video der Antrittsvorlesung ist hier zu finden: https://vimeo.com/907387644
 
Wer könnte das Kulturpublikum der Zukunft sein? Und was müssen Kultureinrichtungen tun, um zukünftig Publikum zu haben? Das sind Kernfragen, denen ich im Folgenden anhand von Daten zur Publikumsstruktur nachgehe. Die Daten stammen aus zwei IKTf-Studienreihen: eine zweijährig stattfindende repräsentative Bevölkerungsbefragung in Berlin (bislang 2019, 2012, 2023) zu Kulturbesuchen mit ungefähr 3.500 Befragten und Ergebnisse des Besucher*innen-Forschungssystems KulturMonitoring (KulMon®), das seit 2008/2009 mehr als 400.000 Menschen in Kultureinrichtungen befragt hat, vor allem in Berlin, aber teilweise auch in ganz Deutschland. 
 
Publikumsdemografie vor der Pandemie
 
Aus diesen Daten kann man ablesen, wie die Publikumslage bei Kultureinrichtungen vor der Pandemie war. Das ist wichtig, um zu verstehen, wie die Lage in der Gegenwart im Vergleich hierzu aussieht. Demnach haben laut Bevölkerungsbefragung 2019 in den letzten fünf Jahren vor der Pandemie 70 % der Berliner*innen mindestens einmal eine Ausstellung, ein klassisches Konzert, eine Oper, ein Sprechtheater, Ballett oder Tanz besucht. Das klingt erst mal gut. Tatsächlich sind Kulturbesuche aber in den letzten Jahren zunehmend zu einem Freizeitangebot unter vielen geworden. Wenn man über das Freizeitbudget von Personen spricht, steht der Kulturbesuch in Konkurrenz zu Yoga, Freunde treffen oder Zeit auf der Couch verbringen. Trotzdem stimmten damals 90 % der Berliner*innen zu, dass öffentliche Kulturangebote erhalten werden sollen, auch wenn deutlich weniger Menschen diese Einrichtungen tatsächlich besuchen. Und mit 80 % ist ein hoher Prozentsatz auch dann dafür, Kultur mit öffentlichen Mitteln zu finanzieren, wenn sie selbst nicht oder nur selten hingehen. Diese Werte gelten nicht nur für Berlin, wie Studien für andere Teile Deutschlands, für Großbritannien und andere europäische Länder zeigen. 
 
Nun kommt das große Aber: Trotz dieser Zustimmung sagten in der 2019er-Befragung bereits 30 % der Berliner*innen, dass öffentliche Kulturangebote "nicht für Menschen wie sie" gedacht sind. Und 20 % fühlten sich dort sogar fehl am Platz. Das kann man demografisch noch weiter aufschlüsseln: So steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Menschen die Häuser besuchen, mit dem formalen Bildungsgrad enorm. Zudem sind tendenziell eher Personen an Kultur interessiert, die von sich sagen, sie seien Frauen, als Männer. Und ein Blick auf das Stammpublikum zeigt: Dieses ist im Schnitt älter als die Bevölkerung vor Ort.
 
Das könnte zukünftig zum Problem werden, denn jüngere Menschen kommen nicht in gleichem Maße nach, wie ältere Menschen aufhören, Publikum zu sein. Einige Kultureinrichtungen hoffen darauf, dass jüngere Menschen Interesse an Kultur entwickeln, wenn sie älter werden. Das passiert aber laut Forschung nicht. Damit stehen die Einrichtungen vor der Herausforderung, dass sie langfristig nicht mehr genug Publikum haben werden. Zudem ist das Publikum wenig divers. Am Beispiel der Herkunfts- und kulturellen Diversität zeigt sich, dass das Publikum in den klassischen, geförderten Einrichtungen in starkem Maße aus Menschen ohne Migrationsintergrund besteht. Es ist somit herkunftskulturell nicht so divers zusammengesetzt ist wie die deutsche Gesellschaft insgesamt. 
 
Was ist während der Pandemie passiert? 
 
Die erste große Veränderung während der Pandemie war die Schließung der Kultureinrichtungen, es konnten zeitweise gar keine Besuche stattfinden. Danach sind laut Bevölkerungsbefragung 2021 viele Menschen aus Sorge vor Krankheitsansteckung nicht mehr in die Häuser gegangen. Oder der Kulturbesuch war für sie nicht mehr so angenehm, weil man sich nicht frei bewegen konnte, eine Maske tragen musste, nur eingeschränkte Besuchszeiten nutzen konnte usw. Als zusätzliche Barrieren kam hinzu, dass die Kultureinrichtungen gezwungen waren, Online-(Zeitfenster-)Tickets einzuführen. Das bedeutet für manche Menschen, dass Tickets für sie weniger zugänglich sind oder sie das nicht nutzen möchten. Spontanes Besuchsverhalten hat gerade die Bühnen vor Herausforderungen gestellt, weil man kurz vor der Aufführung nicht wusste, ob jemand kommt. Häufig blieben die Besucher*innen auch zuhause, weil sie damit gerechnet haben, dass noch abgesagt wird, dass sie selbst oder ihre Begleitpersonen krank werden usw. 
 
Dennoch ist die Unterstützung für die Kultur 2021 hoch geblieben. Auch mitten in der Pandemie haben 90 Prozent der Berliner*innen zugestimmt, dass Kultur weiterhin mit öffentlichen Mitteln unterstützt werden soll, damit nichts schließen muss. Und fast genauso viele haben die Angebote wirklich vermisst. Zudem gab es kaum Veränderungen in der Zusammensetzung des Kulturpublikums, trotz der anfänglichen Einbrüche der Besuche von älteren Menschen aus Sorge vor Ansteckungsgefahr. Das hat sich aber schnell wieder ausgeglichen und damit ist soziodemografisch die Zusammensetzung des Publikums über die Pandemie hinweg laut der Bevölkerungsbefragung erstaunlich stabil geblieben.
 
Auch die Ergebnisse der KulturMonitoring-Befragungen aus Berlin zeigen anhand der Faktoren Altersgruppen, Bildungsstand, Migrationshintergrund und Geschlecht für den Zeitraum 2014-2023 hinsichtlich des Publikums in Theaterhäusern, Sprechtheater, Oper, Tanz und Ballett eigentlich keine Veränderung. Vergleicht man die Zahlen mit der Berliner Gesamtbevölkerung, wird deutlich, dass ältere Menschen, Frauen und Akademiker*innen im Publikum überrepräsentiert, Menschen mit Migrationshintergrund hingegen deutlich unterrepräsentiert sind. Dies war vor der Pandemie so und ist nach der Pandemie gleich geblieben. Die Probleme in der Publikumszusammensetzung bleiben also bestehen. Diese geringe Veränderung im Zeitverlauf ist erstaunlich, denn kulturpolitisch oder aus Eigeninteresse der Einrichtungen heraus müssten in den letzten Jahren eigentlich Bemühungen stattgefunden haben, mehr oder andere Menschen zu erreichen. 
 
Was hat sich seit der Pandemie verändert? 
 
Gleichzeitig haben sich laut der Bevölkerungsbefragung seit der Pandemie anscheinend einige Barrieren für Kulturbesuche nachhaltig, also langfristig verfestigt, beispielsweise die Sorge vor Krankheitsansteckung oder die Herausforderungen mit der Nutzung von Online-Tickets, die manche Menschen weiterhin als schwer zugänglich empfinden. Gerade Befragte über 50 und noch stärker Menschen über 70 Jahren nennen diese Gründe besonders häufig. Da sie bei vielen Kultureinrichtungen einen großen Teil des Publikums ausmachen, kann das für deren Besuchs- und Auslastungszahlen zum Problem werden. 
 
 
Lebensstile und Kulturinteresse
 
Demografie allein ist aber nur bedingt aussagekräftig, weshalb wir im IKTf noch einen weiteren Ansatz nutzen: die Lebensstile der (Nicht-)Besucher*innen von Kulturangeboten, auch als soziale Milieus bezeichnet. Dieser Ansatz aus der Soziologie hilft, soziales Verhalten zu erklären - und ein Kulturbesuch ist nichts anderes als soziales Verhalten. Dabei geht es um die Einstellungen und Werte, um das Freizeit- und Konsumverhalten, um Interessen, Vorlieben und Geschmack. Der Lebensstil beschreibt, wie jemand "tickt". Dazu kann auch das Kulturbesuchsverhalten gehören. Etwas über den Lebensstil von Menschen zu wissen, ist auch deshalb wichtig, weil man nur anhand des Alters, Geschlechts oder Einkommens von Personen nicht gut prognostizieren kann, ob sie Kultureinrichtungen besuchen. Geld allein bedeutet beispielsweise nicht, dass man in die Oper geht, auch wenn man das Ticket ohne Weiteres bezahlen kann. Solche Voraussagen sind auf Basis der Lebensstile besser möglich. 
 
Die Lebensstile werden in den IKTf-Studien mit einem Erhebungsinstrument erfasst, das sich gut sowohl in Bevölkerungsbefragungen als auch in Besucher*innenbefragungen wie KulturMonitoring verwenden lässt. In die Fragebögen werden dafür zwölf Sätze eingebaut, denen Befragte zustimmen oder die sie ablehnen können. Es handelt sich dabei um Sätze wie "Mein Leben gefällt mir dann besonders gut, wenn ständig etwas los ist”. Je nach Antwortkombination wird den Befragten einer der neun Lebensstile zugeordnet. Sozidemografische Faktoren wie Alter, Bildung oder Einkommen, werden dabei nicht berücksichtigt. Die Methode die Lebensstile zu erheben ist online verfügbar. Kultureinrichtungen können sie also selbst verwenden, allerdings erfordert die methodisch saubere Abfrage und Auswertung wenigstens mittlere empirische Expertise. 
 
Die Lebensstile ordnet man an zwei Achsen an, am Ausstattungsniveau, also dem sozialen Status bzw. der sozialen Position in der Gesellschaft, und dem Modernitätsgrad, also der charakterlichen Offenheit, wie modern oder traditionell eine Person ist. Im Vergleich der Zahlen für Berlin und Deutschland sieht man ein paar zentrale Abweichungen hinsichtlich der Verteilung der Lebensstile auf die Gesamtbevölkerung. 
 
 
Deutlich wird der Unterschied zwischen der Aussagekraft der Lebensstile am Beispiel soziodemografischer Zwillinge: King Charles und der Rockmusiker Ozzy Osbourne sind sich soziodemografisch sehr ähnlich. Beide leben in UK, sie sind ungefähr gleich alt, männlich, haben Kinder, sind geschieden, interessieren sich für Musik. Wenn man nur das wüsste, könnte man denken: "Gleiche Zielgruppe für ein Kulturangebot. Wenn ich die auf eine bestimmte Art anspreche, kommen beide." Aber das funktioniert nicht, denn die beiden haben einen völlig unterschiedlichen Lebensstil und sind damit nicht die gleiche Zielgruppe für eine Kultureinrichtung, weil sie verschiedene Dinge interessant finden. Zudem zeigt dieses Beispiel, dass der Lebensstil nicht vom Alter abhängen muss. 
 
Vergleicht man beispielsweise die beiden Lebensstile "Innovativ Gehobene" und "Unterhaltungssuchende", zeigt sich, wie gut sich Unterschiede im Geschmack hier festmachen lassen im Vergleich zu soziodemografischen Daten und dass eine Kultureinrichtung sehr unterschiedliche Anknüpfungspunkte für diese beiden Lebensstile braucht. 
 
 
Aus den Daten zu Lebensstilen können lässt sich also gut ableiten, wer typischerweise die Hauptbesucher*innen von Kulturangeboten sind, wer die Gelegenheitsbesucher*innen und die Selten- bis Nie-Besucher*innen. 
 
 
Wie haben sich das Besuchsverhalten und die Publikumszusammensetzung nach der Pandemie entwickelt und wie können Kultureinrichtungen die Erkenntnisse aus der Publikums- und insbesondere aus der Lebensstilforschung nutzen, um Kultur für ein diverseres Publikum zugänglich und relevant zu machen? Das thematisiert der zweite Teil der Antrittsvorlesung von Vera Allmanritter und dieses Beitrags. 

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