08.09.2021

Themenreihe Führung

Autor*in

Annette Jagla
Annette Jagla arbeitet als Beraterin, Trainerin und Dozentin für Team- und Organisationsentwicklung. Sie unterstützt Kultur- und Bildungseinrichtungen bei der Gestaltung und Umsetzung von Veränderungsprozessen. Am Institut für Kultur- und Medienmanagement in Hamburg gibt sie ihre Erfahrung aus über 10 Jahren Führungstätigkeit in Kulturbetrieben weiter.
Neue Recruiting-Modelle für Führungskräfte

Chef*in per Los?!

Führungskräfte auslosen? Ein nützliches Gedankenspiel, ein aufschlussreiches Experiment oder bloße Provokation? Beobachtet man die derzeitigen Skandale um Leiter*innen im Kulturbereich und ihre teils mangelnden Führungsfähigkeiten, scheint die Frage nach der Qualität der aktuellen Auswahlverfahren mehr als berechtigt.

Themenreihe Führung

Erhebt man den Anspruch von Cultural Leadership - nach innen als zukunftsorientierte Führung der Organisation und nach außen mit einem relevanten Beitrag für die Transformation der Gesellschaft - an die Inhaber*innen von Leitungspositionen in Kultureinrichtungen, müssen die bisher genutzten Auswahlverfahren auf ihre Leistungsfähigkeit hin überprüft werden. Denn vor dem Hintergrund der erheblichen öffentlicher Förderung von Kultureinrichtungen in Deutschland bei gleichzeitig immer neuen Skandalen und stagnierender Besucher*innendiversität ist die These wohl nicht zu steil, dass die derzeitigen Kriterien den Ansprüchen an Führungskräfte nicht mehr gerecht werden.
 
Welche Auswahlverfahren ermöglichen also eine höherwertige Auswahl? Könnte der Einsatz von (partiellen) Losverfahren bessere Ergebnisse liefern? Schließlich sind sie nichts Neues: In der griechischen Antike wurde mit Losverfahren die Besetzung fast aller Ämter entschieden und führte zu einem Wechsel von Herrschen und beherrscht Werden. Und bei der Wahl des Dogen von Venedig verhinderte eine Abfolge von Verhältniswahl, Mehrheitswahl und Losverfahren lange Zeit Wahlmanipulation.
 
Das Verhältnis von Selbstüberschätzung und Machtmissbrauch
 
Beim Einsatz von Losverfahren für heutige Führungspositionen sind wir nicht auf ein reines Gedankenspiel angewiesen. Eine Studie der ETH Zürich gibt uns Einblicke in die Konsequenzen eines partiellen Losverfahrens bei der Auswahl von Manager*innen. Auslöser für die Studie war eine Beobachtung in der Wirtschaft, die man im Kulturbereich ebenfalls machen kann: Manager*innen neigen dazu, ihre Fähigkeiten zu überschätzen, sowie zu Überheblichkeit und Machtmissbrauch.
 
Die Studie des Decision Science Laboratory untersuchte in einem Modellsystem mit über 850 Studierenden den Zusammenhang zwischen der Kenntnis des Auswahlverfahrens, dem Persönlichkeitsprofil und Führungsentscheidungen (Berger, Osterloh, Rost 2019). Ziel war es, zu prüfen, ob sich das Verhalten von Führenden ändert, wenn sie wissen, dass sie durch Zufall in ihre Position gekommen sind.
 
Im ersten Schritt beantworteten die Proband*innen Wissensfragen, anschließend wurde ihre Einschätzung nach dem eigenen Erfolg dabei abgefragt. Danach wurden die Proband*innen in Gruppen aufgeteilt und jeweils eine Führungsperson bestimmt - entweder die Person mit dem besten Ergebnis im Wissenstest oder unter den drei besten wurde eine Person ausgelost. Die Führungsperson hatte dann die Aufgabe, einen Geldbetrag gerecht entsprechend Leistung unter der Gruppe aufzuteilen. Im Mittel behielten 20% der Führenden den Gesamtbetrag für sich. Dabei nutzten diejenigen aus der konventionellen Leistungsauswahl ihre Position zu 29% egoistisch aus; diejenigen, die mittels des partielle Losverfahrens in ihre Position gekommen waren, nur zu 4%. Das Wissen um das Losglück führte also zu einem sozialeren Verhalten und weniger Selbstüberschätzung der Führenden. Basierend darauf, dass ihre Auswahl nicht nur auf ihren individuellen Leistungen beruhte, trafen sie ihre Entscheidung mehr im Sinne ihres Teams.
 
Diese Befunde decken sich mit Berichten aus historischen Quellen: Führungspersonen, die mittels einer Kombination aus Kompetenz und Zufall gewählt werden, verhalten sich sozialer. Auch wenn die Versuchsanordnung des Decision Science Laboratory trotz hoher Validität nicht direkt auf die kulturbetriebliche Praxis der Stellenbesetzung übertragen werden kann, bieten die Ergebnisse doch Anregung zum Nachdenken über die Gestaltung von Auswahlverfahren und -kriterien für Führungskräfte, insbesondere auf der obersten Ebene.
 
Die Rolle Mentaler Modelle
 
Neben dem individuellen Hang zur Selbstüberschätzung spielt ein weiterer Faktor sowohl im Experiment als auch in der Realität eine wichtige Rolle: das weit verbreitete Mentale Modell von der Zuordenbarkeit erbrachter Leistung zu einer Einzelperson. Demnach gehen wir aufgrund unserer Erfahrungen und Annahmen über Organisationen meist unbewusst davon aus, dass sich Erfolge (und Misserfolge) einzelnen Mitarbeiter*innen zuschreiben lassen, und vernachlässigen den Einfluss des Teams und der Strukturen. Diese Mentale Modell ist ablesbar z. B. an der Praxis individueller Mitarbeiter*innengespräche oder an Zielvereinbarungen, die die Arbeit der Mitarbeiter*innen besser an die Gesamtstrategie anbinden sollen, letztendlich aber eine Ebene individuell gemessener Zielerreichung enthalten. Die konventionelle Personalauswahl anhand individuell zugerechneter Leistung anhand von Bewerbungen unterstützt das Fortbestehen dieses Modells auf beiden Seiten: Überbewertung der individuellen Leistungen bei den Entscheider*innen und Selbstüberschätzung der Kandidat*innen. Aus systemischer Sicht ist diese Personalisierung ein Trugschluss - und in Zeiten immer komplexer werdender Aufgabenstellungen, die in interdisziplinären Teams zu erbringen sind, nicht der beste Maßstab.
 
Das Mantra der Selbstähnlichkeit
 
Häufig ist in Stellenausschreibungen zu lesen: "Sie passen gut zu uns, wenn Sie…" - und dann wird der Ist-Zustand beschrieben. Und auch wenn diese Voraussetzung nicht explizit formuliert wird, spielt sie im Hintergrund trotzdem häufig eine Rolle.
 
Mit der Entscheidung, Bewerber*innen einzustellen, die sind wie die vorhandenen Mitarbeiter*innen, lassen Kulturbetriebe die Chance ungenutzt, diverser zu werden, neue Perspektiven zu integrieren und die Veränderungsfähigkeit der eigenen Organisation zu stärken. Je höher in der Hierarchie die zu besetzende Stelle angesiedelt ist, umso größer die vertane Chance. Nicht "mehr vom selben", sondern "mehr vom fehlenden" sollte die Maxime sein.
 
Lösungsansätze für die Praxis
 
Personalauswahlverfahren - insbesondere für Führungskräfte - die partiell, etwa in der letzten Auswahlrunde auf Losentscheid setzen, sind eher unrealistisch. Die Diskrepanz zur aktuellen Situation in Kultureinrichtungen ist zu groß als dass ein solches Vorgehen daran anschlussfähig wäre. Was aber kann in der Praxis zur Verbesserung der Auswahl führen - und Kultureinrichtungen zu Führungskräften verhelfen, die ihre Aufgabe im Sinne von Cultural Leadership ausfüllen?
 
Drei Stellschrauben kommen dafür in Frage: Die Kriterien für die Auswahl, das gewählte Verfahren und die Zusammensetzung der Entscheidungsgremien.
 
Führung hat zwei zentrale Aufgaben, die bei ihrer Auswahl eine entscheidende Rolle spielen sollten: kommunizieren und entscheiden. Beides kostet Kraft - und Zeit; und es benötigt Fähigkeiten. Führungskräfte müssen sich selbst führen können und im Fall von Kultureinrichtungen die Ansprüche von Besucher*innen, Mitarbeiter*innen und Fördergeldgeber*innen ausbalancieren. Das lässt sich nur mit guter und angemessener Kommunikation erreichen. Um in diesem "Dschungel" nicht verloren zu gehen, muss Führung die Komplexität dieses Systems reduzieren und Entscheidungen treffen, die die eigene Organisation arbeitsfähig und überlebensfähig halten. Dazu sind Rollenklarheit und Selbstreflexion, Kommunikationsinstrumente und eine gute Beobachtungsfähigkeit sowie Vertrauen und Wertschätzung für Mitarbeiter*innen notwendig. Diese Fähigkeiten sollten neben der fachlichen Qualifikation bei ihrer Auswahl deutlich stärker berücksichtigt werden.
 
Nach wie vor können klassische Interviewformate, wenn sie gut durchgeführt werden, gute Resultate erzielen. Eine aufwendigere, aber auch aufschlussreichere Alternative ist ein Assessment Center: Vorausgewählte Bewerber*innen müssen in einer Präsentation vor Mitbewerber*innen und Entscheider*innen zeigen, wie sie konkrete Führungsfragen mit Bezug zur strategischen und/oder Organisations-Entwicklung angehen würden und wie sie mit der Wettbewerbssituation umgehen. Als Ergänzung eignen sich Gruppendiskussionen zu Führungsthemen, die einen tieferen Einblick in das Führungsverständnis der Kandidat*innen ermöglichen. Die Bewerber*innen können so im Handeln erlebt werden und die Art, wie sie in einer Diskussion mit unterschiedlichen Perspektiven und Meinungen umgehen, und ihr Kommunikationsstil jenseits einer Interviewsituation werden sichtbar. Für die Entscheidung bei der Endauswahl liefert dieses Format weitreichende Informationen. Die Voraussetzung für die Qualität der Ergebnisse ist wie bei allen anderen Bewerbungsverfahren: Es wird am besten von einem/einer kompetenten externen Moderator*in geleitet. 
 
Bleibt die Frage: Wer sollte an der Entscheidung beteiligt werden? Kommen wir zurück auf die beschriebenen Kernaufgaben von Führung: in einem komplexen System kommunizieren und entscheiden. Hier bietet es sich an, als Entscheider*innen nicht nur diejenigen zu berücksichtigen, die die Auftraggeber*innen- bzw. Vorgesetzten-Funktion für die auszuwählende Führungskraft innehaben, sondern diverser zusammengesetzte Gremien mit der Auswahl zu betrauen. Im Sinne eines 360°-Abbild des Systems, in dem die Führungskraft arbeiten wird, wäre das z.B. eine Zusammensetzung aus Auftraggeber*innen bzw. Vorgesetzten, Mitarbeiter*innen auf gleicher Hierarchiestufe und Mitarbeiter*innen, die eine Hierarchiestufe unter der Führungskraft arbeiten werden.
 
Chef*in per Los? Nicht notwendigerweise.
 
In der Praxis kann man auch ohne Losverfahren zu Entscheidungen kommen, die sicherstellen, dass Führungskräfte ihren Auftrag ernst nehmen und kompetent ausführen. Dennoch inspiriert das Nachdenken über ein solches Vorgehen - oder beispielsweise über eine Auswahl im Team - Kultureinrichtungen und ihre Träger*innen vielleicht dazu, bisherige Verfahren, Kriterien und Grundannahmen jenseits der fachlichen Eignung zu hinterfragen und zu aktualisieren. Dringend notwendig, um im Kulturbereich auf lange Sicht bessere Führungskräfte zu entwickeln, ist zudem ein Fokus auf Weiterbildung, um die notwendigen Führungsfähigkeiten auszubilden und weiterzuentwickeln.
 
Quellen
 
  • Joël Berger, Margit Osterloh, Katja Rost: Chef per Los - Ergebnisse eines Experiments, zfo Zeitschrift Führung + Organisation, Seite 184-188, 03/2019.
  • Ruth Seliger: Das Dschungelbuch der Führung - Ein Navigationssystem für Führungskräfte, Carl Auer Verlag, Heidelberg, Sechste Auflage, 2016.

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