10.09.2021

Themenreihe Corona

Autor*in

Gernot Wolfram
ist Professor für Kultur- und Medienmanagement an der Macromedia University Berlin und lehrt seit 2015 als Gastdozent an der Universität Basel im Studiengang MAS Kulturmanagement sowie als Gastprofessor für Cultural Studies an der Fachhochschule Kufstein/Tirol. Zudem hält er an der Bundeszentrale für politische Bildung in Berlin regelmäßig Vorträge zu Themen der Medienbildung und Kulturellen Bildung.
Warum Verantwortung im Kulturbereich ungleich verteilt ist

Die feinen Unterschiede

Die Pandemie hat intensive Debatten über Arbeitssituationen und Problemen im Kulturbereich ausgelöst. Dabei fehlt es aber an einer Diskussion, die zwischen den verschiedenen Notlagen differenziert und klarstellt: Die zeitweise Schließung öffentlicher Kultureinrichtungen kann nicht mit der akut bedrohlichen Situation freier Kulturschaffender und kleiner Initiativen verglichen werden.

Themenreihe Corona

Seit einigen Monaten ist viel die Rede von der Krise der Kulturschaffenden. Die Frankfurter Allgemeine benannte bereits im Juli 2020 einen Kommentar mit "Überall Krisensymptome" und diagnostizierte: "Jetzt erst beginnt sie richtig, die Zeit, in der Kulturveranstalter aufgeben müssen." Das gibt die Tonlage an, mit welcher Untergangsszenarien das Verschwinden von kulturellen Orten beschreiben. Der Deutsche Kulturrat verlängert zudem regelmäßig seine Rote Liste (nun "Corona-Liste") der bedrohten Kultureinrichtungen. Die Situation ist fraglos noch immer ernst. 
 
Es sind jedoch nicht alle Kulturbetriebe gleichermaßen betroffen, vor allem nicht die staatlichen und jene, die in einer Langzeitförderung stehen. Tatsächlich bedrohlich ist es vor allem für die vielen freien Kulturschaffenden, für Subkulturen und kleinere privatwirtschaftlich organisierte Theater, Museen und Veranstaltungsbetriebe. Sie werden allzu häufig generalistisch in den Diskurs "Krise des Kulturbereichs" integriert, ohne dass es zu einer genaueren Betrachtung der "feinen Unterschiede" kommt, um einen Begriff Pierre Bourdieus (2012) aufzugreifen. Das Problem ist aber, dass diese Diversität häufig allgemein unter dem schwammigen Begriff "Kulturbereich" subsummiert wird. Dabei liegt eine Hauptlast des Drucks der Krise auf diesen Akteur*innen. Es sind eben unterschiedliche Rollen, die Kulturschaffende in Deutschland einnehmen. Und Verantwortung kann nur dann differenziert gedacht werden, wenn die "feinen Unterschiede" in Bezug auf Lobbys, Ressourcen und Solidaritätsstrukturen in den jeweiligen Bereichen mitgedacht werden. 
 
Das hat Auswirkungen auf das unterschiedliche Verständnis von Verantwortung in den jeweiligen Kulturszenen. Die zentralen Herausforderungen an Kulturschaffende sind ja nicht nur das Sichern des eigenen Überlebens, sondern auch die zukunftsfähige Ermöglichung der Rollen und Aufgaben, die sie sich gestellt haben. Und es geht darum, welches Rollenverständnis die Gesellschaft Kulturschaffenden zuschreibt. Gibt es ausreichend Diskurse und rechtliche Rahmenbedingungen dafür, wie diese Berufe, vor allem die Freischaffenden, in einer Krise geschützt werden? Oder beschränkt sich der Verantwortungsdiskurs auf Nothilfen und rhetorische Bekundungen zum Erhalt der Kulturlandschaft? 
 
Verantwortung als Rollenverantwortung 
 
Der britische Rechtsphilosoph H. L. A. Hart (1968) hat hier eine Unterscheidung getroffen, die helfen kann, zu diskutieren, wie Ungleichheiten der Verantwortung und des Krisendrucks bei der Bewältigung der Corona-Krise überwunden werden können. Hart unterschied folgende Formen der Verantwortung, zu denen der Autor in Klammern einen Bezug zum vorliegenden Thema hergestellt hat: 
 
1. kausale Verantwortung in Hinblick auf die Verursachung (selbst verschuldete Krisensituation).
2. Rollenverantwortung in Hinblick auf die Aufgabe (aktive Übernahme von Verantwortung für das eigene Handeln, selbst gewählte Rollen und die eigene Position im kulturellen Feld).
3. Fähigkeitenverantwortung in Hinblick auf die Erfüllbarkeit (welche Fähigkeiten und Kompetenzen liegen vor, die Krise zu meistern). 
4. Haftungsverantwortung, die von der Verursachung abweichen kann (für wen und was muss eingestanden werden, etwa bei der Führung von Kulturbetrieben, ohne dass man selbst Grund für die Krise ist). 
 
Der interessante Punkt an Harts Kategorien ist die Abwesenheit von moralischen Aspekten, wie sie häufig in den aktuellen Kulturkrise-Debatten auftauchen. Das heißt, Verantwortung wird bei ihm vor allem strukturell betrachtet. Man kann diesen Ansatz dazu nutzen, pragmatisch und lösungsorientiert danach zu fragen, wie Verantwortung verteilt ist. 
 
Die Frage nach der Handlungsverantwortung 
 
Die Corona-Krise stellt zentral die Frage nach Kategorie 2: die Rollenverantwortung in Hinblick auf die Aufgabe. Hier würde es darum gehen, zu verstehen, dass die meisten Kulturschaffenden keine Krise in ihrer Rolle haben, sondern dass es ihnen im Moment unmöglich ist, sie auszufüllen. Das wirft einen anderen Blick auf das Thema Verantwortung. Anstatt permanent Kulturschaffende dazu aufzufordern, die "Krise als Chance" zu sehen und kreativ zu werden, könnte man viel stärker die Frage stellen: Wer kann aufgrund einer besseren Ressourcenlage denjenigen helfen, die nicht über diese Ressourcen verfügen und daher von ihrer Rollenverantwortung abgeschnitten sind? Was können also diejenigen in einer besseren Position solidarisch tun, um die anderen zu unterstützen? Etwa auf Seiten staatlicher Institutionen, der Kulturpolitik und der Kulturarbeit in der Wirtschaft. Welche neue Kooperationsformen sind denkbar? Und es macht Sinn, ein aus der Mode gekommenes Wort wiederzubeleben: Welches neue Verständnis von Kollegialität ließe sich initiieren? 
 
Austausch von Ressourcen 
 
Zur Rollenverantwortung gehören Solidarität und der Austausch bestehender Ressourcen auf Seiten der Bessergestellten. Sonst müsste man einer rein betriebswirtschaftlichen Marktlogik folgen, was die Forschung zum Kulturmanagement im überwiegenden Teil abgelehnt hat (Föhl, Glogner-Pilz 2017). Das Verschwinden vieler Akteur*innen wäre dann wohl unvermeidlich. Das heißt, die Lösungsansätze sollten sich damit beschäftigen, wie es den Kulturszenen mit ihren ungleich verteilten Verantwortlichkeiten (auch im Sinne von Entscheidungskompetenzen) gelingen kann, dass die besonders von der Krise betroffenen Akteur*innen wieder ihren Beruf ausüben und das tun können, was ihnen wichtig ist: künstlerisch und kulturell tätig zu sein, ohne finanziellen Ruin fürchten zu müssen. 
 
Dabei muss darüber gesprochen werden, wer in einer komfortablen und wer in einer weniger komfortablen Situation steckt. Wie bestehende Ressourcen, und nicht nur auf Seiten des Staates, anders verteilt werden können. Dazu bedarf es auch der Ehrlichkeit, die "feinen Unterschiede" in den Kulturszenen zu benennen und nicht den jeweils eigenen Druck als den einzig maßgeblichen zu formulieren. So naheliegend das als kulturpolitische Kategorie auch sein mag. 
 
Die Krise der freischaffenden Künstler*innen 
 
Kulturschaffende sind keine Bittsteller*innen. Sie befinden sich nicht in der Rolle der Grillen aus der Fontain‘schen Fabel, die sich mit nutzlosem Singen aufhalten, während die Ameisen fleißig ihre Wintervorräte anlegen, wie es der Bariton Matthias Goerne in einem Interview in Die Zeit formulierte. "Wir werden auch den Winter über genug zu essen haben", triumphiert die Ameise am Ende - "du aber hast die ganze Zeit gezirpt und gesungen. Jetzt bleibt dir nur noch zu tanzen." Freischaffende Künstler*innen sollten nach Goerne nicht als exotische Berufe wahrgenommen werden, die in der Gesellschaft eine Sonderrolle einnehmen. Vielmehr leisten sie etwas Besonderes und Wichtiges. Dafür bedarf es keiner andauernden Rechtfertigung. 
 
Gerade die Freischaffenden zeigen in besonderem Maße Verantwortung, indem sie ihre Rolle ernst nehmen, nämlich Kulturermöglicher*innen zu sein. Sie handeln durch ihre Angebote, bringen neue Ideen und Konzepte ein. Sie übernehmen durch ihre praktische Arbeit eine spezifische Rollenverantwortung, für die sie den gleichen Respekt und die gleiche Akzeptanz verdienen wie andere Berufsgruppen. Ähnliches gilt für privatwirtschaftliche Kulturbetriebe, die sich immer wieder am Markt bewähren müssen. Ausgerechnet sie sind es, die die Krise am härtesten trifft. Und die häufig keine ausreichende Lobby haben, um ihre Anliegen zu vertreten. 
 
Die feinen Unterschiede 
 
Gerade freie Kulturschaffende müssen sich in Projekten und Anträgen stets neu "erfinden", ihre Rolle und Aufgabe verdeutlichen, sich sichtbar machen und ihre Mitarbeit anbieten. Das gilt nicht in gleichem Maße für Musiker*innen mit einem Festvertrag in einem staatlichen Orchester, für langjährig verpflichtete Intendant*innen oder Kulturmanager*innen in einer Stiftung. Diese Positionen sind weitaus gefestigter. Ihre Rollen und Verantwortungen sind klar kommuniziert, gesellschaftlich akzeptiert und politisch besser verankert. Auch die unterschiedlichen Bezahlungen markieren hier eine Differenz. 
 
Daher ist es wichtig, in der gegenwärtigen Krise auf diese "feinen Unterschiede" zu blicken, die jeweiligen Rollenverantwortungen genau zu reflektieren und Unterstützung im Sinne von Arbeitsoptionen zu durchdenken. Wer ist besonders betroffen? Wer kann seine Rollenverantwortung im Moment nicht in ausreichendem Maße wahrnehmen, da er*sie durch die Corona-Pandemie von Arbeitsmöglichkeiten abgeschnitten ist? Und wie lassen sich Ressourcen so verteilen, dass es zu neuen Arbeitsoptionen für die Betroffenen kommt? Kurzum: Wer kann wem wie in der Krise helfen? Nicht nur pure Überlebenshilfe, sondern Hilfe zur Rückkehr in die gewünschte eigene Rollenverantwortung durch intelligente Formen von Solidarität und Kooperation. 
 
Neue Synergien 
 
Gerade freischaffende Künstler*innen und Projektverantwortliche haben in den letzten Jahren wichtige Beiträge zu brennenden Gesellschaftsthemen gestaltet. Ihre Bedeutung für gesellschaftliche Weiterentwicklung ist eindeutig belegbar. Nun gilt es die Frage zu stellen, wie man diese Gesellschaftsverantwortung noch deutlicher macht und die Zusammenarbeit der Künstler*innen mit anderen Arbeitsfeldern intensiviert. 
 
Die Möglichkeiten für neue Kultur-Kooperationen sind zahlreich. Zum Beispiel, indem man Kulturschaffende bei Projekten der digitalen Transformation als Expert*innen integriert, ihr Wissen bei der Entwicklung des wachsenden Bereichs Kultur und Nachhaltigkeit aktiver nutzt oder sie stärker als Quereinsteiger*innen in den Schulbetrieb fördert. Sie also in ihren Entwicklungsmöglichkeiten und Kompetenzen stärkt und nicht zu dauerhaften Hilfeempfänger*innen macht. Diese Synergieformen sind nichts Neues, doch könnten sie durch die Corona-Krise im positiven Sinn beschleunigt werden.
 
Neue Verantwortung für die Kulturpolitik 
 
Dazu bedarf es eines neuen Verantwortungsverständnisses der Kulturpolitik. Ein Blick nach Frankreich, das Heimatland Pierre Bourdieus, zeigt, dass dort schon früher das Problem erkannt wurde. So beklagt der ehemalige Redenschreiber Emmanuel Macrons, Sylvain Fort, den "Tod der Kulturpolitik" und fordert das Ende einer Klientelwirtschaft, die er nicht nur in Frankreich am Werke sieht. Es bedürfe neuer Konzepte seitens der Politik, verschiedene Gruppen, und eben besonders auch die freien Kulturschaffenden, stärker in die aktuellen Diskurse miteinzubeziehen, ihre Ideen- und Erfahrungskompetenz zu nutzen. Und auch Medienkonzerne wie Amazon, Google und Netflix in die Pflicht zu nehmen, sich am Erhalt des Kulturlebens im Land zu beteiligen. Gerade weil sie in der Krise große Gewinne erwirtschaften. Die großen Medienkonzerne bedienen sich fortwährend kultureller Strukturen, Muster und Traditionen in den jeweiligen Ländern. Sie hätten also, theoretisch, eine genuine Verantwortung für diesen Bereich. Diskutiert werden sollten neue Steuermodelle oder Kultursoli-Beiträge. Eine mutige Kulturpolitik sollte sie an diese Verantwortung erinnern, ohne lediglich alte Verteilungsmodelle wiederzubeleben. Vielmehr könnte eine kluge Vorschlagspolitik im Bereich von Kooperation und Solidarität das Potential von noch nicht genutzten Synergien deutlich machen. 
 
Medien-, Kultur- und Bildungspolitik aktiver miteinander zu verschränken, sieht Fort als entscheidend an, um eine neue Verantwortung für die Kultur zu initiieren. Mag manches davon auch etwas utopisch formuliert sein, ist dieser Ansatz doch vielversprechender als die fortwährende Verbreitung von Untergangsszenarien, wie wir sie oft in Deutschland erleben. Neue Solidarität, Verantwortung und Kooperation zwischen den Akteur*innen zu betonen, auf allen Seiten des Kulturlebens, kann zumindest den Anstoß geben, dass sich etwas bewegt, und zwar zum Besseren hin. 
 
Man muss nicht den berühmten Schmetterlingseffekt bemühen, um zu sehen, dass selbst kleine Veränderungen im Kultursystem eine enorme Auswirkung auf alle Kulturbetriebe hätten. Hier Verantwortung zu übernehmen für die unterschiedlichen Notlagen, besonders im Bereich der freien Kulturschaffenden und privatwirtschaftlich organisierten Kulturbetriebe, ist essentiell für die Zukunft des gesamten Kulturlebens. 
 
Referenzen
 
  • Bourdieu, Pierre (2012): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Suhrkamp.
  • Föhl, Patrick & Glogner-Pilz, Patrick (2017): Kulturmanagement als Wissenschaft. Grundlagen - Entwicklungen - Perspektiven. Einführung für Studium und Praxis. Transcript-Verlag
  • Hart, Herbert Lionel Adolphus (1968): Punishment and Responsibility. Essays in the Philosophy of Law. Oxford University Press. 
 
Dieser Beitrag erschien in ausführlicher Form zuerst im Kultur Management Network Magazin "Kultur mit Verantwortung".

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