30.03.2022

Themenreihe Corona

Autor*in

Sönke Scobel
ist ein Hamburger Wirtschaftsingeneur, der nach Tätigkeit für eine Unternehmensberatung 2005 als Vertriebs- und Marketing Controller bei Stage Entertainment Germany startete. 2009 zum Head of Yield Management ernannt, verantwortet er seit 2016 als Director Analytics and Optimisation auch gruppenweit Vermarktungsanalyse, Ticketing-Systemtechnik und Yield Management des Musicalmarktführers.
Rainer Glaap
ist freier Autor und befindet sich seit dem 01.01.2020 im (Un)Ruhestand. Er war davor die letzten 15 Jahre bei CTS EVENTIM für das Produktmarketing der Ticketinglösung EVENTIM.Inhouse verantwortlich, die bei zahlreichen Kultureinrichtungen in Deutschland, Finnland, Italien, der Schweiz u.a. im Einsatz ist. Er ist Autor zahlreicher Fachbeiträge zu Kulturmarketing und Ticketing. Sein aktuelles Projekt ist die Erforschung von Kulturstreaming in Pandemiezeiten. Vorläufige Ergebnisse und eine aktuelle Umfrage sind hier verfügbar.
 
Julia Jakob
studierte Musikwissenschaft und Kulturmanagement in Weimar. Praktische Erfahrungen im Kulturbetrieb sammelte sie bei unterschiedlichen Festivals und in verschiedenen Veranstaltungsbüros sowie als Agentin bei weim|art e. V. Seit 2021 ist sie die Chefredakteurin des Kultur Management Network Magazins und stellvertretende Leiterin der Redaktion.
Wiederöffnungsstrategie der Stage Entertainment GmbH (Teil II)

Nachfrageorientierung regelt

Wie alle Kultureinrichtungen hat auch die Stage Entertainment GmbH während der Pandemiejahre 2020 und 2021 vor allem eins gemacht: (fast) alles runtergefahren, um dann im Wirrwarr der Coronaregelungen lange Zeit nur auf Sicht zu fahren. Anders als viele andere Kultureinrichtungen musste der Musicalriese jedoch nach der Wiedereröffnung nicht lange auf seine gewohnten Publikumsströme warten. Warum der Fokus auf die Nachfrage des Publikums hierbei ein wichtiger Schlüssel zum Erfolg ist, darüber spricht Sönke Scobel von der Stage mit Rainer Glaap und Julia Jakob (KMN) in Teil II dieses Interviews.

Themenreihe Corona

KMN: Lieber Herr Scobel, im ersten Teil des Interviews sprachen wir darüber, wie Stage Entertainment durch die Pandemie gekommen ist und zur Öffnungsstrategie des Unternehmens. Mittlerweile darf Kultur wieder stattfinden, was jedoch nicht automatisch bedeutet, dass auch das Publikum wieder da ist. Wie ist das bei Ihnen?
 
Sönke Scobel: Wir haben circa 14 Monate wenig kommuniziert, was bedeutet, dass wir auch weniger Tickets verkaufen. Denn wir haben normalerweise auch deshalb so viele Gäste und verkaufen so viele Tickets, weil wir viel Marketing machen. Bei "Wicked" hätten wir etwa neun Monate vor der Premiere mit unserer Kommunikationsstrategie begonnen. Aber statt dieses relevanten Zeitraums hatten wir 2021 nur sechs Wochen, in denen wir richtig Alarm machen konnten. 
 
Im November 2021 waren wir dann insgesamt nahezu auf Vor-Corona-Niveaus, wenngleich das natürlich von Show zu Show unterschiedlich war. So war die Woche der "Die Eiskönigin"-Premiere die beste Woche, die wir jemals mit einer Show hatten - flankiert durch einen sensationellen Auftritt bei "Wetten, dass…" und kurzzeitig gefühlte "Normalität". Nach dieser Woche sind die Inzidenzen allerdings wieder stark gestiegen und unsere Besuchszahlen entsprechend schnell gesunken. Insbesondere das Weihnachtsgeschäft und die erste Januarhälfte waren sehr verhalten. Seit Mitte Januar geht es allerdings wieder deutlich nach oben, und wir nähern uns den Vorjahresniveaus 2016-2019 an, die Mittelwerte miteinander verglichen. Für einzelne Bereiche haben wir das sogar schon erreicht. Da sehen wir also eine deutliche Richtung. Zudem haben es die bewährteren Produktionen wie "König der Löwen" im Moment deutlich leichter als neuere Shows. Die Leute scheinen noch nicht so experimentierfreudig zu sein, wie sie es vor der Pandemie waren. Das kann auch hier an der fehlenden Werbung liegen, aber eben auch, dass ältere Produktionen die sichere Wahl sind. 
 
Rainer Glaap: Die Besucher:innen der Stage Theater haben oft einen touristischeren Hintergrund mit langfristiger Planung. Inwieweit hat sich das durch die Pandemie verändert? Und wie hoch ist dabei die Rate eurer Repeat Customer? 
 
SöSc: Das hat sich überraschenderweise nicht geändert: Weder die Altersstruktur, noch die Herkunft der Besucher:innen. Die Vorbuchungsfrist hat sich minimal verändert, was systembedingt sein könnte. Da die Weihnachtsverkäufe nicht so hoch wie sonst waren, sind die Verfügbarkeiten auch noch ein wenig besser, so dass es auch kurzfristiger noch gute Plätze gibt. 
 
Schwieriger zu beantworten ist die Frage nach den Repeat Customers. Denn im besten Fall kennen wir nur jede:n 2,5. Besucher:in, da in einem Auftrag im Mittel 2,5 Tickets gekauft werden. Allerdings sind die Käufer:innen nicht zwangsläufig auch die Besucher:innen. Wenn man die Gäste fragt, welche Musicals sie bereits gesehen haben, geben sie viel mehr an, als wir in unseren Daten haben. Demnach gibt es unterschiedliche Wege, wie das Publikum an seine Tickets kommt.
 
RG: Welche Besucher:innenbefragungen macht ihr noch? 
 
SöSc: Wir machen zum einen eine Nachbesuchs-Befragung, wobei jede:r Besucher:in nach der Show eine entsprechende Mail bekommt, in der sie Feedback zur Vorstellung geben können. Seit der Coronaphase mache wir jeden Monat einen Customer Sentiment (Stimmungsanalyse). In diesem fragen wir etwa nach der Bereitschaft, wieder ins Musical gehen, welche Sicherheitsmaßnahmen für die einzelnen Besucher:innen wichtig sind und so weiter. Wobei da nur der Trend interessant ist und nicht die absolute Zahl. Denn ob nun 43 Prozent der Befragten die Masken gut oder schlecht finden, interessiert mich eingeschränkt. Was mich interessiert, ist der Vergleich zum letzten Monat. Bei den Masken kann man beispielsweise sehen, dass die Akzeptanz die ganze Zeit gestiegen ist.
 
KMN: Sie bieten bei der Stage derzeit beim Ticketkauf eine kostenfreie Flex Option an, mit der man die Tickets kurzfristig umbuchen kann. Wie wird das aktuell angenommen? 
 
SöSc: Das wird sehr gut angenommen, wobei es diese Option schon vor der Pandemie gab, allerdings als kostenpflichtiges Add-on. Das wurde auch damals sehr gut genutzt. In der Pandemie war das ein Instrument, um Leute zum Kauf zu bewegen. Deswegen bieten wir sie aktuell noch kostenfrei an. Allerdings ändern wir das bald wieder, denn diese Umbuchungen sind sehr teuer, da wir kein eigenes Ticketsystem haben, sondern immer jemand Externes 10 Minuten damit beschäftigt ist. Da es aber auch zuvor in der kostenpflichtigen Version sehr gut angenommen wurde, sehe ich in dieser Umstellung kein Problem. 
 
RG: Im staatlichen Bereich ist das Gewandhaus in Leipzig mit dieser Flex Option auch sehr erfolgreich. Die haben das ebenfalls vor der Pandemie eingeführt. Interessanterweise wollten sich aber viele weitere Häuser nicht darauf einlassen, nicht einmal während der Pandemie. Ich habe vielen Einrichtungen während der Hochphase immer gesagt, dass sie sich spätestens jetzt lösen müssen von diesem "All sales are final" und den Leuten ein garantiertes Umtauschrecht geben müssen. So dass alle, die sich nicht fühlen, nicht glauben, etwas zu verpassen oder die teuren Tickets verfallen lassen müssen. Oder noch schlimmer: Wer sich nicht fühlt, geht trotzdem ins Theater und steckt so andere an.
 
RG: Dynamisiert ihr derzeit eure Preise? 
 
SöSc: Wir sind immer dynamisch und haben demnach immer nachfragegetriebene Preise. Aber sobald wir weniger Nachfragen haben, ändert sich auch an den Preisen nicht so viel. Allerdings kaufen auch durch Senken der Vollpreise nicht mehr Leute ein Ticket. Besser funktionieren Aktionen, wie etwa zuletzt zum Valentinstag, an dem wir 20 Prozent Rabatt geben haben. Das aktiviert die Leute. 
 
KMN: Sofern wir in den nächsten zwei Jahren lernen können, mit dem Coronavirus zu leben und kein "auf Sicht-Fahren" mehr nötig ist: Welche mittel- und langfristigen Ziele hat Stage Entertainment und wie wollen Sie diese erreichen? 
 
SöSc: Wir möchten so schnell wie möglich auf die alten Niveaus zurückkommen, insbesondere, um coole, neue Shows zu machen. Durch die Pandemie hat sich der Zuschauerwandel beschleunigt, und wenn wir weiterhin volle Häuser haben wollen, müssen wir uns diesem annehmen. Für Häuser mit Abobereich, den wir nicht haben, gilt das umso mehr, um hier die großen Lücken zu schließen, die durch das Ausbleiben von neuen Abonnent:innen entstehen. Sowas ähnliches kann aber auch bei uns passieren. 
 
Um dem entgegenzuwirken, brauchen wir neue Produktionen, die auch für neue Zielgruppen relevant sind. Da wir keine öffentliche Förderung bekommen, sind wir dem verpflichtet, was die Leute uns gerne abkaufen, weil sie es gerne sehen wollen. Sonst können wir das nicht umsetzen. Unser erster Gedanke in der Produktionsplanung ist also: Gibt es genug Leute, die das interessiert? Gibt es einen Markt dafür? Denn nur so können wir uns die kostspielige Produktion unserer Shows leisten. Natürlich muss man sich auch da mal etwas trauen, damit überhaupt neue Produktionen entstehen, mit denen wir im Erfolgsfall dann auch neues Publikum ansprechen. "Hamilton", was wir ab Oktober 2022 spielen, ist dafür ein gutes Beispiel. Das haben wir in der nächsten Zeit vor. Aber dafür brauchen wir zunächst auch die "normale" Zuschauermenge, denn große Shows gibt es nicht umsonst.
KMN: Wie möchten sie diese Zuschauermengen (zurück-)gewinnen und schließlich halten? 
 
SöSc: Einerseits versuchen wir, unser Portfolio so zu erweitern und breiter aufzustellen, dass wir für jede:n etwas anbieten können. Das ist Basis und Kern unseres Schaffens, was wir sehr aufmerksam beobachten. Dazu gehört auch: Wie entwickelt sich beispielsweise der Markt für Lizenzprodukte? Denn zwei Jahre lang wurde nichts entwickelt. Kommt die kreative Seite wieder komplett zurück, so dass wir auf neue Lizenzen setzen können? Oder müssen wir wieder stärker in Richtung Eigenentwicklung gehen und selbst Stücke produzieren? Das haben wir schon häufiger gemacht. 

Als langfristige Strategie wäre ein weiteres großes Theater in Hamburg für uns denkbar. Zumal es hier mit "Harry Potter" seit Neuestem schon fünf große Häuser gibt. Also fragen wir uns, ob wir den Beispielen London und New York folgen sollten, wo es Dutzende Musicaltheater gibt, ob wir also noch weitere Häuser in verschiedenen Größen für weitere Produktionen brauchen. Auch um auf kleineren Bühnen neues auszuprobieren. 

Selbstverständlich machen wir uns aber auch Gedanken darüber, wie etwa die perfekte Customer Journey aussieht und wie wir diese erreichen: Wie informieren sich die Leute? Wie wollen sie ihre Tickets kaufen? Wie geht das möglichst reibungslos? Zum Thema "Ticketsysteme und Corona" haben wir sehr viel gelernt - insbesondere, wie es deutlich besser hätte funktionieren und gebaut werden können, um in einer solchen Krisensituation klarzukommen. Das sind alles Sachen, die wir in Zukunft berücksichtigen werden, wobei es auch schon erste Projekte gibt, die sich damit beschäftigen. 
 
KMN: Während öffentlich geförderte Theater gerade große Schwierigkeiten haben, ihr Publikum nicht nur zurückzugewinnen, sondern auch neues zu gewinnen, könnte ein Blick auf die Herangehensweise der Stage sicherlich helfen, um diese Probleme zu lösen. Rainer, wo siehst du dabei die wichtigsten Stellschrauben, damit der öffentlich geförderte Theaterbetrieb auch weiterhin bestehen kann? 
 
RG: Eine interessante Debatte dreht sich gerade um Begriffe wie "Well made plays". Die Nachfrage danach und die Diskussion darüber sehe ich auch als Backlash zum Regie- und postdramatischen Theater, die sich die städtischen und staatlichen Theater in den letzten Jahren verstärkt angeeignet haben. Prinzipiell sind die Theater frei in dem, was sie künstlerisch anbieten. Wenn aber die Besucher:innen ausbleiben, weil ihnen die Experimente über den Kopf wachsen, muss man umdenken. Dann können Theater nicht mehr länger Angebotserbringer sein, sondern müssen sich an der Nachfrage des Publikums orientieren. Das gilt umso mehr bei knapper werdenden öffentlichen Geldern, wobei die ersten Streichungen bereits in den Kulturetats angekündigt werden. Die Bühnen wird das treffen. 
 
Das geht einher mit vielen anderen Themen, die ebenfalls berücksichtigt werden müssen, wie etwa Diversity. Prinzipiell ist es ganz einfach, denn es gibt die zwei großen Rs: Relevanz und Repräsentanz. Menschen, die sich auf der Bühne nicht repräsentiert fühlen, gehen nicht ins Theater. Und wenn nicht relevant ist, was gespielt wird, gehen sie auch nicht ins Theater. Wenn doch, dann wirkt sich das positiv auf die Besucherzahlen aus.
 
Hinzukommt - und das hat sich durch die Pandemie sicherlich auch verstärkt - dass bestimmte Bevölkerungsgruppen anders buchen. Die buchen nicht drei Monate im Voraus, sondern verabreden sich spontan, um in einer Gruppe abends ins Theater zu gehen. Das Gorki in Berlin hat sich deswegen weitgehend von der Planung verabschiedet, weil häufig unerwartet große Gruppen von Menschen zur Abendkasse kommen. Das erschwert die Planung. Aber das wird noch schwerer werden, wenn Häuser keine guten Gründe finden, die Besucher:innen zu binden. Da wird man sich auch inhaltlich etwas überlegen müssen. Nicht zu vergessen die Problematik der fehlenden kulturellen Bildung an vielen Schulen, wo für Theaterbesuche immer weniger Zeit im Lehrplan vorgesehen ist. Nur der Besuch im Weihnachtsmärchen für die Grundschulklassen reicht da nicht aus.

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