14.11.2024
Themenreihe klimafreundlich
Autor*in
Manuel Rivera
studierte Soziologie und arbeitete beim Rat für Nachhaltige Entwicklung (RNE), dem Europäischen Netzwerk der Umwelt- und Nachhaltigkeitsräte (EEAC) sowie als Schauspieler an verschiedenen deutschen Stadttheatern. Seit Abschluss seiner Promotion über "Theater als politische Öffentlichkeit" forscht er am RIFS*, u. a. zu "Kunst und Kultur für Nachhaltige Entwicklung".
Kristin Oswald
leitet die Online-Redaktion von Kultur Management Network. Sie studierte Geschichte und Archäologie in Jena und Rom sowie Social Media-Marketing in Berlin. Sie ist freiberuflich in der Wissenschaftskommunikation und im Museumsmarketing mit Schwerpunkt online tätig.
Einstellungen zu Nachhaltigkeit in Orchestern
Die Rolle von Selbstkritik, Werten und Traditionen
Orchester, Ensembles und Konzerthäuser beschäftigen sich zunehmend mit Nachhaltigkeit. Dennoch gibt es Beharrungskräfte, die dafür sorgen, dass das eigene Handeln und gängige Verhaltensweisen wenig selbstkritisch hinterfragt werden. Wie eine Kenntnis der Einstellungen von Mitarbeitenden helfen könnte, dies zu ändern, erklärt Nachhaltigkeitsforscher Manuel Rivera im Interview.
Themenreihe klimafreundlich
Lieber Herr Rivera, Sie arbeiten am Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit (Research Institute for Sustainability, RIFS) des Helmholtz-Zentrum Potsdam. Dort erforschen Sie Nachhaltigkeit im Kulturbereich prozessbegleitend, also in und mit Institutionen. Wie können wir uns das vorstellen?
Manuel Rivera: Vorausschicken möchte ich, dass es bei den meisten unserer Kooperationen darum geht, einzelne künstlerische Vorhaben zu sozialökologischen Themen durch konzeptuelle Beratung, Generierung von empirischem Material oder die Organisation und Ausweitung dialogischer Begleitprogramme zu unterstützen. Die eher auf den Betriebsmodus ganzer Institutionen gerichteten Projekte sind die selteneren, auch deshalb, weil sie viel aufwändiger sind. Hier gibt es ein Spektrum, das von Begleitforschung zu einem konkreten Vorhaben, das die Kultureinrichtung sowieso und ohne uns macht - wie z. B. das Hans-Otto-Theater mit seiner auf Klimaneutralität ausgerichteten Modellinszenierung - bis hin zu längeren Kooperationen reicht, in denen wir uns mit der Institution intern über Veränderungsbedarfe verständigen und versuchen, zusammen Umsetzungsvorschläge dafür zu entwickeln. Letzteres war in einem BKM-geförderten Projekt mit der Kammerakademie Potsdam (KAP) der Fall. Bei solchen Vorhaben spielen Mitarbeiter*inneninterviews eine wichtige Rolle, hinzu kommen ggf. Publikumsbefragungen und Beobachtungen von Kulturveranstaltungen. Bei Kooperationen gibt es außerdem Feedback-Loops zu einzelnen Fragen z. B. durch Vorträge von uns oder von externen Expert*innen, durch gemeinsame Workshops und ähnliches.
In verschiedenen Projekten haben Sie sich mit nachhaltigem Wandel in Orchestern beschäftigt und dabei Selbstkritik als einen wichtigen Faktor ausgemacht. Warum ist das so?
MR: Wir alle leben und arbeiten in mehr oder weniger gut eingespielten Routinen, die uns ermöglichen, uns auf unsere Arbeit zu konzentrieren; das gilt auch für die Menschen in Orchestern. Diese Routinen wegen einer Anforderung von außen - in diesem Fall: mehr Nachhaltigkeit - zur Disposition zu stellen, ist grundsätzlich unbequem. Menschen nehmen so etwas möglicherweise dann eher auf sich, wenn sie entweder das Gefühl haben, dass sie mit der aktuellen Routine ihre Arbeit nicht gut genug machen können, oder wenn sie von dem, was "ihre Arbeit" eigentlich ist, eine vom Kerngeschäft des Betriebs abweichende Vorstellung hegen. Im letzteren Fall stellen sie z. B. das eigene Berufsbild, die eigene Einrichtung und auch den Sinn der eigenen Arbeit stärker in Frage als andere. So oder so begünstigt ein selbstkritisches Hinterfragen der eigenen Routinen und Annahmen die Bereitschaft, diese verändern zu wollen.
Durch Interviews haben Sie drei Selbstkritik-Typen unter Orchestermusiker*innen identifiziert, die sich auf die Einstellungen und die Bereitschaft zu Nachhaltigkeit auswirken. Welche sind das?
MR: Eine Mehrheit der 25 Mitarbeiter*innen eines deutschen Orchesters, die ich 2021 befragt habe, stellte die eigenen Berufspraktiken kaum in Frage - von der Ausbildung und dem Probespielen über Fragen des Repertoires und der orchesterinternen Organisation bis hin zum Verhältnis zum heimischen Publikum oder zum Gelingen des Kulturaustauschs bei Tourneen. Ich habe sie in der Veröffentlichung, die meine Kollegin Gina Emerson und ich 2023 dazu herausgebracht haben, die "Einverstandenen" genannt. Dann gab es eine sehr kleine Gruppe von Menschen, die sehr viel in Frage stellten - nicht im Sinne von Nörgelei, sondern eher von aktivem Darüber-Nachdenken, worin der Sinn jeweils liegt und ob es auch anders funktionieren könnte als jetzt. Ich habe sie die "Kritisch-Motivierten" genannt. Und dazwischen bewegte sich eine weder große noch kleine Gruppe von Menschen, die ebenfalls signifikant selbstkritischer waren als der Durchschnitt der Befragten, aber bei weitem nicht so sehr wie die kleine Speerspitze, von der ich gerade sprach; die nenne ich die "Aufmerksamen". Ganz wichtig anzumerken ist, dass weder die Aufmerksamen noch die Kritisch-Motivierten ihren Beruf, also das Musizieren im Orchester bzw. dessen Organisation, weniger stark affektiv besetzten als die Einverstandenen - die Kritisch-Motivierten waren sogar stärker emotional damit verbunden. Aber sie hatten eben auch viel auszusetzen.
Der interessante, m. E. nicht-triviale Befund ist nun, dass die Kritisch-Motivierten sich überdurchschnittlich stark für Klimawandel und andere sozialökologische Themen interessieren, sich im Alltag darüber informieren, politisch diskussionsfreudig sind usw. Und, noch genauer formuliert und noch wichtiger: Sie nehmen dabei stärker das in den Blick, was ich die 3G der Nachhaltigkeit nenne, nämlich globale Zusammenhänge, konkrete ökologische Grenzen sowie Gerechtigkeitsfragen. Die Aufmerksamen tun dies alles auch, aber nicht so intensiv. Ökologische Phänomene waren auch bei den Einverstandenen präsent, aber viel eher in Form von lokalen Verschlechterungen, ohne explizit zu machen, dass es planetare Grenzen oder gar Kipppunkte gibt, deren Erreichen oder Überschreiten eine ganz andere Qualität hat als etwa jene Umweltzerstörung, die wir in Europa schon vor 100 Jahren kannten. Gerechtigkeitsaspekte, also kritische Hinweise auf Ungleichheiten zwischen verschiedenen Teilen der Welt oder verschiedenen Generationen, tauchten bei den Kritisch-Motivierten und den Aufmerksamen immer wieder auf, bei den Einverstandenen hingegen kaum. Letztere brachten vor allem Trauer über Naturzerstörung allgemein zum Ausdruck und strichen einen pauschal gesamtgesellschaftlichen Wert des Orchestermusizierens heraus (ohne zu differenzieren, wem dieses aktuell zugutekommt). Die Kritisch-Motivierten haben ebenfalls einen starken Glauben an den gesellschaftlichen Auftrag von klassischer Musik, sehen darin aber auch eine klare Verantwortung in der Klimakrise. Das heißt für sie z. B., die ökologische Thematik stärker und kreativer in die Konzertsäle zu holen; extrem ressourcen- bzw. treibhausgasintensive Aktivitäten wie Orchesterflugreisen zu reduzieren; und die Ressourcen, die der Konzertbetrieb dennoch braucht, stärker in konkret gemeinschaftsbildende, inklusive Musizier- und Vermittlungspraktiken zu investieren. Die Aufmerksamen wiederum artikulieren zwar eine sozialökologische Verantwortung, beziehen diese aber weniger auf den Orchesterbetrieb als vielmehr auf eigene Rollen außerhalb des Orchesters - etwa als Elternteil oder private Verbraucherin.
Die Interviews haben Sie nur mit Mitarbeiter*innen eines Orchesters geführt. Lassen sich diese Typen auch auf andere Orchester oder Kultureinrichtungen übertragen?
MR: Ja, das ist eine Hypothese, die nur aus einer einzigen qualitativen Befragung entwickelt wurde. "Hypothese" heißt aber auch, dass ich an ihre Überprüf- und Übertragbarkeit glaube. Die Gründe, die mich vermuten lassen, dass diese Typen auf ein allgemeines Muster hinweisen könnten, liegen im sozialpsychologischen Bereich der Routinen und Veränderungsbereitschaft, von dem ich eingangs sprach. Nachhaltigkeit im Orchesterbereich wirklich ernst zu nehmen, stellt uns vor viele Fragen, die sich nicht nur mit dem Switchen zu LED-Beleuchtung im Konzertsaal oder mit Eintrittskarten als ÖPNV-Tickets beantworten lassen, sondern tief ins Berufsbild von Musiker*innen hineinreichen. Auch im anekdotischen Rückblick auf Erfahrungen aus vielen Organisationen, nicht nur im Kulturbereich, mit denen ich in zwanzig Jahren Berufsleben zu tun hatte, würde ich intuitiv bejahen, dass Menschen, die aufgeschlossen für transformative, also grundsätzliche Nachhaltigkeitsfragen sind, eher zu Selbstkritik als zu Selbstzufriedenheit neigen.
Neben der Neigung zur Selbstkritik, welche anderen Faktoren gibt es, die die Einstellungen zu Nachhaltigkeit beeinflussen können?
MR: Es gibt sicherlich etliche biografische und sozialstrukturelle Prägungen, die eine Rolle spielen. Menschen z. B. aus einfacheren Verhältnissen, die sich sehr anstrengen mussten, um in eine für sie mit Anerkennung verbundene Position zu belangen, könnten einen ausgeprägteren Sinn für Gerechtigkeitsfragen mitbringen - andererseits könnten sie aber auch den Status quo des Betriebes viel entschlossener verteidigen. Auf Grundlage der Studie, nach der Sie mich fragen, kann ich hierzu wenig Eindeutiges sagen. Ein relativ klarer Befund war, dass das Nachhaltigkeitsthema entgegen meiner Erwartung nicht die jüngsten Orchestermusiker*innen am stärksten bewegte - oft waren sie sogar besonders wenig informiert und interessiert. Sie hatten durch den langjährigen harten Wettbewerb eine Art "Tunnelblick" auf klassische Musik entwickelt und waren dann oft mit der Familiengründung beschäftigt. Ältere Musiker*innen waren oft nachdenklicher und offener für Grundsatzfragen, was angesichts ihres gesicherten Status und ihres insgesamt vielleicht weniger dynamischen Privatlebens gar nicht so sehr überrascht. Aber das müsste man durch größer angelegte Studien nochmals überprüfen. Was fraglos ist: Kritik am eigenen Metier öffentlich - und sei es auch nur betriebsöffentlich - zu äußern, verlangt einen gewissen Mut. Und dafür hilft Ermutigung dadurch, dass die Themen von der Leitungsebene offen angesprochen werden, allen voran von Chefdirigent*innen. Letzteres war in der Studie übrigens durchaus der Fall, was im Hinblick auf Nachhaltigkeit umstrittene Aspekte wie Orchesterflugreisen betrifft.
Es gibt also keine Leugnung der Notwendigkeit von Klimaschutzmaßnahmen in Orchestern, dennoch geht die Entwicklung nur bedingt voran. Woran liegt das Ihrer Meinung nach?
MR: Um das zu präzisieren: Leugnung gibt es zwar nicht, Abwehrmechanismen aber schon. Die Argumente sehen genauso aus wie bei Menschen in anderen Teilen der Gesellschaft auch: Ob ich selbst etwas ändere oder ob mein Betrieb, macht keinen wirklichen Unterschied; es bringt uns in einen Wettbewerbsnachteil; soll doch erstmal die Politik; wir haben dringlichere Aufgaben usw. Perfide finde ich ein für die staatlich finanzierte Orchestermusik mit ihrem "Kulturauftrag" spezifisches Argument, das zumindest implizit oft mitschwingt und dass meine Kollegin Gina Emerson auch bei einer Analyse u. a. von öffentlichen Deklarationen, Positionspapiere und Projektbeschreibungen von Orchestern, ausgemacht hat: dass man ohnehin schon nachhaltiger sei als andere, weil man mit dem Repertoire gewisse Ewigkeitswerte und symbolische Naturnähe pflege, sich dem Ex-und-Hopp der Konsumgesellschaft verweigere, eine multikulturelle Zusammensetzung vorweisen könne - und dass man nun noch mehr zum Vorbild werde, indem man ein paar betriebsökologische Maßnahmen durchführe. Extrem zugespitzt wird im Orchesterbereich zudem der für andere Teile der Gesellschaft ebenfalls prägende Leistungsgedanke: "Exzellentes" Musizieren ist ein Hochwert und wird vorwiegend an ausschließlich künstlerisch-handwerklichen Kriterien, an der Bestätigung durch Peers und überregionaler Anerkennung festgemacht. Das Wofür und Für-Wen der Musik sowie Fragen gesamtgesellschaftlicher Verantwortung verbleiben da meist in der zweiten Reihe.
Was lässt sich daraus für das Orchestermanagement (und vielleicht auch für andere Kulturbereiche) ableiten, um Nachhaltigkeit in der täglichen Arbeit zu verankern?
MR: Die Beantwortung dieser Frage würde ich lieber weiteren Experimenten der Kultureinrichtungen selbst vorbehalten. In dem vorhin erwähnten Projekt mit der KAP - aus dem die Interviews, über die wir geredet haben, übrigens nicht stammen - war eine wichtige Dimension für die Umsetzung von Nachhaltigkeit die Alltags-Identifikation der Beschäftigten mit der Institution. Man sollte meinen, dass Orchester mit Gesellschaftermodellen (wie die KAP), bei denen die Musiker*innen Mitinhaber*innen des Orchesters sind, da einen natürlichen Vorsprung haben. Den darf man jedoch, hat uns das Projekt gezeigt, nicht überschätzen. Für sie wie für Angestellten- oder Beamtenorchester gilt: Ein Engagement über den "Dienst" hinaus, wie es Nachhaltigkeit oft ist, verlangt die Erfahrung des Orchesters als lebendiges, auch über musikalisch-handwerkliche Fragen hinaus diskussionsfreudiges Umfeld. Da beißt sich natürlich die Katze in den Schwanz, denn um diese Erfahrung herzustellen, braucht es auch die Neigung der Menschen, sich entsprechend zu engagieren. Eventuell könnte das ein Thema schon bei der Rekrutierung sein, also nicht nur das exzellente Probespiel hinterm Vorhang als Kriterium zu berücksichtigen. Ich sage mal zugespitzt: Kritisch-motivierte und gesellschaftlich aufmerksame Künstler*innen sollte man unbedingt gezielt anwerben.
Dann braucht es aber auch den Willen und v. a. die Zeit, mit diesen Menschen Ideen zu entwickeln und umzusetzen. Hier kommen Fragen nach der Priorisierung "anderer" Projekte ins Spiel, insbesondere wenn diese Projekte nicht "on top" kommen sollen, es ggf. also auch um Entschleunigung und Arbeitsbelastung geht; bei letzterer gibt es co-benefits mit den Dimensionen der Qualität und der Mitarbeitergesundheit. Mit "anderen" Projekten meine ich z. B. neuartige Vermittlungsaktivitäten, regionale Kulturarbeit, ökomusikalische Weiterentwicklungen des Repertoires und überhaupt alles, was von mehr Austausch und Kooperation mit der Stadtgesellschaft lebt - gerade mit Menschen und Institutionen, die selbst Nachhaltigkeitsfragen auf dem Schirm haben. All dies muss letztlich strategisch von der Leitungsebene her so gemanagt werden, dass es Zeit und Geld dafür gibt und dass es wertgeschätzt wird. Selbstkritische und experimentierfreudige Mitarbeiter*innen als "change agents" sind dafür eine sicher notwendige, aber keinesfalls hinreichende Bedingung.
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