20.05.2020

Themenreihe Corona

Autor*in

Vincent Kresse
ist freier Theaterpädagoge aus Erfurt und Gründungsmitglied der GEHEIMEN DRAMATURGISCHEN GESELLSCHAFT.
Erfahrungsbericht zur Woche für nicht-infektiöse Begegnungsformate

Über Vermittlung und Gesprächsanstiftung im Digitalen

Über die Probleme des Kulturbetriebs in Zeiten des Lockdowns und Vor- und Nachteile von Theaterstreams wurde in den vergangenen Wochen häufig geschrieben. Aber wie gehen Kulturvermittler*innen und Gesprächsanstifter*innen mit der aktuellen Situation um? Darüber diskutierten Theaterschaffende in der "Woche für nicht-infektiöse Begegnungsformate".

Themenreihe Corona

Als GEHEIME DRAMATURGISCHE GESELLSCHAFT (GDG) arbeiten wir hauptsächlich auf Festivals und Tagungen, wobei wir Menschen miteinander ins Gespräch bringen möchten. Dabei  suchen wir größtmögliche Gleichberechtigung der Gesprächspartner*innen sowie Gespräche auch abseits von Aufführungen über Strukturen und Produktionsbedingungen. Mit dem Ausfall oder dem Verlegen dieser Veranstaltungen ins Digitale fallen aktuell jedoch besonders produktive Gespräche weg: die informellen an der Bar, beim Anstehen fürs Klo oder in der Raucher*innenecke. Denn gerade hier lernt man manchmal Menschen kennen, mit denen man sonst vielleicht nie gesprochen hätte und es entstehen oft intensive Gespräche über die Themen der Veranstaltung. Wie viele  andere Akteur*innen im Kulturbetrieb sahen wir uns daher mit der Frage konfrontiert, ob und wie wir Begegnungsformate, die ohne den direkten Kontakt auskommen, anbieten wollen und können. Um Antworten darauf zu finden, starteten wir vom 13. bis 19. April eine Woche für "Nicht-Infektiöse Begegnungsformate". Am Konzept und der Durchführung waren Anna Sophia Fritsche, Stephan Mahn, David Vogel, Tobias Gralke, Robert Ziesenis und ich, Vincent Kresse, beteiligt.

Da wir dieses Vorhaben kurzfristig planten und umsetzten, nutzen wir zur Bewerbung vor allem unsere eigenen Onlinekanäle wie unsere Website, unsere Facebook- und Instagramseite sowie einen eigens dafür angelegten Telegram-Kanal. Auf diesem hatten wir innerhalb weniger Tage bereits 150 Abonnent*innen, die über die einzelnen Angebote informiert werden wollten, und eine ähnliche Zahl an Interessierten und Zusagen in der Facebook-Veranstaltung. Zu den Teilnehmenden gehörten - ähnlich wie bei Theaterfestivals und -tagungen - Schauspieler*innen, Theaterpädagog*innen, Dramaturg*innen und anderen professionellen Theatermacher*innen. Zudem nahmen aber auch theaterinteressierte Schüler*innen teil, was wir auf unsere Arbeit auf Schultheaterfestivals zurückführen.
Neue Räume erfordern neue Herangehensweisen

Bevor wir unsere Woche planten, war uns bereits das grundlegendste Problem der Branche bewusst: Die digitalen Räume, die sich der Theaterbetrieb nun versucht zu erschließen, sind bereits besetzt. Streaming-Angebote gab es, bevor Theater diese (gezwungenermaßen) für sich entdeckten, Begegnungen finden in Chatrooms, Kommentarspalten, Foren etc. schon länger statt. Ebenso gibt es - gerade für den Film - verschiedene digitale Vermittlungsangebote wie "CinemaSins" oder "Now you see it" auf YouTube. Diese Anbieter*innen haben eine längere Erfahrung im Umgang mit den Teilnehmer*innen/Zuschauer*innen/Konsument*innen und größere Kenntnisse über technische oder auch rechtliche Anforderungen. Theater haben hier jedoch prinzipiell den Vorteil, keine komplett neuen Wege gehen zu müssen und sich an diesen Beispielen orientieren zu können. Dennoch müssen sie etwas Eigenes kreieren und sich bewusst sein, dass eine einfache Übertragung des Analogen ins Digitale nicht das Ziel sein kann. Denn für digitale Formate braucht es auch eine digitale Zielgruppe, deren Besonderheiten bei der Konzeption berücksichtig werden müssen.

Ein weiteres Problem betrifft die starken Hierarchien in digitalen Kommunikationsräumen: Moderator*innen können bei den meisten Videokonferenztools Teilnehmende stumm schalten, kicken oder in den Fokus rücken. Außerdem gibt es Zugangsschwellen durch Geräte und unterschiedliche Datenschutzbedürfnisse, sodass nicht jede*r Teilnehmende die Angebote wahrnehmen kann oder will.

Übersetzungen finden und neue Herangehensweisen ausprobieren

Mit diesem Problembewusstsein im Hinterkopf planten wir für unsere nicht-infektiöse Woche verschiedene digitale Formate, um Gespräche anzustiften, die wir bisher im Analogen auf Theaterfestivals erprobt haben. Das sind - auch wenn es real natürlich ineinander übergeht - Gespräche über Aufführungen, Gespräche über Arbeitsbedingungen und -strukturen und informelle Gespräche. Um diese auch im Digitalen stattfinden zu lassen, probierten wir beispielsweise wir ein virtuelles Lagerfeuer in einer Videokonferenz, ein Anonymes Auskotz-Telefon, ein Montagsmaler-Spiel via Chat oder eine Telegram-Gruppe zum gemeinsamen Tatort schauen.

So startete die Woche mit einem Theater-Stream-Angebot des Jungen Ensembles Stuttgart zur Produktion "Scream - Ein populistisches Mash-Up"  (Regie: Sascha Flocken). Für das Gesprächsformat schauten wir die Theatershow gemeinsam mit 35 Zuschauer*innen aus ganz Deutschland in einem Zoom-Raum, wobei auch Mitglieder des Produktionsteams und ein Vertreter von "Kleiner Fünf", einer Gruppe die sich mit radikaler Höflichkeit gegen Rechtspopulismus wendet, anwesend waren. Das Besondere: Anders als es bei analogen Aufführungen fand das Gespräch nicht als Einführung oder Nachgespräch statt, sondern im Chat parallel zum Livestream. Das Publikum (in unterschiedlichen Zuschausituationen von Schreibtisch über Bett bis hin zum Auto auf dem Parkplatz) hatte außerdem die Möglichkeit, im Chat ein "Time-Out" zu fordern, um beispielsweise für fünf Minuten eine Frage zu besprechen oder damit sich alle ein neues Getränk holen konnten. Dafür mussten mindestens vier  weitere Personen dieses Gesuch im Chat mit "Plus 1" unterstützen. Danach wurde der Stream angehalten und die Person, die das "Time out" gefordert hat, gefragt, wofür die nun freien fünf Minuten verwendet werden sollten. Außerdem konnten fünf zufällig ausgewählte Teilnehmer*innen mit einem Joker beispielsweise Probenanekdoten vom Ensemble oder eine Rechtspopulismus-Defintion von "Kleiner Fünf" einfordern. Diese Art des Gesprächs wäre in der normalen Vorstellungssituation nur schwerlich umzusetzen, machte aber hier für die Teilnehmenden ein besonders analytisches Schauen möglich. Das funktionierte besonders mit dem anwesenden, vorgebildeten und interessierten Publikum gut. Gerade aber auch die Möglichkeit, direkt nachzufragen oder mit Jokern auch spielerische Momente einzubauen, machen das Format auch für die Arbeit mit Schüler*innen interessant. Dabei ermöglicht die Unterbrechungsoption für beide Seiten genauere Einblicke. Jugendliche können direkt diskutieren oder nachfragen, wenn das Bedürfnis besteht und das Produktionsteam erfährt, woran das Zielpublikum hängen bleibt. Für das Gelingen eines solchen Formats ist es wichtig, dass beide Seiten Interesse an dem Austausch haben und das Gegenüber ernst nehmen.

Die zweite Theaterproduktion der Woche war "[un]limited traces", eine Produktion des Kollektivs system rhizoma. Da die Premiere des Stücks aufgrund der Pandemie-Bestimmungen nicht analog stattfinden konnte, wurde sie via Livestream ausgestrahlt. Dabei redeten die Künstler*innen über ihren Probenprozess, stießen mit dem Publikum an und zeigten die ihnen live zugesandten Zuschau-Settings, also die Sofas oder Schreibtische ihres Publikums. Durch derartige Interaktionen und den Live-Moment gelang es, das Gefühl zu vermitteln, in diesem Augenblick Teil eines Publikums zu sein und ein gemeinsames Theater-Erlebnis hervorzubringen. Höhepunkt war die Präsentation eines Videos, für das system rhizoma während ihres Probenprozesses verschiedenen Teilnehmer*innen in ganz Deutschland grafische Tanz-Partituren zugesandt hatten. Diese hatten dazu Videos aufgenommen, aus denen dann erst im Zusammenschnitt die Gesamtchoreographie sichtbar wurde. Zu diesem Gesamterlebnis boten wir einen Spaziergang via Telefon als Nachgespräch an. Dazu konnten sich die knapp 30 Teilnehmenden vor und während der Premiere per SMS anmelden und wurden einander paarweise zugelost, um anschließend miteinander über das Erlebte zu telefonieren. Impulsfragen zur Inspiration bekamen sie dabei kurz vor Ende der Online-Premiere, z.B. "Hast du dich heute Abend als Teil eines Publikums gefühlt?" oder "Wo hättest du die Choreografie getanzt?". Ein Schüler telefonierte mit einer Schauspielerin, ein freier Theatermacher mit einem Lehrer für darstellendes Spiel, zwei Theaterpädagoginnen miteinander. Aufgrund einer ungeraden Anmeldungszahl konnte auch ich mitdiskutieren. Die Teilnehmenden kamen aus ganz Deutschland und hätten sich aufgrund der unterschiedlichsten Professionen auch mit Tagungen und Festivals vermutlich nie kennengelernt.

Wichtig ist uns bei diesen informellen Gespräche neben dem generellen "ins Gespräch-Kommen", die dort besprochenen Inhalte auch den Künstler*innen und anderen Teilnehmenden zugänglich zu machen. Deshalb bekamen die telefonierenden Teilnehmenden die Aufgabe, ihren Weg und das Gespräch analog zur Bewegungs-Partitur in der Produktion als Skizze festzuhalten und uns (per Mail) und den Künstler*innen (per Post) zu schicken. Dies stellt auch im Analogen unter Normalbedingungen oft eine Schwelle da, in der aktuellen Situation ist diese durch den Medienwechsel und das Verschicken noch höher. Trotz dieser Schwierigkeiten erhielten wir von 75% der Teilnehmenden eine Skizze zurück, die es anderen möglich machte, Gespräche nachzuvollziehen.

Diese Gesprächsform erwies sich auch bei der zweiten Durchführung während unserer nicht-infektiösen Woche als bestes Begegnungsformat, wenngleich viele der Teilenehmenden dabei am Anfang unsicher waren. Wer ruft mich an und worüber sollen wir reden? Aber dann entstanden Gespräche, die teilweise über eine Stunde dauerten. Es ging um Unsicherheiten in der aktuellen Situation, Ideen, wie Theater gerade funktionieren kann oder das Entdecken von Parallelen in den verschiedenen Arbeitsbereichen. Vor allem aber war es schön, einmal jemand Neuen kennen zu lernen und tiefgehende Gespräche zu führen, die sonst vielleicht nur am Lagerfeuer entstehen.

Digitale Formate hinterfragen und verstehen

Wir achten immer darauf, nicht nur über Ergebnisse, sondern auch über strukturelle Themen der Kunstproduktion zu sprechen. Dies ist gerade angesichts der aktuellen Herausforderungen wichtig und spannend. In der "Woche für nicht-infektiöse Begegnungsformate" nahmen wir daher einen ersten Podcast auf, welcher auch weiterhin zu hören ist. Thema war "Sinn und Unsinn von digitalen Theater-Angeboten". Josephine Hock und David Vogel von der GDG unterhielten sich dazu mit Malte Andritter vom Jungen Volkstheater Wien. Podcasts bringen - als Teil einer Digitalkultur, in die wir uns gerade einfinden (wollen und müssen) - einiges an Konventionen mit, die uns vor der Aufnahme auch nur teilweise bewusst waren. Während wir in unserer Arbeit außerhalb des digitalen Raums viel Wert auf offene und oft eher informelle Gespräche legen, wollten wir auch beim Podcastgespräch vermeiden, in ein referierendes Podiumsdiskussions-Sprechen zu geraten. Durch kleine Spiel-Formate lockerten wir dabei die Situation. So wurden beispielsweise "Fünf Dinge, die einen im Berufsalltag beschäftigen" aufgezählt und sich für "Netflix oder Theaterstream" entschieden. Für weitere Ausgaben ist aber spannend, noch stärker darauf zu achten, wie "Küchentisch-Gesprächsatmosphäre" für einen Podcast aufbereitet werden kann. Dabei müssen wir uns auch fragen, welche unserer analogen Formate sich übersetzen lassen und wie die Hierarchie zwischen Produzierenden und Hörenden aufgelockert werden kann.

Eines unserer analogen Formate, das wir für die Woche auf Zoom übersetzten, war eine Preisverleihung als Rückblickshow, die wir sonst manchmal auf Festivals anbieten. Während der gesamten Zeit kann das Publikum dabei verschiedene Kategorien vorschlagen, die dann von uns auf einer Bühne gezogen werden und (in maximal fünf Minuten) mit einem Preis ausgezeichnet werden. In der Zoom-Preisverleihung wurden dazu Selbstinszenierungsstrategien von Theatern in den sozialen Medien in Zeiten von Corona ausgezeichnet. Ziel war es, in einem unterhaltsamen Format über das "Wie?" und "Warum?" der aktuellen Social Media-Strategien der deutschen Theater ins Gespräch zu kommen. In einem Vorab-Interview mit den Preisrichter*innen der GDG erklärte die ÖA-Expertin Ruth Hundsdoerfer, wie gute Öffentlichkeitsarbeit in Zeiten der Krise eigentlich aussehen kann. Wie im Format zu "scream" wurden wieder Joker verteilt, wodurch Ruth Hundsdoerfer im Verlauf des Abends die fünf Regeln zum Verfassen eines gelungenen Social Media-Posts in Zeiten von Corona offenbarte:
 
1. Frage dich: Warum will ich das machen?
2. Frage dich: Für wen?
3. Halt es kurz!
4. Finde gutes visuelles Material dazu. Und das gerne auch im richtigen Format für deine Plattform.
5. Leichtigkeit trotz Krise.
 
Die Preisverleihung selbst fand in acht Kategorien statt, wobei die nominierten Beiträge von den Preisrichter*innen nur beschrieben und dem Publikum nicht als Posts oder Videos gezeigt wurden. Dieses konnte jedoch parallel dazu im Chat parallel mitdiskutieren (ohne dass dies einen Einfluss auf die Preise hatte). Preise gingen dann unter anderem an ein Video des stellwerk weimar, in dem im Splitscreen, mit Objekten und Gebärdensprache ein Märchen erzählt wurde (Preis "Das Video würde ich mir nocheinmal ansehen") sowie an das Theater Dortmund für #knallerballerweg (Preis für den ausgefallensten Hashtag). Die Kombination aus Unterhaltung und diskursiver Diskussion funktionierte - vermutlich auch gerade deshalb - weil man den Theatern in den sozialen Medien gerade kaum aus dem Weg gehen kann und so unweigerlich eine Haltung zu deren geposteten Inhalten entwickelt.

Eine interessante Beobachtung gab es nach dem Ende der Preisverleihung: Das Publikum schwieg sich zunächst eine Weile an, nachdem die Moderator*innen den Raum verlassen hatten, um Platz für Diskussionen zu machen, bis jemand die Initiative ergriff und vorschlug, die beschriebenen Videos jetzt gemeinsam zu schauen. In analogen Räumen reichen bereitgestellte Sitzgelegenheiten oder Aschenbecher meistens aus, um weiterführende Gespräche anzustiften. Digitale Räume brauchen demnach - auch weil wir es so gewohnt sind - stärkere Vorgaben, um benutzt zu werden. Diese Beobachtung konnten wir während der Woche häufiger machen. Und während Gesprächsräume, die wir auf Festivals eröffnen, sonst auch für eigene (und nicht vorhergesehene) Zwecke genutzt werden, passierte eine solche Umnutzung in der gesamten Woche nur ein einziges Mal. Dabei wurde ein Gesprächsraum zum Wochenabschluss als Chat zu einem digitalen Montagsmaler-Spiel genutzt.

Fazit

Die "Woche für nicht-infektiöse Begegungsformate" erfüllte aktuelle Bedürfnisse und war für uns ein produktives Experiment zur Vermittlung in der aktuellen Situation. Als Fazit ziehe ich vier Dinge aus der Woche:
 
1. Wir sollten uns auf das Besinnen, was unsere Kernkompetenz ist und uns damit als Angebot neben bereits bestehenden positionieren und nicht versuchen diese zu imitieren oder zu ersetzen.
2. Es ist wichtig Zugangsschwellen mitzudenken und möglichst weit zu senken. So konnte man bei allen Telefonformaten auch angeben, dass man angerufen werden wollte, weil man keine Flatrate hatte.
3. Spannende digitale Angebote entstehen aus einem eigenen Interesse und nicht, weil das Gefühl besteht, "etwas tun zu müssen".
4. Digitale Angebote ermöglichen eine breitere Zielgruppenansprache (regional und alterstechnisch).
 
Wir werden demnach weiter an diesen Formaten arbeiten. Entsprechende Termine finden sich auf unserer Website. Denn so lange Kultur im Digitalen stattfindet, wird es hier weiterhin ein Bedürfnis nach Austausch und Gesprächen geben - auch nach dem coronabedingten "physical distancing".

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