11.06.2021
Themenreihe Corona
Autor*in
Steffi Bergmann
ist Kommunikationswissenschaftlerin und Systemische Beraterin/ Mediatorin. Sie arbeitet seit über 20 Jahren als Projektleiterin und Veränderungsmanagerin im Themenspektrum Demokratieförderung.
Positive Energie in die Zukunft investieren
Ein Kinder- und Jugendschutzkonzept für den Friedrichstadt-Palast Berlin
Seit Beginn der Pandemie finden die Trainings des Jungen Ensembles des Friedrichstadt-Palastes Berlin in ZOOM-Meetings statt. Darüber hinaus nutzte der Friedrichstadt-Palast die Pandemie, um Schutzkonzepte zu entwickeln und damit das Wohlergehen des gesamten Teams in den Mittelpunkt zu rücken.
Themenreihe Corona
Der Friedrichstadt-Palast unterhält das größte Kinder- und Jugendensemble Europas, dessen Anfänge bis Herbst 1945 zurückreichen. Rund 260 Berliner Kinder aus über 20 Nationen und im Alter von sechs bis 16 Jahren erhalten hier aktuell eine Bühnenausbildung. Jedes Jahr bewerben sich hunderte Kinder, aber nur 20 bis 30 können angenommen werden. Unter dem Motto "Kinder spielen für Kinder” stehen sie jeden Winter auf der großen Bühne und zeigen in der Youth Show ihr Können. Unter der Anleitung erfahrener Jugendpädagog:innen werden die Kinder und Jugendlichen nach Begabung in den Bühnendisziplinen Tanz, Gesang und Schauspiel ausgebildet.
Dabei lernen sie, dass Theater eine Teamleistung ist. Hartes Training, Proben, Korrekturen und viel Disziplin gehören dazu. Was im Analogen mitunter Hürden mit sich bringt, birgt im Digitalen weitere Herausforderungen: "Training auf Zoom? Da ist viel Motivationsarbeit zu leisten", erzählt Tinka Tarelkin, Direktorin des jungen Ensembles. Sie versucht mit allen Mitteln, das Team und die Gruppen zusammenzuhalten. Sie hat für alle Anliegen ein offenes Ohr, nimmt sich Zeit und motiviert. "Natürlich haben auch die Eltern 1.000 Fragen und bangen, dass der Palast bald wieder öffnen kann." Die Trainingseinheiten werden mit viel Herz und Humor durchgeführt. Das oberste Ziel, die persönliche Ansprache, darf trotz digitalem Miteinander nicht abbrechen. Um die positive Energie in die Zukunft zu investieren, erarbeitet derzeit eine Arbeitsgruppe ein umfassendes Kinder- und Jugendschutzkonzept für die Mitglieder des Ensembles.
Der Fokus aller Ensemblemitglieder liegt auf dem Wohlergehen der Kinder. Natürlich gibt es bei Ängsten oder Streitigkeiten eingespielte Mechanismen, die für Klärung sorgen, dennoch sollte das Vorgehen regelmäßig überprüft und verschriftlicht werden, damit auch neue Mitarbeitende oder Eltern wissen, was im Konfliktfall zu tun ist.
Die Erstellung des Kinder- und Jugendschutzkonzeptes wird im Zuge der "Dialog:Werkstatt - Für einen respektvollen Umgang" angegangen. Der Beteiligungsprozess der Mitarbeitenden begann 2020 auf persönlichen Wunsch und mit entsprechender Mittelfreigabe des Intendanten Dr. Berndt Schmidt und befasst sich für das Gesamtensemble des Palastes mit Themen der Diversität, des Sexismus, Rassismus und Machtmissbrauchs. "Es ist nicht so, dass es Vorfälle im jungen Ensemble gibt, die dringend bearbeitet werden müssen, sondern wir nehmen uns die Zeit, gemeinsam unser Vorgehen bei Vorfällen anzuschauen und zu prüfen, an welchen Stellen wir noch besser werden können. Das Wohl der Kinder und Jugendlichen steht für uns alle an erster Stelle", so Sophie Relitz, Assistentin des künstlerischen Betriebs junges Ensemble.
Warum braucht es ein Kinder- und Jugendschutzkonzept in einem Ensemble?
Kinder- und Jugendschutz geht alle an, und bei allen Aktivitäten des Palastes steht das Wohl des Kindes über allen anderen Interessen und Aufträgen.
Bundeskinderschutzgesetz: §8b SGB VIII - Fachliche Beratung und Begleitung zum Schutz von Kindern und Jugendlichen:
(1) Personen, die beruflich in Kontakt zu Kindern und Jugendlichen stehen, haben bei der Einschätzung einer Kindeswohlgefährdung im Einzelfall gegenüber dem örtlichen Träger der Jugendhilfe Anspruch auf Beratung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft.
(2) Träger von Einrichtungen, in denen sich Kinder und Jugendliche ganztägig oder für einen Teil des Tages aufhalten oder in denen sie Unterkunft erhalten, und die zuständigen Leistungsträger haben gegenüber dem überörtlichen Träger der Jugendhilfe Anspruch auf Beratung bei der Entwicklung und Anwendung fachlicher Handlungsleitlinien zur Sicherung des Kindeswohls und zum Schutz vor Gewalt sowie zu Verfahren der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an strukturellen Entscheidungen in der Einrichtung sowie zu Beschwerdeverfahren in persönlichen Angelegenheiten.
Alle Mitarbeitenden des Theaters haben einen Schutzauftrag für die im Ensemble mitwirkenden Kinder und Jugendlichen, egal, wo sie des Schutzes bedürfen und wo ihr Wohl gefährdet ist: zu Hause, in der Schule, von anderen Kindern oder Jugendlichen oder im Training. Um dem Schutzauftrag gerecht zu werden, ist ein Schutzkonzept mit klaren Maßnahmen und Verfahren ein Baustein.
Welche Bestandteile hat ein Kinder- und Jugendschutzkonzept?
Wer ein Kinder- und Jugendschutzkonzept aufsetzen oder aktualisieren will, findet in der Fachliteratur folgende Bausteine und Instrumente:
- Leitbild
- Erweitertes Führungszeugnis
- Fortbildungen für Mitarbeitende
- Partizipation von Kindern und Jugendlichen
- Informationsveranstaltungen für Eltern, Honorarkräfte, Mitarbeitende
- Beschwerdeverfahren bei Vorwürfen
- Verhaltensregeln im Verdachtsfall - Notfallplan
- Verfahrensregeln zum Umgang mit verletzten Kindern und Jugendlichen
- Sexuelle Übergriffe von Kindern und Jugendlichen untereinander
- Notfallnummern für den Krisenmoment
- Kooperation mit externen Fachberatungsstellen und Jugendamt
In der Praxis müssen diese mit Leben gefüllt werden. Doch welche Instrumente passen zum jungen Ensemble? Was hat sich bewährt? Was können wir ausbauen? Beispielhaft möchte ich auf einige Bausteine kurz eingehen.
Erweitertes Führungszeugnis: Das Bundeskinderschutzgesetz sieht vor, dass jede Person, die beruflich mit Kindern und Jugendlichen arbeitet, dem jeweiligen Arbeitgeber einen Einblick ins erweiterte Führungszeugnis gibt. Viele Organisationen haben damit positive Erfahrungen gemacht, da die Mitarbeitenden sowie die Eltern das Arbeitsfeld als geschützt wahrnehmen und die Einsichtnahme potenzielle Täter:innen abschreckt. Auch die Trainer:innen und Mitarbeitenden des jungen Ensembles sagten für die regelmäßige Einsicht zu.
Wenngleich das erweiterte Führungszeugnis ein unabdingbares Qualitätskriterium in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen ist, muss es Hand in Hand mit einem Verhaltenskodex gehen, um den Schutzauftrag zu gewährleisten. Der Verhaltenskodex des Palastes wurde um den Fokus des Kinder- und Jugendschutzes überarbeitet und am 23.02.2021 verabschiedet.
Mitarbeitendenschulungen im Palast: Rund 20 Prozent aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland erfahren in ihrem Leben sexualisierte Gewalt. Dabei geht es um unangemessene Berührungen, sexuell motivierte Annäherungsversuche bis hin zu Missbrauch. Sexualisierte Gewalt kann überall geschehen, wo Kinder und Jugendliche betreut werden. Den Schutz von Kindern und Jugendlichen vor sexualisierter Gewalt weiter zu verbessern, bleibt eine gesamtgesellschaftliche Daueraufgabe.
Kinder und Jugendlichen des jungen Ensembles haben Kontakt mit verschiedenen Mitarbeitenden des Palasts. Zur Sensibilisierung und allgemeinen Handlungssicherheit sind nach in Krafttreten des Kinder- und Jugendschutzkonzeptes Schulungen für alle Mitarbeitenden des Palastes geplant. Ein Schutzkonzept soll nicht einschüchtern, sondern Sicherheit für alle Seiten bieten. Die Sensibilisierung zu sexualisierter Gewalt als Form von Machtmissbrauch wird ein Baustein in den geplanten Weiterbildungen für das Team des jungen Ensembles und folgend für die Mitarbeitenden des Palastes sein.
Informationsveranstaltungen und Elternarbeit: Bei rund 260 Kindern und Jugendlichen sind über 300 Eltern und Familienmitglieder im Hintergrund aktiv. Sie fördern ihre Kinder, fahren sie zum Training, usw. Wie steht es da um den Informationsfluss und die Mitsprache bei eingeschränkten Kontaktmöglichkeiten?
"Auch mit den Eltern stehen wir in Kontakt, aber nicht mehr persönlich vor Ort, sondern im virtuellen Raum. Das ist für uns Alle Neuland", so Tinka Tarelkin. "Bisher lief der Informationsfluss via E-Mail und vor Ort, vor den Proben. Heute gibt es ZOOM Termine. Ich hätte gern eine Onlineplattform, auf die wir alle aktuellen Informationen, Lehrvideos und Motivierendes legen könnten und die Eltern greifen zu, wenn es ihnen zeitlich passt. Wir bekommen nicht mehr alle unter einen Hut." Eine solche Onlineplattform muss aufgesetzt und finanziert werden. Das Team hofft daher, Fördergelder akquirieren zu können, sobald es wieder mehr Luft hat.
Partizipation: Die Kinder und Jugendlichen trainieren nach Altersgruppen, wobei - wie überall, wo Menschen zusammenkommen - Konflikte nicht auszuschließen sind. Bisher fanden in allen Gruppen regelmäßige Gruppengespräche zum Miteinander statt. Das soll beibehalten werden. Aus einem kleinen Streit können im Laufe der Zeit Konflikte erwachsen, die bei Nicht-Bearbeitung auf die Gruppe und jedes einzelne Kind Auswirkungen haben können. Schnelles Handeln ist gefragt. Ein Kummerkasten bekam eher selten Post, soll aber hängen bleiben, denn jedes Instrument hat seine Berechtigung.
Ausblick
Unterstützt wurde das junge Ensemble bei der Konzeptarbeit von Mitarbeiterinnen des Deutschen Kinderschutzbundes LV Berlin e.V. und Wildwasser e.V. Auch an dieser Stelle Danke dafür!
Die erste Fassung des Kinder- und Jugendschutzkonzeptes schrieb das Team des jungen Ensembles in Eigenregie, bevor es zur Endredaktion und Freigabe an den Intendanten ging. Die Inkraftsetzung durch ihn erfolgte im April 2021 und ist verbunden mit ausführlicher Informationsarbeit bei den Beschäftigten des Palastes sowie den Eltern der Kinder und Jugendlichen. "Der Erarbeitungsprozess war geprägt von Recherche, vielen Gesprächen, Diskussionen und Schreiben. Der Austausch und der Einigungsprozess zu den einzelnen Bausteinen hat uns als Team noch mehr zusammengeschweißt.", beschreibt Tinka Tarelkin ihre Erfahrung.
Dieser Beitrag erschien zuerst im Kultur Management Network Magazin "Kinder an die Macht"
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