19.11.2021

Autor*in

Johannes Hemminger
studierte Philosophie sowie Neuere und Neueste Geschichte in Tübingen und arbeitete danach im Marketing, Community Management und Projektmanagement in der Videospielbranche. Von 2021 bis 2023 war er Redakteur bei Kultur Management Network.
Kristin Oswald
leitet die Online-Redaktion von Kultur Management Network. Sie studierte Geschichte und Archäologie in Jena und Rom sowie Social Media-Marketing in Berlin. Sie ist freiberuflich in der Wissenschaftskommunikation und im Museumsmarketing mit Schwerpunkt online tätig.
Rückblick Tagung „Digitale Besucher*innen im Fokus“

Wer bin ich und wenn ja, wie viele?

Wann zählen User*innen als digitale Kulturbesucher*in? Kann man überhaupt digitale Besucher*innen zählen oder nur digitale Besuche? Und wie bereitet man solche Zahlen am besten auf? Während der Tagung "Digitale Besucher*innen im Fokus" ging es nicht nur um das Messen, sondern um Unsicherheit, eine Menge guten Willen und offene Fragen.
QR-Code in der Ausstellung gescannt, auf Facebook gefolgt und mindestens 3 Minuten auf der Webseite verbracht. Bin ich drei unterschiedliche Besucher*innen oder doch nur eine*r? Schon dieses einfache Beispiel macht deutlich, warum digitale Kulturbesucher*innen ein komplexes Thema sind, das sich aufgrund der verschiedenen digitalen Kanäle und Nutzungsweisen deutlich schwieriger erfassen und verstehen lässt als die analogen Besucher*innen. Voraussetzung dafür ist, dass Kultureinrichtungen digitale überhaupt als Besucher*innen wahr- und ernstnehmen, doch das ist noch immer nicht selbstverständlich. 
 
Auf Einladung des Badischen Landesmuseums und des Landesmuseums Württemberg kamen am 2. November 2021 während der Online-Tagung "Digitale Besucher*innen im Fokus" Vertreter*innen der deutschen Museumslandschaft zusammen. Im Rahmen der eintägigen Veranstaltung gaben am Vormittag drei Keynotes Ein- und Ausblicke auf Gegenwart und Zukunft des digitalen Museumsbesuchs. Am Nachmittag boten sechs Workshops Einblicke in den Umgang verschiedener Institutionen mit ihren digitalen Besucher*innen - darunter auch aus den Bereichen Journalismus und Orchester.
 
Man kann sich freuen: Grundfrage der Veranstaltung war nicht, ob digitale Besuche, online-Angebote und ähnliches wichtig, nötig oder gar wünschenswert seien. Vielmehr wurde erörtert, wie man mit der digitalen Realität der Gegenwart umgeht, wie man misst und bewertet, was es gibt. 
 
Immer dem Polarstern folgen
 
Gleich die erste Keynote von Sabine Jäger (ZKM) und Dominika Szope (Kulturamt Karlsruhe) traf offenbar einen Nerv: Wie misst man digitale Besuche und was macht man mit den Messdaten? Sie plädierten dafür, eine North Star Metric zu identifizieren, einen Fixstern im endlosen Datenhimmel, der als Orientierungspunkt und Messlatte dienen kann. Denn digitale Analysetools liefern potenziell endlos viele verschiedene Daten, die man nicht alle auswerten kann. Deshalb sollten sich Kultureinrichtungen überlegen, was genau sie messen wollen - das wäre der Fixstern - und welche Daten sie hier für aussagekräftige Ergebnisse benötigen. Ein Beispiel wäre Besuchszufriedenheit, wobei zugehörige Daten Besuchsdauer, Besuchshäufigkeit und die Zahl der besuchten Seiten sein könnten. Dabei wird klar, dass es bei diesen Fragen um mehr als nur um den richtigen Umgang mit Statistik geht. Die Präsentation sorgte für viel Begeisterung und der Ansatz wurde von vielen Teilnehmer*innen als vorbildlich wahrgenommen. Das ist er für den Kulturbereich auch, gerade im Vergleich zu kleinen Organisationen oder solchen Häusern, die noch ganz am Anfang ihrer digitalen Aktivitäten stehen. 
 
Doch aus Perspektive des außerkulturellen Status quo von Online-Marketing und -Monitoring zeigen sich große Unterschiede. So fiel zwar über die ganze Tagung hinweg von Zeit zu Zeit ein Wörtchen aus dem Marketing- und Data Science-Jargon. Viele der Referent*innen griffen aber zu tradierten Raum- und Besuchskonzepten, um digitale Besucher*innen zu beschreiben. Sprachästhetisch ist das sicherlich ein Gewinn. Aber diese sprachliche Distanz weist auch auf einen gedanklichen Abstand hin: Trotz des Vorbildcharakters der Beispiele blieb der Eindruck, als sei das Museum mit seinen digitalen Angeboten abgelöst - und auch ein wenig abgehängt - vom Rest der weitgehend vollständig und selbstverständlich digitalisieren Welt.
 
Diese defensiv-erkundende Haltung ist nicht überraschend, werden ein digital mindset und entsprechende Berichte doch auch von Seiten der Kulturpolitik und der Träger eher nicht eingefordert, wie die Tagung ebenfalls verdeutlichte. Entsprechend herrschen Unsicherheit, aber auch der Wunsch und die Neugier, Lösungen beispielsweise zu der Vergleichbarkeit analoger und digitaler Besuche zu finden. Dass ein reiner Serviceaufruf auf der Webseite, um beispielsweise Öffnungszeiten nachzuschauen, etwas anderes ist als die Teilnahme an einem Online-Rundgang und wieder etwas anderes als das Scannen eines QR-Codes in der Ausstellung, erscheint dabei klar.
 
Das Verhältnis von digital zu analog
 
Je ein deutscher und ein österreichischer Ansatz zur Zählung digitaler Besuche wurden am Nachmittag von Ruth Rosenberger (Stiftung Haus der Geschichte (D)) und Kathrin Grotz (Institut für Museumsforschung (AT)) diskutiert. Ruth Rosenberger plädierte dafür, zuerst einmal alles zu zählen, sich aber der Differenzen in den Daten bewusst zu sein. So zählt die Stiftung beispielsweise Abonnements von Social-Media-Accounts monatlich als digitalen Besuch und erreicht in Summe eine beeindruckende Zahl von 1,3 Mio Besuchen pro Monat. Selbstverständlich wurde aber klargestellt, dass das Folgen auf Instagram einen anderen Charakter und Wert hat als beispielweise ein ausgiebiger Besuch einer digitalen Ausstellung. Die Summe kann also gut als Kennzahl dienen, für eine detaillierte Analyse muss sie aber weiter aufgeschlüsselt werden, da sehr unterschiedliche Besuchstypen zusammengefasst werden.
 
Die von einer Arbeitsgemeinschaft des Museumsbund Österreich entwickelte Vorlage für die Zählung digitaler Besucher*innen, die in einem weiteren Workshop erörtert wurde, folgt dagegen einem anderen Ansatz. Damit wird nicht jeder Klick oder Aufruf gezählt, sondern es werden einzelne zu zählende Kategorien aufgeschlüsselt, andere wie der schwer definierbare Besuch einer Online-Ausstellung hingegen ausgeklammert. Gerade letzterer Umstand sorgte im Workshop auch für viele Nachfragen. Die Arbeitsgruppe begründet diese Entscheidung damit, dass manche digitalen Formate schlicht einfacher gemessen und bewertet werden können als andere. Entsprechend handelt es sich bei der Vorlage um einen ersten Versuch eines Minimalkonsens, um überhaupt erst einmal eine Empfehlung an die Museen abgeben zu können.
 
In der Zusammenschau beider Workshops ist dabei gut zu erkennen, dass Daten stets nur mit Kontext und Interpretation sinnvoll sind. Die Stiftung Haus der Geschichte hat natürlich ein Interesse daran, eine schöne Kennzahl zu erheben, die sich gut präsentieren lässt und die als Antwort auf die Frage dienen kann, ob die Online-Angebote denn Zuspruch finden. Mit einer einzelnen Kennzahl lässt sich gegenüber Gremien und in Pressemitteilungen leichter operieren als mit einer differenzierten statistischen Aufschlüsselung. Der Museumsbund Österreich dagegen muss Einschränkungen in der Zählung empfehlen, um eine Vergleichbarkeit zwischen den verschiedenen Häuser mit ihren unterschiedlichen digitalen Angeboten zu schaffen. 
 
Alles gute Ansätze, aber ein Aspekt wurde (zu) selten klar herausgearbeitet: der Zweck der Datenerhebung selbst. Welche Daten werden wofür gebraucht? Wie kann man abstrakte Konzepte wie Zufriedenheit oder Mehrwert digital messbar machen? Was will man mit den digitalen Angeboten erreichen? Und wie geht man dann mit den Daten um, was folgt daraus? Nur auf dieser Basis kann entwickelt werden, welche Messungen sinnvoll wären und wie eine Interpretation aussehen könnte. Spitz formuliert: Eine lange Verweildauer im Online-Ticketverkauf könnte eine schlechte Benutzerführung bedeuten, während ein langer Besuch in der Online-Ausstellung dafür spräche, dass dort interessante Inhalte geboten werden. Vergleichbar ist dies mit den mehrfach genannten Besucher*innen, die nur schnell im Museum die Toilette benutzen, und denjenigen, die auch eine Karte kaufen. 
Ein Wert für sich

Die Analogie zeigt, dass auch in der Zählung analoger Besuche Unterschiede und Feinheiten existieren, die ebenfalls kaum gemessen werden. Und sie weist auf die Tendenz hin, digitale und analoge Besuche aufeinander zu beziehen. So wurde beispielsweise von Dominika Szope gleich zu Beginn dargelegt, dass ein digitaler Besuch nicht mit dem analogen gleichzusetzen ist. Die entscheidende Frage ist aber, was das bedeutet: Welchen Mehrwert haben die verschiedenen Besuchsformen für die Besucher*innen? Welche ihrer Aufgaben erfüllen die Häuser damit? Und in welche Bereiche sollten also Zeit und Ressourcen investiert werden? Diese Fragen wurden zwar angeschnitten, konnten aber im Rahmen der Tagung schon aus Zeitgründen nicht beantwortet werden.

Ein internationaler Ansatz wurde von John Stack in seiner Keynote präsentiert. Als Digital Director der britischen Science Museum Group gab er Einblicke in eine Vielzahl unterschiedlicher Projekte, von der serviceorientierten Webseite über Ressourcen für Lehrpersonen bis zum Blick hinter die Kulissen eines Museums über Blogs. Hier konnte man viel Inspiration und Mut tanken, aber das entscheidende war wohl, dass klar benannt wurde, woran sich die fünf Wissenschaftsmuseen orientieren: audience reach und audience impact.

Bei der reach werden verschiedene thematische Areale der digitalen Angebote getrennt betrachtet und erst nachträglich zu einer digitalen Gesamtreichweite addiert. Beispielhaft für die Analyse der Daten führte John Stack dazu aus, dass bei den Besuchszahlen der Inhaltsbereiche der Webseite monatliche und jährliche Zahlen verglichen werden. Denn die Museen haben festgestellt, dass die Aufrufe dieser Bereiche dem akademischen Jahreszyklus folgen. So gibt es etwa weniger Aktivität während der Sommerpausen, dafür aber mehr Aufrufe im Oktober. Ein Vergleich zum gleichen Monat des Vorjahres kann demnach sinnvoll sein. 

Für die Messung des impact, also der Wirkung, stellt John Stack Gedankengänge und Ideen vor, die noch im Entwicklungsstadium sind. Eine Metrik wäre hier beispielsweise die Zahl der Abonennt*innen auf YouTube, da davon auszugehen sei, dass diese bestehende Inhalte für interessant genug halten, um mehr davon sehen zu wollen. Um den impact der Webseite zu messen, denken die britischen Museen beispielsweise über die durchschnittliche Verweildauer auf einer story nach. Ebenso überlegen sie, ob sich die Wirkung über das Korrelat von Seitenaufrufen und der Scrolltiefe messen lässt, also wie viel Prozent der Seite überhaupt heruntergescrollt wurde.

Wenngleich die Überlegungen zur Impactmessung also noch unfertig sind, sticht doch eine Sache besonders heraus: Hier wird dem digitalen Angebot selbst Wert beigemessen. Es geht um Reichweite und Wirkung, nicht um Vergleichbarkeit. Ein Ansatz, der auch die Debatten im deutschsprachigen Raum voranbringen könnte.

Erhellend war in diesem Kontext auch der Workshop von Kerstin Glasow, Direktorin für Kommunikation, Marketing & Vertrieb der Berliner Philharmoniker. Sie zeigte auf, dass manche Kultureinrichtungen durchaus durchdacht und selbstbewusst mit dem Thema digitale Besucher*innen umgehen. So messen die Berliner Philharmoniker ihren digitalen Angeboten einen hohen Wert bei, etwa für Publikumsgruppen, die nicht ohne Weiteres in den Genuss der Konzerte kommen können. Entsprechend investiert das Orchester viel Zeit und Aufwand in die digitalen Angebote und erhebt für seine Digital Concerthall auch gar nicht so geringe Gebühren. Dass dies tausenden Abonnent*innen rund um die Welt das Geld wert ist, liegt gleichermaßen am nach außen getragenen Selbstbewusstsein des Orchesters bezüglich seiner digitalen Angebote und deren steter Verbesserung aufgrund der erhobenen Daten.

Welche Antworten kann Künstliche Intelligenz geben?
 
Im Vergleich zu den Beispielvorträgen erschien auch die dritte Keynote, gehalten von Alexander Britz (Microsoft) über die Einsatzmöglichkeiten künstlicher Intelligenz, zum Beispiel zur Vorhersage von Besucher*innenverhalten oder zur Anreicherung von digitalen Angeboten durch automatisch ausgewählte Zusatzinformationen, ein wenig aus dem Rahmen gefallen. So spannend automatisierte Inhaltserzeugung und detaillierte Nutzer*innenprofile sein mögen, wirken sie doch wie die Kür für ein Pflichtprogramm, das im Kulturbereich noch nicht ausreichend einstudiert wurde. Es darf bezweifelt werden, dass rein technische Lösungen für die Herausforderung digitale*r Besucher*in ausreichend sind, solange Grundfragen ungeklärt bleiben. Denn Zweckfragen wird keine künstliche Intelligenz beantworten können.
 
Fazit
 
Am Ende der Tagung standen Fragen und Aufgaben statt Antworten und einem klaren Bild der digitalen Besucher*innen. Eine solche Fragenliste war bereits in der Begrüßung der beiden Organisatoren Johannes Bernhardt und Christian Gries als Ziel ausgegeben worden. Damit kann die Tagung durchaus als Erfolg bezeichnet werden und als notwendiger Schritt bei der Etablierung dieses neuen Aufgabenbereichs in Kultureinrichtungen. Dass es dabei nicht um das Ob, sondern um das Wie ging, hängt vor allem mit dem für den Kulturbetrieb überdurchschnittlich digitalaffinen Teilnehmer*innenspektrum zusammen. Diese waren sehr zufrieden, auch wenn sich erneut gezeigt hat, wie weit der Kulturbetrieb hinsichtlich digitaler Denk- und Arbeitsweisen noch immer von der außer- und popkulturellen Normalität entfernt ist. 
 
Insgesamt hat die Tagung verdeutlicht, dass entsprechende Kompetenzen in den Museumsabteilungen notwendig sind, aber ebenso in den Führungsebenen sowie bei Kulturpolitiker*innen und -verwaltungen. Denn ein gewichtiger Grund dafür, dass der Umgang mit digitalen Besucher*innen selten und kaum erschlossen ist, sind mangelndes Interesse und Verständnis, mitunter sogar Ablehnung. Doch die Grundsatzfragen nach dem Zweck und den Zielen müssen hier beantwortet werden, in den Kuratorien und auf Leitungsebene. Die Brisanz der Fragen und die Schwierigkeit, eine Antwort zu finden, hat die Tagung sehr gut aufgezeigt. Und das ist entscheidend, denn die Frage nach dem "Wie" kann, bei aller Wichtigkeit und Komplexität, erst beantwortet werden, wenn das "Was" und das "Wofür" geklärt wurden.

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