19.09.2008

Autor*in

Frank Druffner
Best Practice

Das Deutsche Literaturarchiv Marbach

In der kleinen malerischen Stadt Marbach am Neckar, ungefähr zwanzig Kilometer nördlich von Stuttgart gelegen, befindet sich das Deutsche Literaturarchiv. Diese Einrichtung geht auf bürgerschaftliches Engagement im späten 19. Jahrhundert zurück, als ein Verein gegründet wurde mit dem Ziel, Mittel für die Gründung eines Archivs und Museums im Geburtsort Friedrich Schillers aufzubringen.
Durch die überwältigende Unterstützung durch das württembergische Königshaus, zahlreiche Mäzene, Kommunen und Gemeinden sowie eine breite, an Literatur interessierte Öffentlichkeit konnte das »Schiller-Archiv und -Museum« 1903 eingeweiht werden. Es ist aus dem Dichterkult des 19. Jahrhunderts hervorgegangen und sollte dem großen Sohn der Stadt Marbach, dem unsterblichen »Nationaldichter« Friedrich Schiller eine repräsentative Heimstatt bieten, die in sinnfälligem, die Widrigkeiten seines irdischen Lebens bewusst übertönenden Kontrast zur ärmlichen "Hütte" seiner Geburt (dem heutigen Schiller-Geburtshaus in der Marbacher Altstadt) stehen sollte.

Unter dem Dach des historistischen, an barocken Schlossbauten orientierten Gebäudes befanden sich drei Einrichtungen, die in vergrößertem Umfang noch heute existieren: Archiv, Bibliothek und Museum. Von Anbeginn war der Zweck die Pflege der literarischen und sonstigen Hinterlassenschaft Schillers und der schwäbischen Dichter. Dieser Zweck veränderte sich nach 1945 erheblich. Die Institution, die seit 1922 den Namen Schiller-Nationalmuseum trug, sammelte nun verstärkt die gesamte deutschsprachige Literatur einschließlich der Exil- und später der DDR-Literatur. Dementsprechend erfolgte 1955 die Gründung des Deutschen Literaturarchivs Marbach, nachdem der ursprüngliche Schiller-Verein bereits 1947 in die Deutsche Schillergesellschaft überführt worden war. In der Trägerschaft dieses gemeinnützigen Vereins eine der größten literarischen Gesellschaften der Bundesrepublik befinden sich heute das Schiller Nationalmuseum, das Deutsche Literaturarchiv und das 2006 eingeweihte Literaturmuseum der Moderne.
Die zentralen Aufgaben des Deutschen Literaturarchivs Marbach liegen heute ausdrücklich im Ausbau, in der Pflege, Erforschung und Vermittlung seiner Sammlungen zur neueren deutschen Literatur. Die Vermittlung des Kulturguts Wort hängt unauflöslich mit der inneren Struktur des Deutschen Literaturarchivs zusammen. Es ist eine Organisationseinheit, die sich, wie schon nach 1903, aus den drei Betrieben Archiv, Bibliothek und Museum zusammensetzt. In der Handschriftenabteilung des Archivs werden auf annähernd 25 Millionen Blatt Papier die hand- und maschinenschriftlich niedergelegten Worte von über 1.200 Autorinnen und Autoren aufbewahrt. Diese Sammlung, die kontinuierlich wächst, führt eindrucksvoll vor Augen, wie Literatur erdacht, geplant, gegliedert, verworfen beziehungsweise realisiert wurde. Von der ersten Ideenskizze bis zur letzten Fahnenkorrektur führt der oftmals mühsame Weg, den der Autor bei jedem neuen Projekt zurücklegen muss. Aus dem gewaltigen Fundus der Handschriftenabteilung schöpfen die Forscher und Wissenschaftler, die Doktoranden und Studierenden, die zu Arbeitsaufenthalten nach Marbach kommen, an Editionen arbeiten oder Spezialstudien anfertigen.
Das gedruckte Buch ist dasjenige Medium, das am Ende des literarischen Schaffensprozesses steht und mit dem im Idealfall Geld verdient und Ruhm erworben werden kann. Bücher ihrerseits wandern üblicherweise in Bibliotheken. Die Marbacher Bibliothek umfasst etwa 750.000 Bände. Ein Großteil davon stellt die eigentliche Spezialbibliothek zur neueren deutschen Literatur (eine der größten ihrer Art weltweit) mit Sekundärliteratur, Zeitschriftensammlungen und Bibliographien dar. Aber natürlich gehören auch Erstausgaben und Nachdrucke der hier gesammelten Nachlassgeber zum Bestand. Und als vielleicht interessanteste Unterabteilung wären die Schriftstellerbibliotheken zu nennen, die häufig Leseexemplare bekannter Autoren mit aufschlussreichen Widmungen und Anmerkungen enthalten. Am unmittelbarsten aber tönt das literarische Wort aus einer anderen Unterabteilung der Bibliothek, der Dokumentationsstelle: In ihr werden neben Zeitungsartikeln, Drehbüchern und Broschüren audio-visuelle Medien Tonaufnahmen von Hörspielen, Lesungen und Gesprächen, Literaturverfilmungen, Aufzeichnungen und Mitschnitte unterschiedlicher Veranstaltungen gesammelt.
Während Archiv und Bibliothek in erster Linie Serviceeinrichtungen für Wissenschaftler unterschiedlicher Ausrichtung sind (die Marbacher Bestände beziehen sich neben der schönen Literatur auch auf Philosophie, Geschichte, Kulturgeschichte u.a.), dienen die Museen einem breiteren Publikum. In dieser Hinsicht besitzt das Deutsche Literaturarchiv Marbach ein eindeutiges Alleinstellungsmerkmal, denn literarische Museen im strengen Sinn (d.h. formal und inhaltlich über die Praktiken reiner Erinnerungsstätten und Dichterhäuser hinausgehend) sind weltweit eine Seltenheit. In Marbach bietet sich die einmalige Situation, dass der Besucher gleich zwei benachbarte Literaturmuseen vorfindet: Im Schiller-Nationalmuseum werden nach Abschluss der Innensanierung ab November 2009 Exponate zur deutschen Literatur zwischen 1750 und 1900 gezeigt, das 2006 eingeweihte Literaturmuseum der Moderne schließt inhaltlich mit Stücken aus der Zeit von 1900 bis zur Gegenwart an. In beiden Häusern wird anhand originaler Handschriften und anderer Objekte gezeigt, wie Schriftsteller gearbeitet und gelebt haben, wie Literatur entstand und welche Schicksale sie spiegeln oder selber erleiden konnte. Das Lesen indes wollen und können wir dem Publikum nicht abnehmen, es bleibt seine ganz eigene, geradezu intime Betätigung. Der Appetit darauf lässt sich freilich anregen.
Es liegt deshalb auf der Hand, dass die Vermittlung der Literatur und damit des Kulturgutes Wort einen wesentlichen Teil der Marbacher Veranstaltungsprogramme bestimmt. Spezielle Führungsangebote in den Museen und ein eigenes Programm zur Literaturvermittlung für Kinder und Schüler bestehen bereits und sollen künftig ausgebaut werden, insbesondere in Richtung Jugend- und Erwachsenenarbeit. Die Begegnung mit Autoren und die unmittelbare Auseinandersetzung mit alten Handschriften sind stets reizvolle Erlebnisse, gerade auch für Schüler. Das geschriebene Wort als Kulturgut an die Frau und den Mann zu bringen ist aber auch Ziel der klassischen Veranstaltungsformen: In Lesungen und Gesprächsrunden kommen Autorinnen, Schriftsteller und Kulturschaffende selbst zu Wort und treten mit dem Publikum in einen lebendigen Dialog. Vorträge beziehen sich auf Themenfelder, die einen Bezug zu den Marbacher Beständen aufweisen. Und auch Tagungen oder Symposien werden mit Blick auf die hier lagernden Materialien durchgeführt. Editions- und Publikationsprojekte vermitteln die Arbeit der Wissenschaftler an ein Fachpublikum. Im Zentrum steht jeweils das gesprochene oder das geschriebene Wort und die Deutung dessen, was Literatur will und vermag.
Wie bei der Vermittlung spielen auch beim Service die Bedürfnisse und Wünsche der Zielgruppen die ausschlaggebende Rolle. Dem wissenschaftlichen Publikum stehen verschiedene Instrumente zur Verfügung, um ohne Zeitverlust forschen zu können. Eine rasche Bedienung bei der Ausleihe von Büchern oder Handschriften gehört ebenso dazu wie ein auskunftsfreudiges Personal, gute Kataloge und ausreichend Arbeitsplätze. Online-Kataloge, die durch die Retrokonversion alter Zettelkataloge erweitert werden, bieten Besuchern, die von außerhalb kommen, die Möglichkeit, bereits vor ihrer Ankunft in Marbach benötigtes Material vorzubestellen und somit sofort nach ihrem Eintreffen mit der Arbeit beginnen zu können. Kopier- und Fotostelle erfüllen gegen Gebühr rasch nahezu jeden Reproduktionswunsch.
Was das Archiv in nächster Zukunft verstärkt beschäftigen wird, sind materielle Probleme, wobei der Begriff »materiell« in mehrfacher Bedeutung verwendet wird. Zum einen nimmt der Bedarf an Drittmitteln, an finanzieller Unterstützung durch Stiftungen, Sponsoren, Mäzene und Spender stetig zu. Die steigenden Preise für Handschriften, die wachsenden Kosten bei Ausstellungsprojekten, der permanente Raumbedarf einer in großem Maßstab weiterhin sammelnden Einrichtung all dies übersteigt die Haushaltsmittel, die im wesentlichen von Bund und Land bereitgestellt werden und in absehbarer Zeit wohl nicht deutlich aufgestockt werden, bei weitem. Zumal auch der Personalbedarf wächst: Derzeit arbeiten 180 Personen im Archiv, in der Bibliothek und in den Museen. Noch reicht diese Zahl für die anstehenden Aufgaben aus, je größer aber der Betrieb wird, desto mehr Personal erfordert er. Zum andern betrifft ein zweites materielles Problem die Sammlungsgegenstände selbst. Fortschreitender Papierzerfall, Schädigungen durch Klebestreifen in Manuskripten, Säureschäden in Büchern und die Zunahme elektronischer Datenträger als Bestandteile literarischer Nachlässe stellen die Marbacher Restauratorinnen und das EDV-Team vor immer neue Herausforderungen, deren Bewältigung finanziert sein will. Die Einwerbung entsprechender Drittmittel setzt eine zielgenaue Kommunikation nach außen voraus: Pressearbeit, Pflege der Homepage, Werbe- und Informationsmaterialien machen die Aufgaben und Ziele unserer Einrichtung deutlich, und eine seriöse Informationspolitik schafft eine Basis des Vertrauens, die für das Funktionieren des Archivs unerlässlich ist.
Im europäischen und internationalen Vergleich darf das Deutsche Literaturarchiv sicher als eine der wichtigsten Einrichtungen auf dem Feld der Literaturvermittlung gelten, da in ihm sowohl gesammelt und ausgestellt als auch erschlossen und geforscht wird. Das geschriebene und das gesprochene Wort, das Buch in seiner Produktionsphase und in seinem Endzustand werden wie bisher im Mittelpunkt seiner Aktivitäten stehen.

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