27.07.2023
Buchdetails
Arts and Health - Österreich im internationalen Kontext
von Edith Wolf Perez
Verlag: Transcript
Seiten: 240
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Autor*in
Laura Bettag
ist Referentin für Sonderprojekte sowie Leiterin des theaterhistorischen Projekts "NTM-Zeitfenster" am Nationaltheater Mannheim. Sie studierte u.a. Kulturmanagement und promovierte mit einer Studie zur Autobiografie-Forschung im Bühnentanz. Neben der Veröffentlichung wissenschaftlicher Beiträge aus den Bereichen strategisches Kulturmanagement sowie der Tanz- und Musikwissenschaft, leitet sie Seminare im Betrieblichen Gesundheitsmanagement und ist MHFA-Instruktorin.
Buchrezension
Arts and Health - Österreich im internationalen Kontext
Welche Bedeutung haben Kunst und Kultur für die individuelle und soziale Gesundheit? Diese Frage stellt die "Arts and Health"-Bewegung. Anhand des Zusammenwirkens der öffentlichen Kulturförderung mit dem Gesundheits- und Sozialsystem in Österreich zeigt die zugehörige Publikation "Arts and Health - Österreich im internationalen Kontext", wie die Idee des "Kunst und Kultur für alle" mit dem Aspekt des Wellbeings verbunden werden kann.
Ein Weißbuch für ein multidisziplinäres (politisches) Handlungsfeld
Im Charakter eines Weiß- bzw. Handbuchs stellen die Österreicherin Edith Wolf Perez und weitere langjährige Akteurinnen und Akteure aus dem Umfeld des Vereins Arts for Health Austria die bisherige Entwicklung, die aktuelle Situation und die zukünftigen Zielstellungen in Österreich umfassend vor. Es informiert zudem über den aktuellen internationalen Entwicklungsstand der Bewegung mit dem Schwerpunkt auf Europa. Das Buch erschien 2023 im transcript Verlag und wurde vom österreichischen Bundesministerium für Kunst, öffentlichen Dienst und Sport beauftragt. Die Grünen-Politiker, Vizekanzler und Bundesminister Werner Kogler und Gesundheitsminister Johannes Rauch unterstützen die "Arts for Health"-Bewegung somit auch auf gesundheits- und kulturpolitischer Ebene. Da sie keine in Österreich originär entstandene Initiative ist, strebt man an, von ihrem ursprünglichen angelsächsischen Entstehungskontext zu lernen und sich bei der Übertragung nach Österreich von der Fülle der internationalen Erfahrungen inspirieren zu lassen. Sowohl Chance als auch Risiko für eine nachhaltige Etablierung stellen neben der vorhandenen Kunst- und Kulturszene das öffentlichen Gesundheits- und Sozialsystem Österreichs dar.
Wissenschaftliche Eingrenzung des Themas und Fokussierung auf Arts for Health
Die begriffliche Einordnung bzw. Abgrenzung der unterschiedlichen Ansätze künstlerischer Interventionen im Kontext von Gesundheit und Wohlbefinden ist häufig nicht eindeutig zu unterscheiden. Der Überbegriff "Arts and Health" beschreibt die von ihr kurz vorgestellten Richtungen und deren grundlegende Erkenntnis, dass Kunst und Kultur auf die mentale, psychische wie körperliche Gesundheit eine positive Wirkung haben und dass sie bei der Prävention, Genesung und Rehabilitation unterstützen können. Deren wissenschaftliche Legitimationleitet sie aus der allgemein anerkannten Auffassung eines modernen Gesundheits- und Heilungsbegriffs ab. Die vielseitig versierte Tänzerin, Journalistin und Projektmanagerin Edith Wolf Perez definiert daher zunächst grundlegende Begrifflichkeiten aus dem Beziehungsfeld der Künste und der Gesundheit. Dies ist unabdingbar, um ihr Kernthema "Arts for Health" angemessen wissenschaftlich kontextualisieren zu können. Sie schreibt (S. 20f): "Bereits seit 1946 hat die Weltgesundheitsorganisation [WHO] Gesundheit als einen Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit und Gebrechen definiert. Mit dieser Definition wird Gesundheit nicht nur auf individueller Ebene verstanden, sondern im gesellschaftlichen Kontext verankert. Heute hat sich das Konzept erweitert und umfasst auch das Management von (chronischen) Krankheiten."
Dazu gehören auch die Abgrenzungen zu "Arts in Health" bzw. "Arts within Health", bei dem es z.B. um die Nutzung von Kunst für das medizinische Personal oder in Krankenhäusern geht. Wolf Perez macht auch den Unterschied ihrer Arbeit zu den künstlerischen Therapien deutlich, um die es in dem Band bis auf einen kurzen Ausflug in das österreichische Musiktherapiegesetz nicht geht. Vielmehr geht es um sog. kunstbasierte Interventionen in einem Gesundheitssetting, die bei der Prävention, der Bewältigung und beim Management von Krankheiten unterstützend wirken. Sie helfen, auf schwierige Lebensumstände zu reagieren. Trotz gesundheitlicher Einschränkungen soll es möglich sein, sich kreativ und konstruktiv mit anderen Menschen und der Welt auseinanderzusetzen.
Neben der rezeptiven oder aktiven künstlerischen Herangehensweise ist ihre Evidenzbasierung von großer Bedeutung. Das bedeutet, dass die Wirksamkeit künstlerischer Aktivitäten für die Gesundheit und das Wohlbefinden empirisch nachzuweisen ist. Auch diese Forderung ist ein international gültiger wissenschaftlicher Standard. Es wird der Leserschaft daher die vom Europabüro der WHO publizierte Metastudie "Health Evidence Network Synthesis Report" ausführlich vorgestellt. Sie verarbeitet ca. 3000 Studien von Mitgliedsstaaten aus den Bereichen, Medizin, Neurowissenschaft, Psychologie und Soziologie in einem inter- und transdisziplinären Forschungsansatz. Der WHO-Bericht von 2019 verwendet Bezeichnungen klassischer Kunstkategorien wie Musik, darstellende Kunst (Tanz, Gesang, Theater), Film, Bildende Kunst, Design und Handwerk, Literatur sowie Online-, digitale und elektronische Kunst. Der Begriff "Kultur" bezieht sich auf Aktivitäten wie den Besuch von Ausstellungen, Konzerten, Theater- und Tanzaufführungen, Community Events oder Festivals. Es wurden sowohl partizipative Kunstinterventionen als auch die Rezeption von Kunst berücksichtigt.
Rollenklärung in der künstlerischen Intervention
Die Einhaltung gültiger wissenschaftlicher Standards ist in Österreich erforderlich, um eine gesundheitspolitische Anerkennung und damit auch Zugang zu entsprechenden Fördermitteln zu erlangen. Die medizinische Forschungs- und Evaluationsmethodik ist hierbei leitend und lässt ein Gefälle zu dem künstlerischen bzw. kulturellen Bereich entstehen. Die künstlerische Intervention wird somit als nichtmedizinisch und als adjuvantische [unterstützende] Maßnahme in Bezug auf die medizinische Behandlung positioniert. Als Vorteil dieser klaren Trennung wird gesehen, dass sich die Menschen in der Zusammenarbeit mit Künstler*innen leichter von der evtl. stigmatisierenden Patient*innen-Rolle lösen können.
Im zweiten Teil des Buches wird die Arbeit des WHO Collaborating Centre for Arts and Health als internationales Forschungszentrum seit 2021 vorgestellt. Anhand anerkannter wissenschaftlicher Kategorien werden die unterschiedlichen Ausprägungen in Großbritannien, Finnland, Dänemark, den Niederlanden, Irland und den USA beschrieben. Die ausgewählten Good-Practice-Beispiele zeigen die große Bandbreite von den Rote Nasen / Clown Doctors bis zum Tanzlabor der Wiener Staatsoper. Auch die genannten Formate vom Suchtpräventionskabarett bis zu Museumsworkshops für Menschen mit Demenz stellen den Facettenreichtum unter Beweis. Je nach Region, künstlerischen Ressourcen sowie der Beschaffenheit des Gesundheits- und Sozialsystems gibt es unterschiedliche Schwerpunkte. En passant gewinnt man so zudem Einblicke in die EU-Projektförderung für kunstnahe Public(-Mental-)Health-Aktivitäten.
Die spezifische Situation in Österreich
Im dritten Teil wird die besondere Situation in Österreich im Vergleich mit den zuvor vorgestellten Ländern thematisiert. Um sich auf EU-Ebene erfolgreich beteiligen zu können verlangt die komplexe Kombination aus künstlerischen, politischen, wissenschaftlichen und medizinischen Aspekten der Arts for Health-Bewegung kooperative Formen des Zusammenarbeitens sowie multi- und interdisziplinäre Forschungsstrategien. Aus der Darstellung des bisher erreichten Niveaus, so lückenhaft es von Österreich selbst empfunden wird, wird immer wieder erkennbar, mit welchem hohen Anspruch geplant und agiert wird. Dieses planvolle Vorgehen ermöglichte den aktuellen Stand, aus dem heraus die Zukunftsaufgaben entwickelt und formuliert werden. Nach insbesondere angelsächsischem Vorbild strebt man in Österreich neben einer flächendeckenderen Versorgung die finanzielle Kostenübernahme von Leistungen durch ärztliche Verschreibung sowie das Social Prescribing (soziales Miteinander auf Rezept) an. Dabei werden medizinische mit sozialen Leistungen verknüpft. Sogenannte Link-Workers wirken als Verbindungsglied zwischen medizinischem Personal und Patient*in, um gesundheitsrelevante, aber nichtmedizinische Bedürfnisse zu benennen und nach Möglichkeit zu erfüllen.
Die abschließenden Policy-Empfehlungen entsprechen wiederum den Kriterien internationaler Rahmenwerke. Dies arbeitet der synergetischen Nutzbarmachung des "vielfältigen" Kunst und Kulturlebens sowie des "qualitativ hochwertigen" Sozial- und Gesundheitswesens in Österreich zu. Als zukünftige Etappenziele werden benannt:
- Anerkennung des Mehrwerts der künstlerischen und kulturellen Teilhabe,
- stärkere strategische Vernetzung der Referate in Gesundheits- und Sozialinstitutionen,
- Projektförderung,
- Entwicklung und Finanzierung nachhaltiger Programme sowie
- die Unterstützung interdisziplinärer und internationaler Forschung und Evaluation.
Bezug zur Situation in Deutschland
An einem inhaltlich wie didaktisch so gut gemachtem Buch Kritik zu üben, fällt nicht leicht. Zwischen jeder Zeile spürt man den Pionier*innen- und Erfinder*innengeist der Mitstreiter*innen um Edith Wolf Perez. Es verfügt über eine gute Lesbarkeit und eine hilfereiche Strukturierung. So ist eine schnelle Orientierung in der Materie möglich, die zum Teil in dieser Form in Deutschland weitgehend unbekannt ist. Jedes Kapitel schließt mit aktuellen Literatur- und Linkangaben, die zur vertieften Beschäftigung einladen. Die gut ausgewählten Good-Practice-Beispiele garantieren Anschaulichkeit und inspirieren. Stets wird das Miteinander von Forschung und Praxis zum beiderseitigen Nutzen nachvollziehbar gestaltet.
Es ist beeindruckend, welche Kraft die über Jahrzehnte gewachsene Idee zur Wirkmacht der Künste auf das Individuum und die Gesellschaft entfaltet hat. Nach der Lektüre mag man bedauern, dass es in Deutschland kaum Ansätze für eine solche Bewegung gibt, die kunst-, kultur-, sozial-, wissenschafts- und gesundheitspolitische Ansätze verbinden. Vielmehr achtet man insbesondere in der Kunstszene auf die Wahrung seiner Autonomie. Während der Corona-Pandemie sind aber auch in Deutschland neue Formate entstanden, die sich um Kontakte zur alltäglichen Lebenswelt ihres Publikums bemühen und kreative Erfahrungen teilen möchten. Es ist auch eine Überlegung wert, ob nicht in den Studiengängen für Kulturmanagement eine Weiterbildung analog der Link-Workers entstehen könnte. Sicher nicht von ungefähr findet sich im Team um Edith Wolf Perez der emeritierte Wiener Professor für Kulturmanagement Dr. Franz-Otto Hofecker.
In Folge des Films "Rhythm is it" von 2004 entstanden in Deutschland zunehmend bis heute gerade im Tanzbereich Aktivitäten, wobei hierbei die heilungsfördernde Komponente eher schweigend im Sinne eines impliziten Wissens existent ist. Für Wolf Perez hängt dies mit teilweise immer noch bestehenden und tiefsitzenden Vorbehalten durch die politische Vereinnahmung der Künste im Nationalsozialismus zusammen. Auch die Berührungsängste mit psychischen Fragestellungen sowie das Repräsentation- und Distinktionsbedürfnis durch Kulturnutzung stehen einem unbelasteten Zugang zum Thema des Buches entgegen.
Vergleich erleichtert Bestandsaufnahme der derzeitigen Praxis in Deutschland
Wenngleich das Kompendium die Situation in Deutschland unerwähnt lässt, gibt es sicher auch hierzulande ähnlich motivierte Aktivitäten in der Praxis. Die Bereiche Kulturelle Bildung, der Künste im Sozialen sowie die Vermittlungsabteilungen und die Bürger*innen-Bühnenbewegung in den Theatern suchen durchaus nach innovativen Ansatzpunkten und maßgeschneiderten Angeboten für immer diversere Zielgruppen. Ihnen sei das Buch ans Herz gelegt. Möglicherweise kann dann klarer definiert werden, was es zu einem gelungenen Aufbau künstlerischer Interventionen braucht bzw. von was man besser die Finger lässt. Auch Vertreter*innen der künstlerischen Therapien lesen das Buch sicher mit Gewinn für den Berufsalltag. Nicht zuletzt könnten sich kulturaffine Führungskräfte in Medizin, Sozialwesen, politische Entscheider*innen sowie Leitungen von Kunst- und Kulturinstitutionen angesprochen fühlen, vor Ort ähnliche Projekte zu initiieren.
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