18.02.2021

Buchdetails

Freies Musiktheater in Europa / Independent Music Theatre in Europe: Vier Fallstudien / Four Case Studies
von ITI Zentrum Deutschland, Matthias Rebstock
Verlag: Transcript Verlag
Seiten: 302
 

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Autor*in

Chris Grammel
erforscht verschiedene künstlerische und kreative Bereiche mit einem Schwerpunkt im zeitgenössischen Musiktheater und großer Erfahrung im Bereich Performance/ Postdramatisches Theater, auch zielgruppenspezifisch für Corporate-Events. Er konzipiert, inszeniert und realisiert in der Freien Szene, in Zusammenarbeit mit Stadttheatern und Festivals oder im Auftrag internationaler Organisationen - bspw. organisiert er seit 2014  für das Internationale Theaterinstitut den weltweiten Musiktheater-Wettbewerb "Music Theatre NOW".
Buchrezension

Freies Musiktheater in Europa

Die Szene des zeitgenössischen Freien Musiktheaters in Europa ist so vielfältig wie der Erdteil selbst. Wie dabei die historischen und kulturellen Bedingungen mit der konkreten künstlerischen Praxis vor Ort zusammenhängen, untersucht der Sammelband "Freies Musiktheater in Europa" anhand vier ausgewählter Fallbeispiele.
 
Mit der Publikation "Freies Musiktheater in Europa", 2020 bei transcript erschienen, rüstet sich der Regisseur und Wissenschaftler Matthias Rebstock für eine weitere Reise in die Welt zwischen den Polen der Musik und des Theaters. Gemeinsam mit Martina Stütz, Thom Andrewes, Falk Hübner und Leo Dick als ortskundige Expeditionsleiter*innen werden die regionalen bzw. nationalen Szenen des unabhängigen Musiktheaters in Berlin, London, den Niederlanden und der Deutschschweiz kartographiert. Durch dieses Brennglas empirischer Beschreibung schaffen sie einen scharfen Blick auf ein Feld, das "ständig am eigenen Verschwinden arbeitet […], je intensiver es sich auf seine transdisziplinäre Natur einlässt" (S. 7).

Basislager - Vorgehen und Struktur

Rebstock ging es in seinen bisherigen Publikationen zur Erforschung des Musiktheaters besonders um die Frage nach dem Genre an sich, den Eigenheiten und Schnittstellen zu anderen Kunstformen. Nun taucht er anhand konkreter Beobachtungen von künstlerischen Arbeiten in die Szene ein. Dabei schafft er selbst in der Publikation durch seine Einleitung und "(k)ein Resümee" am Ende den Rahmen für vier Fallstudien, die nach Gemeinsamkeiten und Unterschieden des Freien Musiktheaters in Europa forschen. Die Co-Autor*innen - die allesamt selbst künstlerisch in diesem Bereich arbeiten - nehmen konkrete Produktionen, sowie Arbeitskontexte und -prozesse der Akteur*innen der vier ausgewählten Standorte in den Blick. Ausgangspunkt für ihre Betrachtungen sind leitfadengestützte Interviews mit insgesamt über 80 Künstler*innen aus der jeweiligen Region. Die ursprünglich deutschsprachigen Beiträge von Rebstock, Stütz und Dick sind dabei zusätzlich in englischer Sprache abgedruckt, um die internationale Anschlussfähigkeit zu gewährleisten und den grenzüberschreitenden Diskurs zu unterstützen. Dieser ist ein explizites Anliegen der Publikation.
Expedition ins (Un-)Bekannte - vier Fallstudien

Rebstock und die Autor*innen machen bewusst und deutlich die Grenzen und Gefahren ihres Unterfangens sichtbar: Bereits die Frage danach, welche Stücke und Autor*innen einbezogen werden, ist dafür bestimmend, was unter Musiktheater zu verstehen sei - und umgekehrt. Die Wahl für die vier Schwerpunkte fiel unter den Gesichtspunkten:
 
  • möglichst lebendige und ausdifferenzierte Szenen betrachten zu können,
  • verschiedene Theatersysteme und politische Rahmensetzungen einzubeziehen und
  • den Unterschied zwischen einem Metropolen-Phänomen (London, Berlin) und einem Flächengedanken (Holland, Deutschschweiz) zu analysieren.
Ausgerüstet mit einem vergleichbaren Instrumentarium an "Insider-Wissen" und dem Fragenkatalog starten die vier Expeditionsleiter*innen und schlagen dabei ganz individuelle Wege in die jeweilige Musiktheater-Szene ein. Dabei wird bald übergreifend deutlich, dass diese auch den jeweiligen Produktionsstrukturen vor Ort geschuldet sind. In ganz unterschiedlichem Tempo und mit verschiedenen Rastplätzen lassen sie eine zeitliche Entstehungslinie der Szenen entstehen, richten den Blick auf Produktionsorte und assoziierte Künstler(-gruppen), ästhetische Felder als Unterscheidungskriterium, Förderstrukturen und auch das Ausbildungswesen.

Mit diesen Wegweisern durch das eventuell unbekannte Gelände wird schnell die Vielfalt und Kreativität, aber auch die enge Bedingtheit von Fördersystem und Produktionsprozessen, deutlich. Denn auch wenn der Begriff der "Freien Szene" aus der besonderen Struktur des deutschen Theater- und Fördersystems stammt, so beleuchtet die Publikation in den anderen Regionen ebenso unabhängige "(independent) makers", die auf keine feste institutionelle Finanzierung zurückgreifen können. Die Autor*innen zeigen anhand vieler konkreter Beispiele auf, wie sich das Musiktheater zwischen und im Verbund mit den anderen "Sparten" jeweils behauptet, wie Künstler*innen(-gruppen), Aufführungsorte und Ausbildungsstätten miteinander verbunden sind und wie sich Arbeitsprozesse gestalten. So richtet zum Beispiel Leo Dick seinen Blick unter anderem auf den "Gare du Nord" in Basel und macht deutlich, wie sowohl die Rahmung der Spielstätte als "Produktions- und Aufführungsort für die Schweizer und internationale Musikszene" auf die Produktionsmöglichkeiten einwirkt oder wie wichtig die Anbindung regionaler Künstler*innen auch durch die Förderstruktur der Deutschschweiz ist.

Die Kartographie der Berliner Musiktheaterszenen wird von Martina Stütz hingegen auch durch eine nähere Betrachtung ermöglicht, aus welchem Umfeld die dort tätigen Ensembles entstammen. So kann sie zwischen Musik einerseits und Theater andererseits Schnittmengen des sehr ausdifferenziert beschriebenen Feldes aufzeigen - beispielsweise der Oper als inhaltlicher und konzeptioneller Reibungsfläche der Ensembles aus dem Kontext des "musikalisierten Theaters".

Die Vielzahl der Beispiele macht allerdings ebenso anschaulich, wie unterschiedlich inter- und transdisziplinäre Ansätze verfolgt werden und weshalb es schwierig wird, Musiktheater als eigenes Genre - auch im Sinne einer gezielten Förderstruktur - zu fassen.

Wegmarken und Orientierungspunkte - Erkenntnisse, Einordnung und Weitblick

Bei dem Vorstoß in das Dickicht der Szene des "Freien Musiktheaters" legen die Autor*innen ihre Vorgehensweise deutlich dar und machen auch aus ihrer jeweiligen Verstrickung in die Szene selbst keinen Hehl. Das führt in dieser Direktheit allerdings nicht zu einem getrübten, subjektiven Blick, sondern nimmt den*die Leser*in durch viel anschauliches Insider-Wissen in die Beobachtung der Szenen mit. Das führt in Verbindung mit bereits vorhandenem, partiellen Wissen der lesenden Person tatsächlich dazu, dass sich allmählich eine Topographie aus dem Nebel zu schälen beginnt - es zeichnen sich  Verbindungslinien ab und neue Perspektiven (für das eigene unmittelbare Umfeld) tauchen am Horizont auf.

So wird beispielsweise durch die Ausführungen von Thom Andrewes auch ein struktureller Hintergrund deutlich. Vor diesem erklärt sich die extreme Diversität der Britischen Musiktheaterszene - dem Autor bekannt durch die Präsentationen von "New British Music Theatre" bei den Operadgen Rotterdam: Inhaltliche Ausrichtungen von Spielstätten und Förderstrukturen sind wiederum ein wichtiger Aspekt, der inhaltliche Entwicklungen beeinflusst und bestimmte Aufführungsformate ermöglicht (Stichwort: Gig-Theatre).

Bereits während der Lektüre lassen sich leicht die Wegmarken erkennen, die Rebstock abschließend aus der Vogelperspektive skizziert. Das sind einerseits inter- und transdisziplinäre Arbeitsweisen, die auch postdramatische Stilistiken einsetzen. Dabei finden sich je nach Szene sehr unterschiedliche Schwerpunkte in Bezug auf die Auseinandersetzung mit der Oper als Form und Material, sowie die künstlerische Arbeit mit und als sozialpolitisch motivierter Agenda.

Andererseits steht übergreifend der Übergangsmoment von der Ausbildung in die professionelle Karriere im Blick der Betrachtung. Es scheint nach der Lektüre auf der Hand zu liegen, dass Programme, die den künstlerischen Nachwuchs beim Einstieg in das Berufsleben unterstützen, essentiell zur Lebendigkeit einer Szene beitragen können. Dazu gehört neben spezifischen Förderprogrammen und Aufführungsmöglichkeiten auch die Einbindung aktiver Künstler*innen in den Ausbildungsprozess. Falk Hübner zeigt beispielsweise an mehreren Beispielen, wie junge Künstler*innen und Ensembles in den Niederlanden bereits im Studium in Kontakt mit aktiven Protagonisten der Szene kommen und am Beginn ihrer professionellen Laufbahn sowohl durch Institutionen (wie KASKO in Zwolle oder die Diamantfabriek in Amsterdam) als auch das "Nieuwe Makers" Förderprogramm explizit unterstützt werden.

Die Frage danach, ob eine Förderpolitik eher grundsätzlich in Richtung einer Spartenöffnung gehen könnte, um das Musiktheater zu unterstützen, oder ob das Genre explizit förderfähig gemacht werden sollte, muss vor dem Hintergrund der Felduntersuchungen offenbleiben.

Fernweh - ein Fazit

Grundsätzlich fällt auf, dass gerade durch die Vielfalt der beschriebenen Arbeiten, die Szenenbilder und zitierten Aussagen der Künstler*innen die schriftliche Form für die Beschäftigung mit den darstellenden Künsten leicht defizitär wirkt.  Das mag mit dem Zeitpunkt der Veröffentlichung im Jahr 2020 in Zeiten der weltweiten Corona-Pandemie zu tun haben. Wie gut wäre es, von der Expedition an die Hand genommen, in Aufführungen mitgenommen oder wenigstens am Bildschirm in die jeweilige Produktion hineingeworfen zu werden… Eine Videodatenbank als Referenzliste zur Publikation, ein audiovisuelles Archiv als Ergänzung wäre eine traumhafte Vorstellung, um die Fülle der genannten Beispiele noch plastischer werden zu lassen.

Der Wunsch nach dem gegenseitigen Austausch, nach weiterer Etablierung regionaler und übergreifender Netzwerke - die lebendige Spannung zwischen dem Internationalen und Lokalen - schließt daher passenderweise die Reise ab. So dass, nach eingehender Lektüre, das Verlangen danach, selbst den Expeditionsrucksack zu schultern und mit dem hervorragenden Koordinatensystem der Publikation in die Welt des Musiktheaters aufzubrechen, drängend in den Leser*innen zurückbleibt.

Daher sollte dieser Reiseführer den Bücherschrank füllen bei:
 
  • Kulturpolitiker*innen und -manager*innen, die sich mit den Fragen der Förderstruktur auseinandersetzen und neue Perspektiven gewinnen möchten beim Blick auf Modelle aus anderen Ländern;
  • künstlerisch Tätigen aus Institution und Freier Szene, um den Blick auf Arbeitsweisen und Ästhetiken der Kolleg*innen zu werfen und Inspirationen zu finden;
  • den fachlich und wissenschaftlich interessierten Beobachter*innen, um sich näher mit den unscharfen Grenzen des Genres zu beschäftigen und den Blick auf das lebendige Feld zwischen Oper, Konzert, Theater und Performance zu schärfen.

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