22.07.2016
Buchdetails
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Autor*in
Henning Mohr
studierte Politikwissenschaft, Geschichte und Sozialwissenschaft. Er promovierte über das Verhältnis von Kunst und Innovation und die Einbindung künstlerischer Strategien in den Strukturwandel des Ruhrgebiets. Anschließend war er Projektkoordinator des BMBF-Modellprojekts INTRAFO (Intrapreneurship in Forschungsmuseen) am Deutschen Bergbau-Museum Bochum zur Innovationsfähigkeit einer Museumseinrichtungen. Seit Januar 2020 ist er Leiter des Instituts für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V.
Buchrezension
Gehaltsästhetik. Eine Kunstphilosophie
Das Kunstsystem entwickelt im Kontext gesellschaftlicher Veränderungen neue Vorstellungen davon, was ein Kunstwerk bewirken soll, was die Rolle der Künstlerin oder des Künstlers ist und auf welche Weise Gesellschaft in dem Kunstwerk verhandelt wird. Das hat auch Auswirkungen auf den Umgang mit Kunst und KünstlerInnen im Kulturmanagement.
Die Beurteilung der ästhetischen Qualität von Kunstwerken erfolgt heute kaum noch über die vom Künstler verwendete Material- oder Formsprache. Im Zeitalter von Individualisierung, Globalisierung und Digitalisierung werden die sozial-kritische und damit gesellschaftspolitische Relevanz künstlerischer Produktionen immer wichtiger. Die Künstler wollen und sollen den Betrachter in ein ästhetisches Geschehen involvieren, um so sein wachsendes individuelles Bedürfnis nach äußeren Reizen zu erfüllen und gleichzeitig eine Auseinandersetzung mit der lebensweltlichen Wirklichkeit anzustoßen. In unserer auf Neuheit ausgerichteten Gesellschaft etabliert sich Kunst dadurch zunehmend als Nährboden für Wissen und Kreativität. Mit seinem Buch Gehaltsästhetik. Eine Kunstphilosophie (2016), das im Wilhelm Fink Verlag erschienen ist, gelingt es dem Philosophen Harry Lehmann diese Veränderungen in der Kunst mit einem eigens angepassten kunstphilosophischen Theoriegerüst nachzuzeichnen.
Der Autor geht von einer gehaltsästhetischen Wende in den Künsten aus, die durch das Ende des Materialfortschritts eingeleitet wird und sich immer weiter ausbreitet. Demnach gibt die Kunst ihren Neuheitsanspruch nicht auf, wie es im Diskurs zur Postmoderne vielfach behauptet wurde, sondern sie verlagert diesen auf die Möglichkeit, ganz bewusst bestimmte ästhetische Erfahrungen (über die Adressierung einer bestimmten Form der Wahrnehmung des Subjekts) zu ermöglichen. Daran anknüpfend orientieren sich die Künstler bei der Kunstproduktion seit einigen Jahrzehnten immer weniger am ästhetischen Material, sondern sie spielen gezielt mit möglichst neuartigen ästhetischen Gehalten, die den Rezipienten in einen Erlebniszusammenhang integrieren und eine Reaktion hervorrufen sollen. Diese Veränderungen lassen sich nicht nur im Feld der bildenden Kunst nachzeichnen, sondern betreffen die unterschiedlichsten Sparten, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Immer häufiger etablieren sich dafür auch neue ästhetische Formate, in denen sich die besonderen Ausprägungen verschiedener Sparten (etwa bestimmte Performances oder Interventionen) verbinden.
Sicherlich spielen ästhetische Materialien und Formen bei der Kunstproduktion weiterhin eine Rolle, da darüber selbst gehaltsästhetische Referenzen erzeugt und vermittelt werden können. Im Gegensatz zu den schönen Künsten werden Kunstwerke aber stärker als Träger von Bedeutung begriffen und sind nicht nur wegen ihrer Materialität relevant. Zum besseren Verständnis verweist der Autor auf verschiedene Rezeptionsqualitäten des Künstlerischen und ihre Wirkung auf den Betrachter. Er unterscheidet zwischen Eigenwerten, Übertragungswerten und Reflexionswerten künstlerischer Produktionen, die allesamt die Auseinandersetzung mit der Kunst beeinflussen können bzw. durch diese hervorgerufen werden. Bei den einzelnen Wertspektren handelt es sich um Idealtypen, die sich nicht strikt voneinander abgrenzen lassen, sondern erst durch ihre Wechselwirkungen den ästhetischen Gehalt des Werkes strukturieren.
In vielerlei Hinsicht basieren die Überlegungen von Harry Lehmann auf bereits bekannten Theorien über die Produktions- und Rezeptionsbedingungen des Künstlerischen. Es gelingt ihm allerdings, diese zu einem eigenen Erklärungsrahmen für die weitere Auseinandersetzung mit der gehaltsästhetischen Wende in der Kunstproduktion zusammenzufügen. Angesichts der Vielzahl an Begriffsbestimmungen und Kontextualisierungen ist es extrem hilfreich, dass der Autor seine Überlegungen immer wieder an konkreten Praxisbeispielen (etwa aus der Kunst, dem Design oder der Architektur) präzisiert. Dadurch wird der Zugang in das an vielen Stellen durchaus voraussetzungsvolle Thema erleichtert, was vor allem die Lesefreude fachfremder Personen steigern dürfte. Auch wenn Vorkenntnisse im Bereich der (ästhetischen) Philosophie oder der Kunstwissenschaft empfehlenswert sind, eignet sich das Buch deshalb auch für Forscher oder Praktiker anderer Disziplinen.
Gerade KulturmanagerInnen sollten sich intensiv mit dem Paradigmenwechsel im Kunstfeld beschäftigen, um auf die veränderte gesellschaftspolitische Relevanz des Künstlerischen reagieren zu können. Immer mehr Künstler stellen ganz gezielt die gesellschaftlichen Strukturen der Lebenswelt in Frage und versuchen über das Medium der ästhetischen Erfahrung eine Neuverhandlung des Zusammenlebens zu erreichen. Trotz kritischer Reflexion über diese Entwicklungen ist es nicht von der Hand zu weisen, dass dieser Künstlertyp selbst eine gesellschaftsgestaltende Funktion übernimmt und einfordert. Dadurch verändert sich auch die Art und Weise der Zusammenarbeit mit Künstlern, die verstärkt den abgesicherten institutionellen Kontext des Kulturbetriebs verlassen und direkt im öffentlichen Raum agieren wollen. Diese Veränderungen müssen vom Kulturmanagement bedacht und in der alltäglichen Organisation berücksichtigt werden.
Der Autor geht von einer gehaltsästhetischen Wende in den Künsten aus, die durch das Ende des Materialfortschritts eingeleitet wird und sich immer weiter ausbreitet. Demnach gibt die Kunst ihren Neuheitsanspruch nicht auf, wie es im Diskurs zur Postmoderne vielfach behauptet wurde, sondern sie verlagert diesen auf die Möglichkeit, ganz bewusst bestimmte ästhetische Erfahrungen (über die Adressierung einer bestimmten Form der Wahrnehmung des Subjekts) zu ermöglichen. Daran anknüpfend orientieren sich die Künstler bei der Kunstproduktion seit einigen Jahrzehnten immer weniger am ästhetischen Material, sondern sie spielen gezielt mit möglichst neuartigen ästhetischen Gehalten, die den Rezipienten in einen Erlebniszusammenhang integrieren und eine Reaktion hervorrufen sollen. Diese Veränderungen lassen sich nicht nur im Feld der bildenden Kunst nachzeichnen, sondern betreffen die unterschiedlichsten Sparten, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Immer häufiger etablieren sich dafür auch neue ästhetische Formate, in denen sich die besonderen Ausprägungen verschiedener Sparten (etwa bestimmte Performances oder Interventionen) verbinden.
Sicherlich spielen ästhetische Materialien und Formen bei der Kunstproduktion weiterhin eine Rolle, da darüber selbst gehaltsästhetische Referenzen erzeugt und vermittelt werden können. Im Gegensatz zu den schönen Künsten werden Kunstwerke aber stärker als Träger von Bedeutung begriffen und sind nicht nur wegen ihrer Materialität relevant. Zum besseren Verständnis verweist der Autor auf verschiedene Rezeptionsqualitäten des Künstlerischen und ihre Wirkung auf den Betrachter. Er unterscheidet zwischen Eigenwerten, Übertragungswerten und Reflexionswerten künstlerischer Produktionen, die allesamt die Auseinandersetzung mit der Kunst beeinflussen können bzw. durch diese hervorgerufen werden. Bei den einzelnen Wertspektren handelt es sich um Idealtypen, die sich nicht strikt voneinander abgrenzen lassen, sondern erst durch ihre Wechselwirkungen den ästhetischen Gehalt des Werkes strukturieren.
In vielerlei Hinsicht basieren die Überlegungen von Harry Lehmann auf bereits bekannten Theorien über die Produktions- und Rezeptionsbedingungen des Künstlerischen. Es gelingt ihm allerdings, diese zu einem eigenen Erklärungsrahmen für die weitere Auseinandersetzung mit der gehaltsästhetischen Wende in der Kunstproduktion zusammenzufügen. Angesichts der Vielzahl an Begriffsbestimmungen und Kontextualisierungen ist es extrem hilfreich, dass der Autor seine Überlegungen immer wieder an konkreten Praxisbeispielen (etwa aus der Kunst, dem Design oder der Architektur) präzisiert. Dadurch wird der Zugang in das an vielen Stellen durchaus voraussetzungsvolle Thema erleichtert, was vor allem die Lesefreude fachfremder Personen steigern dürfte. Auch wenn Vorkenntnisse im Bereich der (ästhetischen) Philosophie oder der Kunstwissenschaft empfehlenswert sind, eignet sich das Buch deshalb auch für Forscher oder Praktiker anderer Disziplinen.
Gerade KulturmanagerInnen sollten sich intensiv mit dem Paradigmenwechsel im Kunstfeld beschäftigen, um auf die veränderte gesellschaftspolitische Relevanz des Künstlerischen reagieren zu können. Immer mehr Künstler stellen ganz gezielt die gesellschaftlichen Strukturen der Lebenswelt in Frage und versuchen über das Medium der ästhetischen Erfahrung eine Neuverhandlung des Zusammenlebens zu erreichen. Trotz kritischer Reflexion über diese Entwicklungen ist es nicht von der Hand zu weisen, dass dieser Künstlertyp selbst eine gesellschaftsgestaltende Funktion übernimmt und einfordert. Dadurch verändert sich auch die Art und Weise der Zusammenarbeit mit Künstlern, die verstärkt den abgesicherten institutionellen Kontext des Kulturbetriebs verlassen und direkt im öffentlichen Raum agieren wollen. Diese Veränderungen müssen vom Kulturmanagement bedacht und in der alltäglichen Organisation berücksichtigt werden.
Über den Rezensenten: Henning Mohr ist derzeit Doktorand im DFG-Graduiertenkolleg »Innovationsgesellschaft heute« am Institut für Soziologie der TU Berlin. In seiner Dissertation forscht er über die Funktionalisierung künstlerischer Interventionen in der Stadt- und Regionalentwicklung (am Beispiel der Urbanen Künste Ruhr). Vorher arbeitete der studierte Sozialwissenschaftler u.a. als Referent der Verwaltungsdirektion der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden.
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