09.04.2020

Buchdetails

Koloniales Erbe in Museen: Kritische Weißseinsforschung in der praktischen Museumsarbeit (Edition Museum, Bd. 42)
von Anna Greve
Verlag: Transcript Verlag
Seiten: 266
 

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Autor*in

Aileen J. Becker
promoviert am Max-Weber Kolleg in Erfurt über christliche Gemeinschaftsbildung. Zuvor leitete sie das Projekt "Provenienzforschung" für die Städtischen Sammlungen der Universitätsstadt Tübingen und absolvierte ein Volontariat im Bereich Sammlungsmanagement und Ausstellungen bei der Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz in Kooperation mit dem Historischen Museum der Pfalz Speyer. Sie studierte Archäologie, Geschichte und Altphilologie in Konstanz und Freiburg und ist im Kulturmanagement und der Provenienzforschung zertifiziert.
Buchrezension

Koloniales Erbe in Museen

Deutsche Museen werden von Weißen dominiert. Exponate werden von weißen Kuratoren aus weißer Perspektive ausgewählt und vermittelt. Wie wahrscheinlich ist es demnach, dass sie uns eine multiperspektivische Ausstellung vom kolonialen Erbe liefern? Anna Greve prangert diesen Missstand an und fordert in ‚Koloniales Erbe in Museen‘ einen entsprechenden Dialog darüber.
 
Werkzeugkasten mit Perspektive

Eine wichtige Aufgabe für deutsche Museen wird es künftig sein, sich mit der Aufarbeitung kolonialer Sammlungen zu beschäftigen. Für die zuständigen Verbände steht das bereits auf dem Plan: So erscheint 2020 bereits die erste Novelle des 2019 veröffentlichten Leitfadens ‚Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten‘ des Deutschen Museumsbundes (DMB). Zudem werden über das Deutsche Zentrum Kulturgutverluste (DZK) erste Projekte gefördert, die die Aufarbeitung befördern sollen.* Greve knüpft mit ihrer Publikation, die 2019 bei transcript erschien, an diese politischen und gesellschaftlichen Diskurse an, bedient also ein brandaktuelles Thema.

Ihre Expertise auf dem in Deutschland wenig bekannten Gebiet der Kritischen Weißseinsforschung, der angloamerikanischen Rassismusforschung entstammend, führt sie zu Beginn mit einem Einblick in diesen Forschungsbereich (‚critical whiteness‘) sowie dem terminologischen Gerüst für die adäquate Bezeichnung der Sachverhalte und Personengruppen (z.B. weiße Menschen und Schwarze Menschen) an. Ein Glossar am Ende des Buches hilft ergänzend mit knappen Erklärungen. Greve legt in ihrem Handbuch dar, in welchem Rahmen sie in den vergangenen Jahren für eine Verbreitung und Aufarbeitung der deutschen kolonialen Vergangenheit und ihre Auswirkungen auf die Gegenwart hinarbeitete. Aus diesen Erfahrungen heraus wünscht sie sich mehr Mut für partizipative Ansätze in Museen - im Allgemeinen, aber auch im Speziellen, immer mit dem Ziel einer Öffnung aller deutschen Museen für alle Kulturen. In diesem Sinne schreibt sie eine Art Anleitung für Museumsfachleute, die die rassifizierte Machtdifferenz veranschaulicht, und vermittelt museale Einbindungsperspektiven für die Kritische Weißseinsforschung. Ihre Gliederung der Literatur gibt dabei gut die Kernthemen wieder:
 
  • Weißsein als expliziter Gegenstand
  • Museum und Partizipation
  • Postkoloniale Museologie
  • Kolonialismus und seine Folgen
  • Hautdarstellung in der europäischen Kunstgeschichte
  • Rassismus und der Diskurs um Rasse
  • Kulturgeschichte und Globalisierung
Möglichkeiten der Auseinandersetzung

Die abweichende, formale Gliederung orientiert sich an Fallbeispielen in diversen Interaktionsräumen, die da wären: die Kunstkammern mit ihren exotischen Schätzen, die Heimatmuseen, welche Heimat neu denken müssen, die Landesmuseum, die als soziale Orte der Zukunft egalitäre Begegnungsräume schaffen, die Kunstmuseen, die Topoi konterkarieren und die Weltmuseum, die das Fremde als Ausgangspunkt haben. Daneben bestimmen Stadtdialog und Globaldialog den zeitgenössischen Umgang mit dem kolonialen Erbe. Greve hebt besonders die notwendige Interaktion zwischen den Institutionen wie auch mit Bürgerinitiativen und Universitäten hervor. Sie müssen alle zielorientiert zusammenarbeiten, damit eine gelingende Aufarbeitung möglich ist. Denn man kann die Probleme nicht allein lösen. Jeder braucht den anderen. Was als pathetische Platitude erscheinen kann, hält Greve mit den Grundsätzen eines Museums nicht nur für vereinbar, sondern unabdingbar für ihr (Fort-)Bestehen.

Greve unterstützt und berät als Wissenschaftlerin selbst wichtige Projekte dieser Art, wie etwa 2019 mit den "Ersten Eckpunkten zum Umgang mit Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten" der Verantwortlichen auf bundes- und landespolitischer Ebene sowie mit dem seit 2016 geführten Bürgerdialog zum (Bremer) "Kolonialismus und seine Folgen". In ihrem Buch gibt sie daher ein kulturpolitisches Insiderwissen preis, das immer das große Ganze in den Blick nimmt: "Provenienzforschung, Erinnerungskultur und der Abbau von strukturellem Rassismus in der Gegenwart" (S. 167) müssen sich ergänzen. Andernfalls ist eine Lösung des Problems nicht flächendeckend denkbar.

Sie agiert dabei nicht als advocatus diaboli gegen eine weiße Mehrheit für eine Schwarze Minderheit, die sie unterrepräsentiert sieht, sondern für einen klugen Austausch, der die Diversität und Qualität der Museumsarbeit sicherstellt. Sie befürwortet nachdrücklich ein partizipatives Museumskonzept, bei dem die Bürger ihr Museum mitgestalten und die oligarchische Struktur der konservativen Kulturpaläste sprengt. Sie spricht in diesem Zusammenhang auch von der Nutzbarmachung der "Schwarmintelligenz". Museen würden ihre gesamtgesellschaftliche Relevanz verlieren, wenn sie sich nicht an gesamtgesellschaftlichen Themen beteiligten und Veränderungsprozesse mit austrügen. Sie selbst berät in der Rolle eines Moderators Institute, lässt den Leser an ihren Erfahrungen teilhaben, die von sog. "wilden Museen", welche ausschließlich von Vereinen getragen werden, bis hin zu großen Landesmuseen reichen. Die Lösungen, die sie in Fallbeispielen erläutert, sind alle maßgeschneidert, was aber nicht heißt, dass die Wege der einzelnen Institute nicht von jedem beschritten werden können. Explizit weist sie darauf hin, dass Offenheit für andere Meinungen und Selbstkritik starre Systeme aufbrechen und Museen von selbst in einem evolvierenden Kreislauf unterstützen kann, der Innovationen von selbst generiert. Man müsse sich nur trauen: "incipe"!

Trugschlüsse und Strategien zum Einsatz

Anhand von Objektbiographien zeigt Greve anschaulich, wie schnell man bereits beim kleinsten Nenner, dem Museumsinventar, einem Trugschluss erliegen kann, der sich auf ein rassistisches Vorurteil zurückführen lässt. Hierzu nennt sie beispielhaft sog. Olifanten, mittelalterliche Signalhörner. Solche oft kunstreich verzierten, aus Elfenbein - daher der Name - oder anderem Material gefertigten Hörner, wurden bedarfsorientiert für den an Exotika interessierten, deutschen Markt geschaffen, kamen also nicht als originär afrikanisches Objekt nach Europa. Es waren Auftragsarbeiten. Soweit so bekannt, entwirft Greve an dem Beispiel eine Beweiskette von Vorurteilen, denen wir tagtäglich erliegen, sodass sie sich in unserem Denken manifestiert haben. Wer würde den "Walt-Disney-Film über die amerikanische Prinzessin Pocahontas (1995) als rassistisch gebrandmarkt" sehen wollen?

Diese etablierten Denkstrukturen führen zu einer Verfälschung der Tatsachen, sind aber derart entopisch, dass sie sich nicht einfach beseitigen lassen. So würde beispielsweise ein Schwarzer Besucher die Präsentation einer Ausstellung um Koloniales Erbe völlig anders betrachten als ein weißer Besucher. Um dieser Dissonanz entgegenzuwirken, gibt Greve verschiedene Hinweise: So sollen wir die Museumsbesucher "stärker als aktive Nutzer/-innen der Einrichtungen denn als passive Bildungskonsumenten verstehen" (S. 70), da eine doktrinäre Gestaltung nicht mehr als zeitgemäß empfunden wird. Stattdessen profitierten wir von der Sicht der Besucher und sollten sie bereits in die Konzeption mit einbinden. Dafür muss man offen sein gegenüber fremden Kompetenzen und diese anerkennen, wie auch die eigene Deutungshoheit aufgeben. Immer wieder verweist Greve hier auf universitäre Projekte, die Studierenden zugleich die Möglichkeit geben, ihre akademischen Kenntnisse praktisch zu erproben - eine Win-Win-Situation. Der Austausch rege dazu an, Narrative immer wieder neu zu erzählen, Altes mit Neuem zu verbinden, außerhalb der eigenen Institution nach Verbundpartnern zu suchen, die innerhalb von absehbaren Projekten gemeinsam Ziele entwickeln und realisieren.

Kritik und Fazit

Das Handbuch bietet einen guten Überblick, welcher konkrete Vorschläge zum Paradigmenwechsel im Umgang mit kolonialem Erbe beinhaltet. Sie gibt dabei wichtige Anstöße, die nun nur noch nachhaltig und breitflächig umgesetzt werden müssen. Daher empfehle ich die anregende Einführung von Frau Greve als Einstieg in das Thema.

Was Greve in ihrer Auflistung jedoch vollkommen außen vor lässt, sind Universitäten und andere Forschungsinstitutionen. Diese dienen nicht nur als Pool für Ideen angehender Wissenschaftler und junger Akademiker, die man für seine Institution über eine beiderseits gewinnbringende Kooperation nutzbar machen kann, sondern sind selbst mit ihren wissenschaftlichen Sammlungen in den Blick der Provenienzforschung geraten und deren Aufarbeitung auch rege anstreben, wie etwa in Bezug auf Human Remains die Sammlungen in Berlin, Tübingen und Dresden das augenfällig vorführen.** Auch für sie sind die von Greve genannten Schritte und Hinweise sinnvoll und gut zu realisieren. Weißsein als Analysekategorie im Museum zu begreifen, geht über political correctness hinaus, baut Brücken innerhalb der Gesellschaft, wo Museen vorher unbewusst oder bewusst Mauern errichteten.
 
__________________
 
** siehe die Beispiele in: Sandra Mühlenberend, Jakob Fuchs, Vera Marušic (Hg.): Unmittelbarer Umgang mit menschlichen Überresten in Museen und Universitätssammlungen. Statements und Fallbeispiele, 2018, speziell S. 134-163. online: https://wissenschaftliche-sammlungen.de/files/1815/4469/5645/Unmittelbarer-Umgang-mit-menschlichen-berresten-in-Museen-und-Universittssammlungen.pdf (letzter Zugriff: 11.12.2019).
 

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