11.03.2022
Buchdetails
Soziokultur in ländlichen Räumen: Die kulturpolitische Herausforderung gesellschaftsgestaltender Kulturarbeit
von Beate Kegler
Verlag: Kopd Verlag
Seiten: 350
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Autor*in
Jana Lübeck
Jg. 1984, studierte Kultur und Management an der Hochschule Zittau/Görlitz (B.A.) und Moanagement von Kultur- und Non-Profit-Organisationen an der TU Kaiserslautern (M.A.). Sie arbeitete bereits während ihres Bachelorstudiums in zahlreichen Kulturprojekten in ihrer Heimatstat Görlitz. Dort organisierte Stadtfeste, Musikveranstaltungen, Bürgerfeste und ist selbst in Netzwerken der Soziokulturszene aufgewachsen, gründete 2012 den Kulturverein Wildwuchs e.V. 2009 bis 2011 arbeitete sie für die Staatlichen Kunstsammlungen Dresden als Projektassistenz für die 3. Sächsische Landesausstellung via regia 2011 in Görlitz und "300 Meissner Porzellan", eine Doppelausstellung in Dresden und Berlin 2010.
2013/14 war sie für das landkreisweite Projekt "Lernen vor Ort" im Bildungsmarketing beim IBZ St. Marienthal tätig. Am Gerhart-Hauptmann-Theater Görlitz-Zittau arbeitet sie 2015 bis 2018 als Orchestermanagerin. Ende 2018 bis Mitte 2021 leitete sie das Mehrgenerationenhaus in der Hillerschen Villa in Zittau, einem Zentrum für Soziokultur im Dreiländereck Deutschland-Tschechien-Polen. Sie betreibt mit anderen Künstler*innen der Region seit 2014 den Offspace NEUN GÖRLITZ in der Görlitzer Altstadt und ist seit 2016 Teil des Netzwerks der Engagierten Stadt Görlitz. Die NEUN GÖRLITZ ist derzeit Teil des Forschungsprojektes "Stadt der Zukunft auf Probe - ein Wohn- und Arbeitsexperiment für ein klimaneutrales Görlitz" des IZS. Derzeit arbeitet sie als Regionalmitarbeiterin für die Abgeordneten der Fraktion DIE LINKE im Sächsischen Landtag. Seit 2019 engagiert sich Jana Lübeck ehrenamtlich als Stadträtin in Görlitz und setzt sich für die Themen Kultur, Bildung, Jugend und Leerstandsnutzung ein.
Buchrezension
Soziokultur in ländlichen Räumen
Die Soziokultur ist eine Pflanze, die man gewissenhaft pflegen muss. Vor allem auf dem Land. Beate Kegler weiß das, und hat sich mit ihrer Dissertation in die Weiten der ländlichen Soziokultur Niedersachsens begeben. Doch Forschung allein reichte ihr nicht - am Ende stehen Forderungen für mehr Mut, mehr Geld und vor allem mehr Zusammenarbeit aller Beteiligten.
Die Bedeutung der der Soziokultur in ländlichen Räumen - von der Beobachtung zur Empirie
Die von Beate Kegler vorgelegte Publikation ist eine umfangreiche und gründliche Forschungsarbeit, die 2019 im kopaed Verlag erschienen ist. Auf ca. 400 Seiten werden in wissenschaftlicher Sprache und mit klarer Gliederung die Ergebnisse ihrer langjährigen Forschungen, Beobachtungen und Erfahrungen in und mit Soziokultur in Niedersachsen dargelegt. Ihre Studie "Soziokultur in ländlichen Räumen" wurde am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim als Dissertation vorgelegt.
Kegler kartographiert die Landschaft der soziokulturellen Szene in Niedersachsen und untersucht die gesellschaftsgestaltenden Potentiale der soziokulturellen Einrichtungen und wie sie sich auf die Entwicklung ländlicher Räume beziehen, den Rahmenbedingungen und Herausforderungen. Daraus leitet sie kulturpolitische Handlungsempfehlungen ab. Kegler greift dafür auf eine Vergleichsanalyse zurück und geht am Ende auch auf eine Politikfeldanalyse ein. Ebenso bringt sie bisher noch nicht miteinander in Verbindung stehende soziodempgraphische Daten zusammen, um sich "dem" ländlichen Raum endlich einmal wissenschaftlich anzunähern und einzugrenzen.
Der ländliche Raum gilt oftmals als ein Zufluchtsort, an dem Sinnsuche stattfindet und Überschaubarkeit herrscht. Zwei Arten von Dorftypus sind in der Vorstellung vom "Lande" zu identifizieren: Entweder vorindustrielles, glückliches weil einfaches Dorfleben; ein Zustand, in dem sich die Bewohner*innen untereinander kennen und man in kleiner Gemeinschaft lebt. Oder das Landleben als rückständiges, bildungsfernes und provinzielles Dasein, das im Gegensatz zum urbanen Raum steht. Betrachtet aus einer wissenschaftlichen Sicht, ist "ländlicher Raum" der "nicht urbane" Raum, der jedoch sehr unterschiedlich ausgeprägt ist. Das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) teilt ein in städtische Räume (kreisfreie Großstädte, städtische Kreise) und somit alles Übrige als ländliche Räume. Dazu zählen dann: ländliche Kreise mit Verdichtungsansätzen und dünn besiedelte ländliche Kreise. Ersteres sind alle Kreise mit einem Bevölkerungsanteil in Groß- und Mittelstädten von min. 50 Prozent, aber einer Einwohnerdichte unter 150 Einwohner*innen pro qkm sowie Kreise mit einem Bevölkerungsanteil in Groß- und Mittelstädten von mind. 100 Einwohner*innen pro qkm. Als dünn besiedelte ländliche Kreise werden Kreise mit einem Bevölkerungsanteil in Groß- und Mittelstädten unter 50 Prozent und Einwohnerdichte ohne Groß- und Mittelstädte unter 100 Einwohner*innen pro qkm (siehe S. 32; Quelle BBSR 2014). Dies ist die siedlungsstrukturelle Raumtypisierung, dazu kommt dann noch eine Charakterisierung nach der räumlichen Lage mit Bezug zur erreichbaren Tagesbevölkerung (Pendler*innen). Dabei unterscheidet man in sehr zentrale, zentrale, periphere und sehr periphere Lage (S. 35, Quelle BBSR). Bringt man nun die beiden Merkmale zusammen, ergibt sich ein sehr differenziertes Bild von "ländlichen Räumen". Auch weitere Merkmale können noch hinzukommen, z.B. die Wirtschaftsstruktur.
Später in diesem Text werden die Raumtypisierungen noch erläutert. Sie dienen Kegler für die Einordnung der soziokulturellen Zentren in ein Raster um deren Verortung in eben jenen ländlichen Räume zu unterscheiden (Abschnitt II, Kapitel 5. Typisch Land - Ländliche Räume in Niedersachsen).
Ein Buch in sechs Bänden - die erste Hälfte beschreibt Schnittmengen, Feldränder und macht Tiefenbohrungen
Teil I heißt ganz simpel "Soziokultur in ländlichen Räumen - Einführung" und geht über in Teil II "Soziokultur erforschen - Begriffe und Methodik". Darin erläutert die Autorin unter der Überschrift "Umschreibungen von Diversität"(Kapitel 3), dass "Soziokultur ist Vielfalt" zutrifft und sich keine allgemeingültige Aussage über "die" Soziokultur treffen lässt. Daher wird eine Arbeitsdefinition geliefert, die zwar sperrig daherkommt, aber wichtig ist um eine Basis für die weiteren Ausführungen zu schaffen. Beim Begriff "Soziokulturelle Einrichtung" wird es dann schon kürzer - er bezeichnet "all jene Erscheinungsformen der Soziokultur, die auf Dauer angelegt sind, im Rahmen einer festgelegten Rechtsform kontinuierlich soziokulturell agieren und weitestgehend ortszentriert sind". Wichtiger noch ist die "soziokulturelle Initiative" - eine "Erscheinungsform, die aus bürgerschaftlichem Engagement heraus entstanden (ist), um soziokulturelles Handeln unabhängig von ihrer aktuellen Rechtsform zu initiieren" (S. 36). Dazu zählen auch Initiativen, "die ohne ortsspezifisches Zentrum agieren". Unter der Überschrift "Das Feld erforschen" (Kapitel 4) wird die Methodik der vorliegenden Arbeit erklärt, zum einen die qualitative Sozialforschung, zum anderen quantitative Auswertungen. Schwerpunkt bilden vor allem Interviews mit Expert*innen und Feldforschung sowie langjährige teilnehmende Beobachtung der Autorin.
Beate Kegler akkumuliert in ihrer Arbeit ihre eigenen Erfahrungen und überführt diese in Schemata, um Ergebnisse nachvollziehbar und vergleichbar zu machen. Unter "Typisch Land - Ländliche Räume in Niedersachsen" (5) und "Typisch Soziokultur - Soziokulturelle Einrichtungen und Initiativen in Niedersachsen" (6) geht es zum einen um die Raumtypen und zum anderen um die Betriebsformen soziokultureller Einrichtungen. Mit "Wer ist wer und wer befindet sich wo?" könnte man diese Einordnungen beschreiben, die die Grundlage für Teil V "Tiefenbohrungen im Forschungsfeld - Bestandsanalyse" bilden. Eingeschoben wird in Teil IV "Schnittmengen und Grenzen der Feldränder - Vergleichsanalyse" die "Soziokultur urbaner Räume" (7) und die "Breitenkultur ländlicher Räume" (8). In der Bestandsanalyse (Teil V) wird näher auf den Forschungsgegenstand eingegangen und "Forschung im Mikrokosmos der Soziokultur in ländlichen Räumen" (9) betrieben.
Unterschiede zwischen Soziokultur ländlicher Räume Niedersachsens, Schnittmengen in Bezug auf Breitenkultur und kulturpolitische Rahmenbedingungen rücken in den Fokus der "Analyse der ausgewählten Einrichtungen und Initiativen" (10). Hierbei wird mit dem Auswahlraster Verortung-zu-Einrichtungstypus (Abb. 28, S. 191) gearbeitet, wo sich die Verortungen
A stabiler zentrumsnaher Raum,
B strukturschwacher peripherer ländlicher Raum und
C schrumpfender sehr peripherer Raum
wiederfinden und dem jeweils einer dieser Typen
a Lebensmodell Soziokultur,
b Bürgerinitiative Soziokultur und
c Berufsfeld Soziokultur.
zugeordnet wird.
Zu fast jeder Kombination wird ein Fallbeispiel ausführlich beschrieben. In den Beschreibungen finden sich Zitate der Akteur*innen aus den Interviews, was es recht anschaulich werden lässt. Die Analyse folgt dem Aufbau: Ländlicher Raum, Orte/Ausstattung, Inhalte/Ziele/Betriebsmodell/Methoden, Kultur- und gesellschaftspolitische Bedeutung, Rahmenbedingungen und Herausforderungen.
Handlungsempfehlungen für Entscheider*innen und Akteur*innen - Teil VI Gesellschaftsgestaltende Kulturarbeit
Wer wissen will, wie es ausgeht, oder selbst aus dem Forschungsfeld kommt, der fängt mit der Lektüre gleich in Teil VI "Gesellschaftsgestaltende Kulturarbeit in ländlichen Räumen - Handlungsempfehlungen" an. Die letzten drei Kapitel richten den Blick auf "Die Gestaltung von Gesellschaft" (11), "Die gesellschaftspolitische Bedeutung von Soziokultur" (12) und "Kulturpolitik für ländliche Räume" (13). Das Modell Good Governance und bestehende Förder- sowie Beteiligungsstrukturen werden erklärt, die Ebenen der Entscheider*innen über Finanzierung und Inhalte aufgelistet.
Die Soziokultur auf dem Land braucht mehr als nur Anerkennung
Die Quintessenz aus der Forschung wird in "Potentiale" (12.1) dargelegt, aus welchen in Kurzform folgende "Bedarfe" (12.2) abgeleitet werden:
- institutionelle Sicherung,
- mehrjährige Förderzeiträume,
- weniger Bürokratie,
- hauptamtliche Unterstützung des Ehrenamtes,
- Begleitung der strukturellen Prozesse und aufsuchende Fachberatung,
- Nachfolge sowie kulturpolitische Kooperationspartnerinnen.
Letzteres ist gerade in Zeiten von demokratiefeindlichen Bestrebungen gepaart mit knappen Kassen der Kommunen ein immer schwerer zu deckender Bedarf.
Darauf aufbauend, spricht Kegler für Bund, Länder und Kommunen verschiedene Handlungsempfehlungen (13.1) aus. So braucht es auf Bundesebene ressortübergreifende Kooperationen, ein bundesweites Modellprojekte zur Untersuchung der Einrichtungen in ländlichen Räumen und wie sie Transformationsprozesse meistern, um daraus Gelingensbedingungen abzuleiten, was nur durch Zusammenführung verschiedener Programme und Praxisforschung gelingen kann. Grundlage dafür sind existierende Programme und Statistiken sowie der Austausch der Akteur*innen untereinander. Kegler empfiehlt zum Beispiel, TRAFO fortzusetzen, um unter anderem die "Nachhaltigkeit der Vitalisierung ländlicher Räume" zu untersuchen (vgl. S. 373).
Auf Landeseben wird ähnliches empfohlen: Zusammenarbeit zwischen den Ministerien, soziokulturelle Einrichtungen zu stabilisieren und Bürokratie abzubauen. Ebenso sollten zur Nachwuchsförderung entsprechende Qualifizierungen an Hochschulen angeboten werden; auch aufsuchende Beratung und Begleitung der Akteuer*innen zu gewährleisten, ist eine der genannten Aufgaben.
Die Kommunalebene erhält die Empfehlung, die Entscheider*innen im Umgang mit Soziokultur zu schulen, die Akteur*innen einzubeziehen und deren langfristige Finanzierung zu sichern. Auch das dürfte nicht nur für Niedersachsen gelten. Den Akteur*innen gibt Kegler mit auf den Weg: dranbleiben, kooperieren, sich der eigenen Stärken und Schwächen bewusst werden und sich mit anderen zusammentun.
Denn letztlich ist ihr Fazit: Soziokultur ländlicher Räume deckt genau die Bedarfe, die da sind. Es fehlt aber oftmals an genau dieser Erkenntnis, dem eigenen Bewusstsein für diese starke Leistung und der Unterstützung auf allen Ebenen - dem muss entgegengewirkt werden!
Keine Lektüre für zwischendurch - aber für jede*n etwas dabei
Wer sich tiefgründig, wissenschaftlich und kulturpolitisch mit Soziokultur befassen möchte oder muss, der*die lese dieses Buch. Oder den Teil, der von Interesse im eigenen Handlungsfeld ist. Die sechs Teile können unabhängig voneinander gelesen werden und bieten dadurch jeder*jedem Leser*in an, sich mit dem gewünschten Schwerpunkt zu befassen. Die Publikation ist aus einem wissenschaftlichen Kontext entstanden und so muss man beim Lesen einiges Vorwissen sowie Geduld mitbringen, um alles zu durchdringen. Allerdings wäre eine andere als die vorliegende Form kaum möglich gewesen, da die Zusammenhänge nachweislich und chronologisch dargelegt werden.
Die im letzten Kapitel ermittelten Bedarfe und daraus resultierenden Handlungsempfehlungen sind nichts überraschend Neues, sie finden sich bei Landesverbänden, in Lobbyverbünden oder auch von Akteur*innen und Einrichtungen selbst. Beate Kegler allerdings hat es geschafft, die Handlungsempfehlungen für Kulturpolitik für ländliche Räume am Beispiel Niedersachsens auf eine solide wissenschaftliche Basis zu stellen. Diese ließen sich durchaus auf andere Bundesländer übertragen. Sie so kompakt und präzise zu lesen sowie endlich Belege für deren Existenz vorzufinden, ist aber vorher noch für kein Bundesland erfolgt.
Für Studierende aus Sozial(pädagogischen)- und Kulturwissenschaften bietet die Publikation eine gute Grundlage zur Erforschung von Strukturen soziokultureller Einrichtungen, die aus der Praxis stammt, nicht aus der Theorie. Für die Regionalentwicklungsforschung und politische Entscheider*innen ist es ebenfalls ein wichtiger Baustein für zukünftige Forschung und Arbeit. Auch wer sich mit dem Thema freiwilliges und ehrenamtliches Engagement in ländlichen, strukturschwachen Räumen auseinandersetzen möchte, findet hier interessante Beispiele und die gut strukturierten Handlungsempfehlungen. Auch das Literaturverzeichnis ist ein reichhaltiger Schatz, der hervorhebend zu erwähnen ist.
Ein Buch, das neue Maßstäbe setzt und Forschung sowie Praxis gleichermaßen anspricht.
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