18.07.2024

Buchdetails

Sophie Scholl auf Instagram: Eine geschichtsdidaktische Rezeptionsstudie (Young Academics: Pädagogik)
von Sarah Fußel
Verlag: Tectum
Seiten: 74
 

Buch kaufen (Affiliate Links)

Autor*in

Anna Strache
studierte Geschichte und Kunstgeschichte in Greifswald und Berlin sowie Journalismus und ist ehrenamtlich im Kulturbereich tätig. Dabei betreut sie u.a. den Instagram-Account @fontanekosmos der Fontane-Festspiele Neuruppin.
Buchrezension

Sophie Scholl auf Instagram

Die Vermittlung von Erinnerungskultur hat in den Sozialen Medien durchaus Platz, wie etwa das interaktive Instagram-Projekt "Ich bin Sophie Scholl" zeigt: Denn junge Menschen sind prinzipiell sehr interessiert an dieser digitalen Art des Lernens und reagieren unterschiedlich auf das Projekt. Besonders Emotionen spielen dabei eine große Rolle, was Sarah Fußel in ihrer Studie "Sophie Scholl auf Instagram" untersuchte.
 
Entwickeln Menschen ein reflektiertes Geschichtsbewusstsein mithilfe von Instagram?
 
Sarah Fußels geschichtsdidaktische Rezeptionsstudie ist eine studentische Abschlussarbeit und erschien 2023 im Tectum Verlag in der Reihe "Young Academics" im Bereich Pädagogik als erster Band. Darin untersucht sie das Projekt des Instagram-Accounts @ichbinsophiescholl, das als Koproduktion der Fernsehsender SWR und BR vom 30. April 2021 bis 26. Februar 2022 anlässlich des 100. Geburtstags von Sophie Scholl entstand. Die Schauspielerin Luna Wedler schlüpfte in die Rolle der Widerstandskämpferin, in deren Alltag das Projekt mit Fotos, Videos und Grafiken intimen Einblick gab. Das genutzte historische Originalmaterial, die Requisiten und Schauplätze versetzten die User*innen in die Zeit der NS-Diktatur, die so in nachempfundener Echtzeit an den letzten zehn Monaten im Leben von Sophie Scholl teilhaben können sollten. Das Ziel von Sarah Fußels Arbeit: Herausfinden, ob Menschen mithilfe des Instagram-Projektes ein reflektiertes Geschichtsbewusstsein entwickeln. Das Konzept des reflektierten Geschichtsbewusstseins bedeutet, dass man sich den Unterschied von Vergangenheit und Geschichte bewusst macht und erkennt, dass eigene Vorstellungen von Vergangenheit subjektiv und wandelbar sind. 
 
Erinnerungskultur und Bildung im digitalen Wandel
 
Die Autorin beabsichtigt mit ihrer Arbeit eine Forschungslücke zu schließen, da das Projekt bisher noch nicht vollständig geschichtsdidaktisch analysiert wurde. Deshalb hat das Thema der Rezeptionsstudie einen hohen Neuigkeitswert. 2023 gab es einen Aufsatz von Christian Kuchler über das Instagram-Projekt @ichbinsophiescholl sowie einen von ihm und Mia Berg herausgegebenen Sammelband. Sarah Fußels Arbeit ergänzt diese und beschäftigt sich ausführlich und auf empirischer Weise mit dem Projekt. Dazu hat sie das Projekt tagesaktuell begleitet und 340 von den insgesamt 401 Instagram-Beiträgen nach drei Kategorisierungen geordnet und ausgewertet. Die drei Kategorisierungen befassen sich mit der Kommunikation des Projekt-Teams, den Reaktionen der User*innen auf die Figur "Sophie Scholl" und der Rolle von Emotionen. Außerdem protokollierte sie 346 Kommentare.
 
Generell
 
Generell gibt es vergleichsweise wenig deutschsprachige Monografien, die sich mit Geschichtsdidaktik und den Sozialen Medien beschäftigen. Sicherlich liegt das auch daran, dass es die Plattformen erst seit 15 Jahren gibt. Das wohl meist zitierte Werk, auch der Autorin, ist "Geschichte in den Social Media: Nationalsozialismus und Holocaust in Erinnerungskulturen auf Facebook, Twitter, Pinterest und Instagram" von Hannes Burkhardt, erschienen 2021. Trotz der übersichtlichen Forschungslage fällt der Literaturüberblick zum Thema in der Einleitung auffallend knapp aus. Die Autorin nennt lediglich zwei Bücher und Christian Kuchlers Aufsatz zum Projekt erwähnt sie nur in einer Fußnote. Allerdings nehmen sowohl die Literatur[1] als auch die Diskussionen zum digitalen Wandel im Kultur- und Bildungsbereich und der Erinnerungskultur zu. Insofern spielt es eine immer größere Rolle, wie Bildungseinrichtungen Geschichte digital vermitteln und die sozialen Medien nutzen. Mit interaktiven Projekten wie "Ich bin Sophie Scholl" auf Instagram kann man zahlreiche Menschen verschiedener Altersklassen erreichen, denn Stand 2022 ist Instagram eines der am meisten genutzten sozialen Netzwerke in Deutschland. Die Entwicklung und empirische Auswertung solcher digitalen Bildungs-Projekte stehen allerdings noch am Anfang und werden immer wichtiger für den Bildungsbereich - insbesondere angesichts der Tatsache, dass Projekt "Ich bin Sophie Scholl" eben nicht aus einer Bildungsinstitution heraus entstanden ist und noch während seiner Laufzeit von verschiedenen Seiten intensiv kritisiert wurde, unter anderem wegen falscher oder verklärender Darstellungen der NS-Zeit, zu wenig Differenzierung und mangelnder einordnender Communityarbeit. Zudem beeinflusst die Digitalisierung das Leben von immer mehr Menschen im sozialen, beruflichen und privaten Bereich.
Geschichtsdidaktik und Geschichtskultur
 
Sarah Fußels Buch weist als studentische Abschlussarbeit eine klare und übersichtliche Struktur auf, die selbsterklärend ist und dem Thema angemessen: So ist ihr Buch mit 65 Seiten gegliedert wie eine typische wissenschaftliche Arbeit - in Einleitung, Hauptteil und Schluss. Bevor die Autorin ihre Studie auswertet, erklärt sie das Thema und ihre Leitfrage. Sie arbeitet gut heraus, wie wichtig ihre Arbeit als Beitrag der Geschichtsdidaktik und Geschichtskultur ist, weil sie damit ein aktuelles Thema aufgreift und eine Forschungslücke zu schließen hilft. Geschichtskultur ist die uns im Alltag umgebende Geschichte, von der wir nachhaltig lernen. Leider lesen sich die Einleitung und das Kapitel zum Vorgehen und zur Methodik der Rezeptionsanalyse zum Teil ziemlich schwer, weil sie sehr viele Definitionen und Substantivierungen enthalten. Es ist zwar wichtig, dass bestimmte Begriffe zum Thema erklärt werden, aber die Autorin hätte sie für das bessere Leseverständnis nochmal mit ihren eigenen Worten erklären sollen. 
 
Gut gewählte Zitate und informative Fußnoten
 
Um das Instagram-Projekt vorzustellen und dessen Entstehung und Umsetzung zu beschreiben, nutzt Fußel Zitate des SWR als Projekt-Initiator und der historischen Beraterin Dr. Maren Gottschalk, die gut gewählt sind. Sie reihen sich in den Text ein und sind weder zu viel noch zu wenig. In den Fußnoten kann man alle Quellen zurückverfolgen und bekommt weiterführende Informationen. So wird der Lesefluss nicht unterbrochen. Fußel zeigt auf, dass die User*innen mit "Sophie" in Kontakt kommen wollten und Fragen stellten, die das Projekt-Team mithilfe von Literaturhinweisen beantwortete. Dabei stimmten zeitliche Gegebenheiten und Seitenangaben in Account und Printmedium teilweise nicht überein. Diese inhaltlichen und formalen Fehler belegt Fußel anhand von fünf Beispielen, die sie auf vier Seiten im Detail bespricht. Ein einzelnes Beispiel als Veranschaulichung hätte jedoch gereicht. Diese Passage im Buch ist zu ausführlich. Dass Fußel alle Literaturhinweise selbst geprüft hat, ist zwar lobenswert, bringt ihrem Buch aber keinen Mehrwert. Vielmehr hätte sie konstruktiver mit ihrer Kritik umgehen und begründen können, warum diese Fehler des Projekt-Teams schwierig sein und was das Team hätte besser machen können.
 
Eine gelungene Rezeptionsstudie mit empirischem Aufwand
 
Der große Mehrwert des Buches ist die Rezeptionsanalyse selbst. Sarah Fußel hat in detaillierter Kleinstarbeit zehn Monate lang täglich das Projekt protokolliert und ausgewertet. Das ist eine große empirische Leistung. Bevor ihre Analyse beginnt, gibt die Autorin eine kurze Einführung zu Instagram. Funktionen, Beitrags-Formate und Gemeinschaftsrichtlinien werden kurz und verständlich erklärt. So werden auch Leser*innen abgeholt, die selbst nicht Instagram nutzen. Im Anhang befindet sich auch eine Begriffsliste zu Instagram für diese Leser*innen. Die Analyse liest sich sehr leicht und flüssig aufgrund der einfachen und bildhaften Sprache. Die Beispiele der Instagram-Beiträge und der Kommentare von den User*innen hat Sarah Fußel gut ausgewählt. Außerdem zeigt die Autorin Screenshots von einigen thematisierten Instagram-Beiträgen, wodurch die Arbeit abwechslungsreich und anschaulich wird. 
 
Die Rezeptionsanalyse ist in drei Kapitel gegliedert, die Fußels drei Kategorisierungen der Instagram-Beiträge entsprechen. Jedes Kapitel baut auf das vorherige auf. Zuerst betrachtet sie aus der Sicht des Projekt-Teams die Kommunikation beim Storytelling. Dann analysiert sie, wie die User*innen auf die Figur "Sophie Scholl" reagieren, wobei sie als letztes die Rolle der Emotionen und Gefühle in den Reaktionen untersucht. Sarah Fußel fasst ihre Ergebnisse am Ende des jeweiligen Kapitels gut zusammen und leitet geschickt über in das nächste Kapitel. 
 
Vor allem die vielen prägnanten Beispiel-Kommentare sprechen für sich und zeigen, wie emotional die User*innen auf die Beiträge reagierten und wie sehr sie sich in die Figur der Widerstandskämpferin hineinversetzten. So hatten viele User*innen ein sehr mulmiges Gefühl bezüglich der herannahenden Hinrichtung von Sophie Scholl. Im Juni 2021 schrieb ein*e User*in: "Ich kann es nicht mehr mitmachen, so tun als wärest Du noch da und dein Schicksal wäre mir nicht bekannt." Die Autorin zeigt auf, dass es neben dieser Gruppe der Rezipient*innen, die sich auf das Gedankenexperiment einließ, noch zwei andere gab. So forderte die zweite Gruppe geschichtliche Authentizität und Fakten, während die letzte Gruppe wollte, dass Fiktion und Faktizität klar voneinander getrennt werden sollten. Das Projekt-Team setzte die Bitte nach Transparenz um und entschied sich dafür, die geplante fiktive Geschichte von Sophie Scholl und die Faktengrundlagen voneinander zu trennen. Die unterschiedlichen Reaktionen der Rezipierenden zeigen, dass die Geschichtsdidaktik auf Instagram zwar gut funktioniert, aber es viel Erklärung und eine Vermittlerrolle bedarf zwischen Medium und Rezipierenden.
 
Emotionen spielen eine große Rolle beim historischen Lernen
 
Sarah Fußel resümiert am Ende der Arbeit ihre Ergebnisse und gibt einen Ausblick zum Thema. Sie beantwortet schlüssig ihre Leitfrage und stellt deutlich heraus, dass die User*innen das Instagram-Projekt gut annahmen und individuelle Erfahrungen machten, was ein Merkmal des historischen Lernens ist. Die große Rolle der Emotionen als zentrale Kategorie des historischen Lernens arbeitet die Autorin sehr gut heraus: So konnten sich die User*innen mit einer jungen Frau wie Sophie Scholl identifizieren, denn Gefühle wie Liebe, Hass, Wut, Schmerz und Trauer bestimmten auch ihre Alltagswelt. Im Großen und Ganzen hält Fußels Buch, was es verspricht, und gibt einen guten Einblick in das erste deutsche Instagram-Projekt dieser Art. 
 
Studierende und Lehrende als Zielgruppe
 
Die Rezeptionsstudie ist besonders relevant für Studierende und Lehrende in den Fächern Geschichte und Public History. Sie können das Thema im Studium oder im Schulunterricht aufgrund der Aktualität gut aufgreifen. Außerdem können sie das Literaturverzeichnis und die Internetquellen im Buch für eine vertiefende Auseinandersetzung mit dem Thema nutzen. Auch für Lehrende, die sich kaum mit Instagram auskennen, ist das Buch geeignet. Es ist aber auch für Historiker*innen, Journalist*innen und Social-Media-Manager*innen interessant, die sich mit geschichtlichen Themen beschäftigen. Sie können auf Basis der Kenntnisse aus dem Buch eigene Inhalte erstellen, die für eine breitere Öffentlichkeit als Zielgruppe geeignet sind, sollten dafür aber auch die Kritik an dem Projekt von Seiten der Fachdiaktik beachten. So erleben Menschen Erinnerungskultur anders als im Geschichtsunterricht und können vielschichtige Erfahrungen machen mithilfe der Sozialen Medien. Außerdem ist die Studie für Kommunikationswissenschaftler*innen von Interesse, die Soziale Medien erforschen. 
 
Der Bezug zum Kulturmanagement ist vor allem als erweiterter Kulturbegriff unter dem Aspekt von "Kultur als Bildung" erkennbar. Darin liegen neue Chancen der Kulturvermittlung. Durch die Sozialen Medien wird es einfacher, breitere Zielgruppe anzusprechen und neue digitale Lernorte für sie zu öffnen.
 
Fußnoten
 
[1] Das neueste Buch zum Thema ist aus dem Jahr 2024: "Erinnerungskultur und Holocaust Education im digitalen Wandel: Georeferenzierte Dokumentations-, Erinnerungs- und Vermittlungsprojekte" aus der Buchreihe "Public History - Angewandte Geschichte" des Verlages transcript.

Bücher rezensieren

 
Möchten auch Sie Bücher für Kultur Management Network rezensieren? In unserer Liste finden Sie alle Bücher, die wir aktuell zur Rezension anbieten:
 
Schreiben Sie uns einfach eine Mail mit Ihrem Wunschbuch an
Kommentare (0)
Zu diesem Beitrag sind noch keine Kommentare vorhanden.

Unterstützungsabos

Mit einem Unterstützungsabo unterstützen Sie die kostenfreien Inhalte unserer Redaktion mit einem festen Betrag pro Monat – also unser Magazin, unseren Podcast, die Beiträge und die Informationen zu Büchern, Veranstaltungen oder Studiengängen auf unserer Website. 

5€-Unterstützungsabo Redaktion

Mit diesem Abo unterstützen Sie unsere Redaktion mit 5€ im Monat. Das Abonnement ist jederzeit über Ihren eigenen Account kündbar.

Preis: 5,00 EUR / 1 Monat(e)*

15€-Unterstützungsabo Redaktion

25€-Unterstützungsabo Redaktion

* Alle Preise sind inkl. der gesetzl. Mehrwertsteuer, zzgl. evtl. anfallenden Gebühren
Cookie-Einstellungen
Wir setzen auf unserer Website Cookies ein. Einige von ihnen sind notwendig (z.B. für den Stellenmarkt), während andere uns helfen, unsere Angebote (Redaktion, Magazin) zu verbessern und wirtschaftlich zu betreiben. Einige Angebote können nur genutzt werden, wenn Cookies gesetzt wurden.
Sie können die nicht notwendigen Cookies akzeptieren oder per Klick auf die graue Schaltfläche ablehnen. Nähere Hinweise erhalten Sie in unserer Datenschutzerklärung.
Ich akzeptiere
nur notwendige Cookies akzeptieren
Impressum/Kontakt | AGB