05.03.2021

Buchdetails

Elfenbeinturm oder Kultur für alle?: Kulturpolitische Perspektiven und künstlerische Formate zwischen Kulturinstitutionen und Kultureller Bildung
von Julius Heinicke, Katrin Lohbeck
Verlag: Kopd Verlag
Seiten: 171
 

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Autor*in

Johannes Mnich
(*1985) ist Intendant der TauberPhilharmonie. Nach einem Klavierstudium in Hannover und London arbeitete er zunächst beim BASF-Kulturmanagement in Ludwigshafen und später als Projektleiter Festival Akademie beim Heidelberger Frühling. Seit Mai 2018 verantwortet er in Weikersheim (Baden-Württemberg) Deutschlands neuestes Konzerthaus.
Buchrezension

Elfenbeinturm oder Kultur für alle?

Kulturelle Bildung ist seit Jahren in aller Munde. Im Zentrum steht dabei oft die Betrachtung des sog. Elfenbeinturms als Gegensatz zur Teilnahme und Teilhabe aller. Einen Status quo der entsprechenden Schnittstellen versucht dabei der Sammelband "Elfenbeinturm oder Kultur für alle?" zu umreißen, der von Grundbetrachtungen bis zur Fachdidaktik und interkulturellen Projekten reicht.
 
Die von Julius Heinicke und Karin Lohbeck herausgegebene Schriftensammlung, die 2020 im kopaed Verlag erschien, vereint Texte aus dem Umfeld des Forschungsprojekts "Schnittstellen zwischen Hochkultur und Kultureller Bildung” an der Hochschule für angewandte Wissenschaften Coburg. Die Publikation nimmt dabei für sich in Anspruch, eine Übersicht über den aktuellen Stand des Projekts und Überlegungen, gerade mit Blick auf eine gezielt ausgewählte Stadt (Coburg in Oberfranken) abzubilden.

Nach einem Vorwort der Herausgeber*innen sind die rund 170 Seiten in drei Teile gegliedert: den Anfang machen drei Appelle, die gewissermaßen auf der Metaebene die Rolle von kultureller Bildung für die Gesellschaft und insbesondere das Spannungsfeld des berühmt-berüchtigten Elfenbeinturms und der Kultur für alle aufspannen. Im zweiten Teil, "Räume und Formate: State of the Art(s)”, geht es in vier Beiträgen um die Rolle von (Theater-)Kultur im ländlichen Raum, eine fachdidaktische Perspektive und den Versuch einer Präsentation gegenwärtiger Programmentwicklung und -Veränderung in öffentlich getragenen Theatern. Den dritten Teil "Visionen und Innovationen: Transkulturell, digital und postkolonial?” bilden zwei ausführliche Projektbeschreibungen aus Coburg, die im Rahmen des Forschungsprojekts realisiert wurden.

Klingt erstmal sehr vielseitig…

… und ist es auch, was sicherlich in der Natur der Sache bzw. an den vielen Facetten der Causa "Kulturelle Bildung” liegt. Der "Elfenbeinturm” als Buzzword aus Branchentreffen, Podcasts und Konzerthaus-CI wird seit Jahren von allen Seiten betrachtet, oft kritisiert und einzureißen versucht. Und die Gretchenfrage, wie Kultur für alle gelingen kann, treibt von Intendant*in bis Künstler*in alle Kulturschaffenden mal mehr, mal weniger um.

Insofern verspricht eine so breit angelegte, bewusst nicht miteinander verknüpfte Textsammlung zunächst einmal neue Erkenntnisse; sowohl im theoretischen Bereich als auch konkret in Milieustudien und vor allem Best-Practice- Anwendungen aus dem bis Ende 2020 gelaufenen Forschungsprojekt.

Gedankenspiele, Utopien und Praxis

Insbesondere die ersten beiden Teile machen sprichwörtlich ein (jeweils) gewaltiges Fass auf, das dann nur wenig geleert wird. Der erste Text im Teil "Appelle" von Eckart Liebau (Vorsitzender des Rates für Kulturelle Bildung) enthält sehr abstrakt eine nachdenklich-informative Forderung nach ‘Kultureller Bildung mit Geist’. Darauf folgen im Aufsatz "Von der Angebotsorientierung zur Teilhabeermöglichung” von Wolfgang Schneider eine ganze Menge Phrasen und oft gehörte Mantras nach mehr Kulturpolitik für Kulturelle Bildung auf Ebene von Bund und Ländern. Neben Selbstverständlichkeiten und hehren Absichten aus Gesetzes- und Koalitionstexten wird hier mehrfach Alltagshandeln statt Sonntagsreden verlangt, aber nicht ein einziges konkretes Beispiel zur Umsetzung gegeben. Stattdessen besteht der Abschluss des Texts aus einer surrealen Utopie, die viele eigentlich zu bekämpfende Vorurteile als anzustrebendes Ideal beschreiben. Vieles kreist - wie auch die gesamte Elfenbeinturm-Debatte - um sich selbst.

Deutlich differenzierter und vor allem zugänglicher formuliert Mitherausgeber Julius Heinicke in seinem Beitrag "Der goldene Weg dazwischen” die Herausforderungen aktueller Kulturpolitik im Hinblick auf die Dichotomie von Hochkultur und kultureller Bildung. Er skizziert dabei Themen wie organisatorische und koordinative Hürden, die Problematik der Wirkungsmächte und die Rolle von kultureller Vielfalt sowie sich daraus ergebende Forderungen. So verweist er auf den immer noch allgegenwärtigen Widerspruch in der Praxis zwischen der Betrachtung von Hochkultur und Kultur für alle und vor allem auf die Schwierigkeit der Evaluierbarkeit von Maßnahmen. Er mahnt eine Erweiterung der Betrachtung an: Kulturelle Bildung könne langfristig nur dann wirkungsmächtig werden, wenn man die organisatorischen und koordinativen Strukturen verändert und auch sehr öffentlichkeitswirksame Projekte wirklich daraufhin überprüft, dass sie neue Publikumsgruppen erreichen. Das oft vorgebrachte Argument der Kunstfreiheit müsse vielmehr als Kreativität innerhalb der Kooperation verstanden werden, um nicht Ausschlusskriterium zu sein.
Das Land als Inspiration, die Stadt als Raum der Veränderung?

Im zweiten Teil "Räume und Formate: State of the Art(s)” wird erneut (zu) viel Raum beackert: die Kulturwissenschaftlerin Katharina M. Schröck schreibt - ihrem Fachgebiet entsprechend - über die Rolle der Landesbühnen als Akteur*innen der kulturellen Bildung im ländlichen Raum, allerdings ohne echten Neuigkeitswert: Da werden vage Kooperationen angemahnt, persönliche Bindungen gefordert und Chancen herbeigeschrie(b)en - es fehlt aber bei aller Feststellung von Zuständen an konkreten Ideen, WIE denn der Austritt aus dem buchtitelgebenden Elfenbeinturm geschehen könnte, womit die Diskussion denselben eben auch nicht verlässt.

Mit "Wurst und Spiele” findet in diesem zweiten Teil aber auch der vielleicht beste Beitrag seinen Platz: Man merkt Beate Kegler ihre langjährige Praxis in Forschung und Förderung an, wenn sie von ‘Gemeinwesengestaltung von allen für alle’ (durch Vereine, Interessensgruppen und Personen vor Ort) schreibt und sauber recherchiert, dabei unterhaltsam und lehrreich das ‘Lernen vom Land’ in den Blick nimmt: Schon der Einstieg mit "Zwischen einer Schönheit des Lands und dem Schrecken der Provinz liegt Vielfalt” macht Lust auf mehr, und die gute Analyse inklusive (endlich mal!) Best-Practice Beispiele sorgen für echtes Lesevergnügen. Sie erwähnt lesenswerte Publikationen wie z.B. den Sammelband "Vital Village" und propagiert nachhaltige Vereinsarbeit vor Ort statt wiederkehrende Kurzbesuche von Organisationen, die von der lokalen Bevölkerung oft gar nicht angenommen werden, weil das Zugehörigkeitsgefühl fehlt. Die Qualität von Kunst und Kultur bemisst sich nach Ihrem Wert für die Gestaltung des Miteinander - ein wahrer Satz, der in der Praxis oft ignoriert würde.

Heute hier, morgen dort

Umso irritierender, dass auf diese beiden thematisch immerhin verwandten Themen dann eine hochtheoretische, fachdidaktische Perspektive von Theaterjugendclubs und Schultheater (Gabriela Paule) und eine relativ nüchterne Analyse gegenwärtiger Programmentwicklungen in öffentlich getragenen Theatern folgen. Die Auswahl dieser Schwerpunkte erschließt sich nicht und wird auch nicht kontextualisiert. Sicher, Lukas Stempels Aufsatz "Neue Formen und andere Räume” leistet eine gute Übersicht, präsentiert aber keine wirklich neuen Erkenntnisse. Die Notwendigkeit und das Stattfinden von (eigentlich gar nicht mehr) "neuen” Formen wie Bürgerbühnen, Backstageformaten, Publikumsbeteiligung oder alternativen Aufführungsorten ist unstrittig und vielfach diskutiert. Eine echte Handlungsempfehlung oder überthematische Einordnung unterbleibt aber leider.

Der dritte Teil mit den beiden beschriebenen Projekten "Common.Play.Grounds” und "KulturScouts” aus dem Coburger Forschungsprojekt klingt spannend. Denn er zeigt zumindest einmal auf, wie vor Ort konkret mit der Aufgabe von kultureller Bildung umgegangen wird: Die "KulturScouts” sind dabei zwar (wie auch von Autorin und Mitherausgeberin Kathrin Lohbeck unumwoben zugegeben) keine inhaltlich neue Idee, zeigen aber beispielhaft, wie die besondere Situation in Coburg mit großem Kulturangebot aber ohne eigene künstlerische Hochschule ein Interesse an kultureller Bildung möglich machen soll. So wurden gezielt die mehr als 5000 Studierenden der Hochschule für angewandte Wissenschaften angesprochen, um aus Ihnen eine Gruppe von Personen zu rekrutieren, die im Dialog mit den Kulturinstitutionen als Türöffner für Mitstudierende und Interessierte dienen sollten und so den Brückenschlag zwischen Angebot und Nachfrage fördern sollten. Durch vorab ausgewählte Produktionen und Veranstaltungen wurde so einerseits Teilhabe (auch über eigens entwickelte Kommunikationswege) und gleichzeitig ein Austausch zwischen den Institutionen und potenziellen Zielgruppen ermöglicht.

Der einzige englischsprachige Text im Buch über einen dreitägigen Workshop erschöpft sich dagegen leider viel zu schnell in Worthülsen und Prozessbeschreibungen, ohne auf die tatsächlichen Beispiele der Mitwirkenden einzugehen. Er liest sich eher wie eine Werbeschrift für das beteiligte kanadische Institut denn als Denkanstoß oder echter Debattenbeitrag.

Geht’s denn nun raus aus dem Turm?

Um es kurz zu machen: leider nein - zumindest nicht mit dieser Publikation. Sprachlich, thematisch und inhaltlich bleibt trotz zahlreicher Bekundungen die Tür des Elfenbeinturms verschlossen. Der vielversprechende Titel und die Absicht, einen Überblick und damit vielleicht Ausgangspunkt für neue Erkenntnisse in dieser so wichtigen Debatte zu geben, wird im Buch nur in einigen wenigen Beiträgen eingelöst. Zu willkürlich und damit zusammenhanglos sind die Schriften, zu unvollständig und zu wenig praxisbezogen die resultierenden Überlegungen. Das große Problem dieses Buchs ist dabei, dass sich die Herausgeber*innen nicht festlegen können (oder wollen?), was sie denn nun eigentlich präsentieren möchten und vor der thematischen Fülle der Aufgabenstellung kapitulieren (müssen).  Vielleicht hätte hier ein (noch) gründlicheres Lektorat geholfen? Der im Vorwort propagierte Bezug zu Coburg wird einzig in den Projektbeschreibungen im dritten Teil ersichtlich, wobei die beschriebenen Projekte so auch unverändert an anderen Orten stattfinden könnten (und das im zweiten Fall auch haben).

Bezeichnend ist, dass die Rolle des (zukünftigen) Publikums in fast keinem der Texte näher untersucht, geschweige denn in den Mittelpunkt gestellt wird. Für eine echte Auseinandersetzung mit dem Elfenbeinturm und den vielseitigen Herausforderungen der kulturellen Bildung (Stichwort: Audience Development) wäre gerade diese Komponente unerlässlich.

Die wissenschaftliche Aufbereitung sowie die ausführlichen Fußnoten und Literaturverzeichnisse ermöglichen jedoch eine individuelle weiterführende Beschäftigung. Somit können insbesondere Neueinsteiger*innen im Bereich Kulturmanagement hier potenziell viele Quellen für eigene Recherchen finden.

3/5 Sterne

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