17.08.2009

Autor*in

Jürg Sulzer
Dresden

Revitalisierung und Überzeitlichkeit im Städtebau

In der Stadt Dresden kann wie kaum in einer anderen Stadt in Deutschland ein Hang zur Verklärung des Stadtbildes und damit zu einem gewissen Mythos in der Wahrnehmung der Stadt festgestellt werden. Am Beispiel dieser Stadt lässt sich in besonderer Weise der Frage nachgehen, welche Bedeutung historische Stadtbilder haben und wie mit Stadtgeschichte, Revitalisierung im Städtebau umgegangen werden sollte.
Die vielfältige Bedeutung des Stadtbilds leitet sich aus einer umfassenden Anerkennung des Gedächtnisses der Stadt ab. Dabei braucht man nicht einer Nostalgie und einem falsch verstandenen Mythos zu verfallen. Wenn es gelingt, die geschichtlich überformte Interpretation von Mythos zur Seite zu legen, dann ist einer Verwendung des Begriffs nach Duden nichts entgegen zu halten. Mit Mythos ist die überlieferte Erzählung, Dichtung oder Sage aus Vorzeiten eines Volkes gemeint. Es kann sich aber auch um Personen, Dinge und Begebenheiten handeln, die aus meist verschwommenen Vorstellungen heraus glorifiziert werden. Angesichts dieser Definition muss die Thematik Mythos in der Stadtgestaltung Platz haben, ohne dass damit gleich von einer bestimmten Glorifizierung die Rede ist. Wer gibt uns die Gewissheit, dass es eben nicht auch ein Erinnerungsbild gibt, ähnlich der erzählenden Geschichte, die von Generation zu Generation (bildhaft) überliefert wird? Das überlieferte Bild der Stadt wird zur überlieferten Erzählung, zur Verbundenheit der Bürger mit ihrer Stadt und es trägt zu einer Verwurzelung der Menschen mit ihrer Stadt bei. Franziska Bollerey spricht in "Mythos Metropolis" von einer "assoziativen Reihung von Bildern und Texten als eine Seismographie von Impressionen, die die sensible, die künstlerische Psyche von den Reizungen der Großstadt empfängt" (1).
 
Es war keinesfalls so, dass das Stadtbild in der Diskussion um den Wiederaufbau zerstörter Städte keine Rolle spielte. Im damaligen Westdeutschland war es beispielsweise der Stadtbaurat von München, Karl Meitinger, der seine Thesen für das Neue München bereits 1945 wie folgt formulierte: "Wir müssen unter allen Umständen danach trachten, die Erscheinungsform und das Bild der Altstadt zu retten und wir müssen alles erhalten, was vom Guten und Wertvollen noch vorhanden ist. Wo im einzelnen von den baukünstlerisch wichtigen Bauten noch so große Reste stehen, dass das Ganze rekonstruiert werden kann, soll das alte Bild wieder entstehen; wo nichts mehr vorhanden ist, soll nach modernen Gesichtspunkten, aber im Sinn der Altstadt, neu und frei gestaltet werden" (2). Offensichtlich spielt bei Karl Meitinger das Gedächtnis und der damit verbundene Mythos der alten Stadt für die zukünftige Stadtentwicklung eine entscheidende Rolle. Seine Intension war es wohl auch, der Utopie der Moderne zu widersprechen. Die kleinteiligen und vielschichtigen Erinnerungsbilder der alten Stadt sollten nicht durch die Moderne mit ihren aufgelockerten Siedlungen mit Hochhäusern und Zeilenbauten ersetzt werden. Zudem hätten in der jungen Bundesrepublik Vertreter des kleinteiligen Grundeigentums ihre Rechte niemals preisgegeben, um derart großflächige Stadtumbaumaßnahmen zu verwirklichen. Karl Meitinger oder Rudolf Schwarz (3) ging es weniger darum, die zerstörte Stadt Stein für Stein zu rekonstruieren, sondern mehr darum, im Sinn der Altstadt das zu erhalten und zu revitalisieren, was die europäische Stadt hinsichtlich Erscheinungsbild, Nutzungsverflechtung, Differenziertheit und Kleinteiligkeit so einzigartig macht.
Im Osten Deutschlands verlieren die Fachinstanzen zunehmend an Einfluss. Der Umgang mit der alten Stadt wird auf einer politisch-ideologischen Ebene diskutiert. Es ging eben nicht nur um eine ideologisch begründete Vernichtung repräsentativer Bauten des kulturellen Erbes wie sie mit der Sprengung verschiedener Schlossruinen, Kirchen und bedeutender Einzelbauten vollzogen wurde. Die flächenhafte Beräumung großer Teile der zerstörten Stadt Dresden und die damit verbundene Auflösung des Einzeleigentums sollte das Bild der alten Bürgerstadt beseitigen. Der Realisierung der sozialistischen Utopie der Moderne sollte zum Durchbruch verholfen werden und einer wie auch immer geordneten Revitalisierung der Bürgerstadt keine Chance bieten. Der Verlust überlieferter Stadtbilder führte zu formlosen Stadtlandschaften. Die Bürgerstadt mit ihrer Vielfalt und Kleinteiligkeit des stadtbild prägenden Grundeigentums verlor gerade in Dresden, aber auch in Chemnitz oder Potsdam, zunehmend ihr Erinnerungspotenzial. Im Ergebnis sind Stadtbrachen und Fragmente von Stadtteilen der Moderne mit all ihren ästhetischen Verarmungen, identitätslosen und funktional konzipierten Stadträumen entstanden.

Stadtschrumpfung eine Neuauflage der Moderne?

In der Folge der gescheiterten Utopie der Moderne gibt es heute wieder neue Konzepte zur Rettung der Stadt. Mit "Stadtschrumpfung" und "perforierten Städten" wird gerade eine behutsame Revitalisierung der Stadt verhindert. Vielleicht wäre es ganz lehrreich, ihnen Aldo Rossi in Erinnerung zu rufen. Mit seiner Architektur der Stadt (4) hat er eine kritische Haltung gegenüber der Moderne gefordert und die Stadtgeschichte als kollektives Bewusstsein thematisiert. So ist es in der aktuellen Debatten-Hektik zur Stadtschrumpfung und Bevölkerungsprognosen geradezu wohltuend, dass sich die Leipziger Charta zur Renaissance der Städte wieder konsequent der Europäischen Stadt zuwendet (5). Als zukünftige Leitlinie müsste gelten, dass gerade die ostdeutschen Städte mit ihren einmaligen städtebaulichen Ensembles vorerst Waiting Cities sind und die Strategie der Shringking Cities nicht weiter verfolgt wird. Gefragt sind integrierte Stadtentwicklungspolitiken und ein breites fachliches Problembewusstsein über die ökonomische und gesellschaftliche Leistungsfähigkeit der kompakten Europäischen Stadt. Gerade auch im Hinblick auf den breit diskutierten Klimawandel ist ein Stadtverständnis zu fordern, das urbane Dichten thematisiert, um zu revitalisierten Städten zu gelangen.

Identifikation und Revitalisierung

Sowohl der Nachkriegsstädtebau als auch die Ergebnisse der jüngsten Stadtumbauphasen werfen die grundsätzliche Frage auf, weshalb speziell in Dresden, aber auch in verschiedenen anderen ostdeutschen Städten die Sehnsucht der Bürger nach historischen Stadträumen und Stadtbildern so groß ist. In Dresden wird mit dem Stichwort "Mythos Dresden" und der gleichnamigen Ausstellung zur 800-Jahrfeier der Stadtgründung die enge Verbundenheit der Bürger mit ihrer Stadt deutlich.
Ausgehend von der Frauenkirche als Herz dieses Mythos (6), sind heute "Erzählungen von den Ursprüngen, kollektiven Träumen und Wünschen offen stehende Bildwelten geworden" (7). Dresden ist tatsächlich wegweisend hinsichtlich der Diskussion über Stadtbildmythos und das Gedächtnis der Stadt. Die Dresdner Frauenkirche ist heute wieder unverzichtbarer Teil der Stadtsilhouette. Auch wenn während Jahrzehnten bis Anfang der 1990er Jahre fachlich über die Konservierung der Ruine und über Sinn und Richtigkeit der Wiederherstellung dieses Erinnerungspotenzials gestritten wurde, zeigt sich nun, dass die wiedererstandene Frauenkirche gerade für die Bürger der Stadt einen wichtigen Ausgangspunkt schafft, urbane Identität wieder lesbar, ein Bild der Stadt konkret fassbar zu machen. Der Wunsch nach Rekonstruktion des gesamten städtebaulichen Ensembles Dresdner Neumarkt ergibt sich eben nicht nur aus der fachlichen Notwendigkeit, die Frauenkirche in einem adäquaten Stadtraum zu verankern. Wäre es nicht bedenkenswert, den derzeitigen Wiederaufbau nach historischem Stadtgrundriss als plausible Nachwirkung der Kriegs- und Nachkriegszerstörung der Stadt zu verstehen? Der ursprüngliche Stadtgrundriss mit seinen Proportionen und Fassadengliederungen ermöglicht eine innere Verbundenheit der Menschen mit der verlorenen Stadt, mit idealisierten Stadtbildern. Wenn es gelänge, dank einzelner Wiederaufbaukonzepte das Interesse der Menschen, ihre Identifikation mit der Stadt zurück zu gewinnen, ein Stück "Bürgerstadt" erinnerungsfähig zu machen, würde die Europäische Stadt als Ganzes gewinnen.
Folgerichtig sollte es mit der Revitalisierung der Stadt auch um Identifikation, um Orte des Erinnerns, um Heimat gehen. In einer Zeit globaler Verflechtungen ist die eindeutige Erkennbarkeit der Stadt unbedingt zu wahren. Dieser Identifikationsanspruch kommt nur selten aus "ohne den Rekurs auf historische Paradigmen, die in den vormodernen Schichtungen der jeweiligen Stadtgeschichte gesucht werden müssen. Nicht selten wird dabei der vormoderne Stadtgrundriss als Gedächtnis der Stadt bezeichnet (8). Beim Wiederaufbau des Dresdner Neumarktes bleibt gezwungenermaßen ein ausgewählter Bezug auf bestimmte Erinnerungsmuster und virtuelle Bilder der Stadt. Eine differenzierte Lesbarkeit der Stadt über historische Baulinien, Baukanten und Dachlandschaften ist gegeben. Die kritische Rekonstruktion und Revitalisierung der Stadt ermöglicht eine gewisse Überzeitlichkeit im Städtebau und Identifikation mit der Stadt.
Dieser Rückgriff auf überlieferte Bilder der Stadt gewährt Identifikation, Vertrautheit der Bürger mit ihrer Stadt und Lesbarkeit zeitbedingter Schichten. Angesichts der historischen Erfahrungen muss die Stadtentwicklung eine Neuaneignung des historischen Stadtgrundrisses, der überlieferten historischen Stadträume (in dieser raumlosen Zeit) und des virtuellen Stadtbildes ermöglichen.
Diese einmalige Revitalisierungsaufgabe sollte von allen beteiligten Fachdisziplinen getragen werden. Stets ist darauf zu achten, dass hoch qualifizierte Stadtbilder entstehen, indem wir in Synergien denken, um aus dem vormodernen Stadtgrundriss vielschichtige und kreative bauliche Lösungen zu transformieren. Auf diesem Weg kommt das Überzeitliche wieder in unsere Städte. Von der Forderung, wonach es nur um Konservierung und Offenlegung historischer Schichten im Umgang mit der alten Stadt gehen darf, sollte ebenso Distanz genommen werden wie neuen Modernitäten im Städtebau unkritisch zu folgen. Vielleicht liegt es aber auch ganz einfach daran, dass das Gedächtnis der Stadt, der vormoderne Stadtgrundriss so sehr vernachlässigt wurde, weil die Architekten oft nicht mehr in der Lage sind, im überlieferten städtebaulichen Kontext hoch qualifiziert zu bauen. Insofern muss sich aus dem Mythos des verlorenen Stadtbildes eine kreative und überzeitliche Revitalisierung der Stadt ergeben.
1 Franziska Bollerey, Mythos Metropolis, Die Stadt als Sujet für Schriftsteller, Maler und Regisseure, Berlin 2oo6, S. 8.
2 Wolfgang Görl, Wiedergeburt des erloschenen Zaubers, in: Süddeutsche Zeitung, Nr. 129, 7. Juni 2006, S. 32. Münchens Stadtbaurat Karl Meitinger setzte sich mit der Ansicht durch, unter allen Umständen die Erscheinungsform und das Bild der Altstadt zu retten.
3 Rudolf Schwarz, Was eigentlich ist der Gegenstand des Städtebaus? in: Die Städte himmeloffen, Reden und Reflexionen über den Wiederaufbau des Untergegangenen und die Wiederkehr des Neuen Bauens 1948/49, S. 186ff, Basel und Berlin 2003.
4 Aldo Rossi, Die Architektur der Stadt, Skizze zu einer grundlegenden Theorie des Urbanen, Bauwelt Fundamente 41, Düsseldorf 1973 (ital. Original: Padua 1966).
5 Leipziger Charta zur Renaissance der Städte, anlässlich des informellen Treffens der EU Bauminister am 24. und 25. Mai 2007 in Leipzig verabschiedet.
6 Stiftung Deutsches Hygiene-Museum (Hg), Mythos Dresden, Eine kulturhistorische Revue, Ausstellung des Deutschen Hygiene-Museums vom 8. April 31. Dezember 2006, Köln 2006, S. 17.
7 Ebenda S. 15.
8 Paul Sigel, Bruno Klein (Hg), Konstruktionen urbaner Identität, Zitat und Rekonstruktion in Architektur und Städtebau der Gegenwart, Berlin 2006, S. 14.
PROF. DR. - ING. JÜRG SULZER Hochbauzeichnerlehre in Schaffhausen; Mehrjährige Praxis in Architekturbüro in Zürich; Studium Städtebau und Architektur in Berlin, Hochschule der Künste und TU Berlin; Projektleiter bei der Arbeitsgruppe Stadtplanung Berlin, Stadterneuerung. 1983 bis 2004 Leiter des Stadtplanungsamtes der Stadt Bern. Während dieser Zeit: Entwurf und politische Verabschiedung Integriertes Stadtentwicklungskonzept Bern 1995 (Städtebau, Verkehr, Nutzung und Stadtgestaltung). Entwurf und fachpolitische Begleitung Masterplan Stadtteil Bern - Brünnen zwischen 1989- 2004. Seit 2004 Inhaber der Stiftungsprofessur Stadtumbau und Stadtforschung der TU Dresden, Fakultät Architektur und Leiter des Görlitz Kompetenzzentrum Revitalisierender Städtebau.
 

Unterstützungsabos


Mit unseren Unterstützungsabos unterstützen Sie unsere Redaktion mit einem festen Betrag pro Monat – und damit alle unsere kostenfreien Inhalte, also unser Magazin, unseren Podcast, die Beiträge und die Informationen zu Büchern, Veranstaltungen oder Studiengängen auf unserer Website. 

5€-Unterstützungsabo Redaktion

Mit diesem Abo unterstützen Sie unsere Redaktion mit 5€ im Monat. Das Abonnement ist jederzeit über Ihren eigenen Account kündbar.

Preis: 5,00 EUR / 1 Monat(e)*

15€-Unterstützungsabo Redaktion

Mit diesem Abo unterstützen Sie unsere Redaktion mit 15€ im Monat. Das Abonnement ist jederzeit über Ihren eigenen Account kündbar.

Preis: 15,00 EUR / 1 Monat(e)*

25€-Unterstützungsabo Redaktion

Mit diesem Abo unterstützen Sie unsere Redaktion mit 25€ im Monat. Das Abonnement ist jederzeit über Ihren eigenen Account kündbar.

Preis: 25,00 EUR / 1 Monat(e)*
* Alle Preise sind inkl. der gesetzl. Mehrwertsteuer, zzgl. evtl. anfallenden Gebühren
Kommentare (0)
Zu diesem Beitrag sind noch keine Kommentare vorhanden.

Unterstützungsabos

Mit einem Unterstützungsabo unterstützen Sie die kostenfreien Inhalte unserer Redaktion mit einem festen Betrag pro Monat – also unser Magazin, unseren Podcast, die Beiträge und die Informationen zu Büchern, Veranstaltungen oder Studiengängen auf unserer Website. 

5€-Unterstützungsabo Redaktion

Mit diesem Abo unterstützen Sie unsere Redaktion mit 5€ im Monat. Das Abonnement ist jederzeit über Ihren eigenen Account kündbar.

Preis: 5,00 EUR / 1 Monat(e)*

15€-Unterstützungsabo Redaktion

25€-Unterstützungsabo Redaktion

* Alle Preise sind inkl. der gesetzl. Mehrwertsteuer, zzgl. evtl. anfallenden Gebühren
Cookie-Einstellungen
Wir setzen auf unserer Website Cookies ein. Einige von ihnen sind notwendig (z.B. für den Stellenmarkt), während andere uns helfen, unsere Angebote (Redaktion, Magazin) zu verbessern und wirtschaftlich zu betreiben. Einige Angebote können nur genutzt werden, wenn Cookies gesetzt wurden.
Sie können die nicht notwendigen Cookies akzeptieren oder per Klick auf die graue Schaltfläche ablehnen. Nähere Hinweise erhalten Sie in unserer Datenschutzerklärung.
Ich akzeptiere
nur notwendige Cookies akzeptieren
Impressum/Kontakt | AGB