20.03.2010

Autor*in

Ulrich Ruhnke
Festspielort Grafenegg

Ein Traum wird wahr: Wie Grafenegg zum Musikmekka wurde

Innerhalb von weniger als fünf Jahren hat man in Grafenegg in Niederösterreich eine Musik- und kulturtouristische Destination der Spitzenklasse etabliert. Das Ergebnis eines festen politischen Willens, einer präzise ausgearbeiteten Strategie und ihrer konsequenten Umsetzung. Ein Projekt zum Staunen.
Man müsste sich schon wie einst Odysseus, als er dem verführerischen Gesang der Sirenen nicht erliegen wollte, Wachs in die Ohren träufeln und unbedingt auch in die Nase, um ungehindert ins Innere vordringen zu können. Doch der Weg ins weitläufige Gelände des Schlosses Grafenegg, Niederösterreichs Schloss Neuschwanstein, endet für die meisten Besucher bereits kurz hinter dem Wiener Tor. Tückisch wie eine Kaufhausparfumabteilung ist hier das Cafe Mörwald mit zwei Häusern positioniert, und jeder, gleich ob er hinein oder hinaus will, muss es passieren. Eine echte Prüfung ist das, die nur wenige bestehen, denn gar zu verlockend steigt der köstliche Kaffeeduft in die Nase, sind die Augen betört von unglaublich gut aussehenden Obstkuchenstücken mit Schlagoberst, die an geschmackvoll gedeckten Tischen unter kühlen Schatten spendenden Bäumen verköstigt werden. Dazu das meditative leise Klappern feinen Porzellans, wir geben uns geschlagen und unser erstes Kulturerlebnis am Festspielort Grafenegg ist ein kulinarisches. Na schön.
Von Reue keine Spur. Bequem sitzend und wohlig beschienen von der angenehmen Nachmittagssonne eines Spätsommertages, geht der Blick unwillkürlich gen Westen, wo der mächtige Turm des Schlosses Grafenegg jede Aufmerksamkeit zuerst auf sich zieht und genau deshalb zum Wahrzeichen der Gemeinde wie des Festspielstandortes Grafenegg geworden ist. Das Schloss, das er stolz überragt, ist in seinem Maßwerkreichtum, auch wenn es sich um im 19. Jahrhundert in Historismusnostalgie nachträglich angebrachtes handelt, deshalb nicht weniger sehenswert und ein echtes Märchenschloss im Tudor-Stil. 1971 begründete hier Franz Albrecht Metternich-Sándor, der damalige Hausherr, die Tradition, in Grafenegg Kulturereignisse und Ausstellungen zu veranstalten. Platz war schließlich genug, hatte die sowjetische Besatzung bei ihrem Abzug Ende des Zweiten Weltkrieges doch fast das gesamte Mobiliar und sogar die Bibliothek mitgenommen, letzteres allerdings im ideologiemissionarischen Tausch gegen die Werke von Marx und Engels. Während Das Kapital und Das Manifest der kommunistischen Partei über die Jahrzehnte hinweg in den Regalen verstaubten, gediehen draußen Rosenhecken, Magnolienwiesen, orientalische Fichten und die prächtigsten Exemplare von über 150 Baumarten aus aller Herren Ländern, bis vor lauter Bäumen der im 19. Jahrhundert angelegte Englische Landschaftsgarten kaum mehr zu erkennen waren. Grafenegg lag im Dornröschenschlaf und es bedurfte des Erweckungskusses, um es wieder ins Leben zu holen.
 


Unbedingtes Wollen und eiserner Wille


Tassilo Metternich-Sándor, Sohn von Franz Albrecht, und Erwin Pröll, Landeshauptmann Niederösterreichs, gaben ihn gemeinschaftlich und auf vertraglicher Grundlage einer so genannten PPP, einer Public Private Partnership hier zwecks Aufbau einer kulturtouristischen Destination allererster Güte. Das war gleich zu Anfang des 21. Jahrhunderts. Metternich stellte sein Anwesen zur Verfügung, das Land Niederösterreich revitalisierte ihm dafür in aufwändiger Rekonstruktionsarbeit den Landschaftsgarten nach alten Plänen und fügte ihm, wie es sich für einen echten Englischen Garten gehört, einen großartigen Pavillon hinzu, der zugleich zum weithin sichtbaren Zeichen für die neue Zukunft Grafeneggs und das moderne Pendant zum Schlossturm wurde: der Wolkentum. Ein in kühner Architektur sich in den Himmel schraubender Musikpavillon, geeignet zur Aufnahme der größten und besten Orchester der Welt, eingeladen zur musikalischen Glückseligmachung von über 1700 Gästen unterm freien Sternenhimmel einer lauen Sommernacht. Schlossfestspiele gibt es überall, so etwas gibt es nur in Grafenegg, zumal es sich hier um Festspiele mit Schwerpunkt auf Orchesterkonzert und nicht auf Oper handelt. Vergleichbares bietet bestenfalls noch das Sommerfestival im nordamerikanischen Tanglewood, wenngleich die Bühne hier nicht annähernd so beeindruckend ist.

2007 war die Eröffnung der Open-Air-Spielstätte Wolkenturm, schon ein Jahr später wurde in Sichtweite gegenüberliegend und aufs Harmonischste sich zwischen die bestehenden Bauten des Mörwald-Cafes und der Reitschule einfügend, ein nagelneues Konzerthaus, das so benannte Auditorium, mit 1270 Plätzen eröffnet. Der große stolze Saal in klassischer Schuhschachtel-Architektur ist außen von glänzender Bronze ummantelt und innen von lichter, heller Atmosphäre, in der die rot-violetten Stühle farblich, aber auch zur leicht kühlen Raumgliederung einen zum Platznehmen einladenden Kontrast bilden. Durch die große Glaswand des Eingangsbereichs scheint nach der Vorstellung warmes Licht nach draußen, sodass auf den weiß gekieselten Wegen ein jeder sicher den Weg nach Hause oder in die benachbarte, exzellent ausgestattete Vinothek, hier im Wortspiel mit Grafenegg Vinothegg genannt, finden kann. Die gastronomische Rundumversorgung des Festivalbesuchers wird schließlich nicht minder perfektionistisch betrieben, wie die musikalische Darbietung und die Möglichkeit zum erholsamen Spaziergang auf den weitläufigen, abendschuhtauglich gemachten Pfaden durch die völlig unberührt wirkende, in Wirklichkeit aber bis ins Kleinste gestalteten Natur des Englischen Gartens. Dazu das Duften der Bäume und Blumen, das Zwitschern der Vögel vor und das Zirpen der Grillen nach dem Konzert Grafenegg ist fürwahr eine Sinfonie der Sinne. Und nicht weniger das Produkt eines unbedingten Wollens und eisernen Willens.
 


Kulturgespann

Hier wurde nicht gekleckert, sondern geklotzt, und das im strammen, innerhalb weniger Jahre vollzogenen Durchmarsch mit Siebenmeilenstiefeln, mit einer glasklaren Vision und vor allem viel Geld. Fußend auf dem politischen Willen, aus dem Land Niederösterreich mehr zu machen, es ohne Verlust seiner ursprünglichen Identität und des ihm eigenen ländlichen Charmes, überregional und internationale als Reiseziel zu etablieren, wurde ein Masterplan ausgearbeitet, der Vorhandenes mit Zukünftigem zwecks Nutzung von Synergieeffekten und zum Nutzen eines gestärkten gemeinsamen Wachstums zu einer symbiotischen Einheit verschmolz. Bis jetzt erwies sich der kühne Plan als absolutes Erfolgsmodell. Im rechtlichen Konstrukt der Niederösterreichischen Kulturwirtschaft GmbH (NÖKU) wurden nicht weniger als zwölf Veranstaltungs- und Ausstellungsbetriebe zusammengefasst, die künstlerisch zwar selbstständig arbeiten, hinsichtlich z.B. Finanzierung, Vermarktung und Werbung, Fundraising, Ticketing und Verwaltung aber in die Holding-Strukturen der NÖKU eingegliedert sind, um als gemeinsames Schlacht- wie Prachtrössergespann den Namen ihres Landes Niederösterreich ruhmreich in alle Welt hinauszutragen. Was hier zusammengeführt wurde, sind die besten Kultureinrichtungen Niederösterreichs, jeder Kulturtourist kann sie nun in den attraktivsten Kombinationen, auch im Angebotspaket mit kulinarischen Hochgenüssen buchen: z.B. das Landestheater Niederösterreich, das Theater Baden, die Österreichische Filmgalerie, die Kunstmeile Krems, der Archäologische Park Carnuntum, die Niederösterreichische Tonkünstler Betriebs GmbH (das Tonkünstlerorchester) und halteben auch die Grafenegg Kulturbetriebs GmbH. Der künstlerische Geschäftsführer der beiden letztgenannten Gesellschaften ist identisch und heißt Johannes Neubert. In Grafenegg ist Rudolf Buchbinder der Künstlerische Leiter und doch mischt Neubert, wohl in Absprache, auch hier die Karten kräftig mit. Und nicht nur das, ist das von ihm künstlerisch verantwortete Tonkünstlerorchester zugleich auch das Residenzorchester in Grafenegg, dem Sommer-Standort des eigentlich heimatlosen Orchesters, das mit dem Musikverein Wien und dem Festspielhaus St. Pölten sehr wohl aber über zwei weitere feste Standorte mit nobelster Adresse verfügt. Und als wäre das nicht schon genug, darf sich das Tonkünstlerorchester spätestens ab Sommer dieses Jahres in eine Reihe mit den teuersten und wohlklingendsten Orchestern der Welt gestellt sehen. Denn neben dem Tonkünstlerorchester treten in Grafenegg 2010 z.B. das Cleveland Orchestra, das City of Birmingham Symphony Orchestra, das Königliche Concertgebouworchester Amsterdam, das Mariinsky-Orchester St. Petersburg, die Sächsische Staatskapelle Dresden, das Gustav Mahler Jugendorchester, das Orchestre National de France, das Sydney Symphony Orchestra, das Bayerische Staatsorchester München, das NDR Sinfonieorchester Hamburg und last aber sicher not least die Wiener Philharmoniker auf. Nach nur drei Jahren seiner Gründung hat sich Grafenegg an die Spitze internationaler Orchester- und Sommerfestivals katapultiert, dort wo der Platz nur mit ganz wenigen zu teilen ist. Welch halbe Ewigkeit kämpft manches Orchester, um sich nur neben einem dieser Edelklangkörper nennen zu dürfen? Die Tonkünstler machen sich einfach zur musikalischen tragenden Säule eines neuen Festivals, laden die anderen ein und krönen sich damit selbst.
 


Auf nach Grafenegg!

Den Wiener Klassikfreunden gefällts. Im Sommer, wenn Staatsoper und Volksoper, Musikverein und Konzerthaus geschlossen sind, kommen sie nach Grafenegg. Hier bekommen sie, was für den musikalisch verwöhnten Wiener längst Standard ist: das Feinste. Umgewöhnungsschwierigkeiten gibt es also keine und es ist ja auch von der Hauptstadt aus nicht mehr als ein größerer Katzensprung, zumal ein Shuttlebus es jedem Interessierten ganz bequem macht. An logistischen Hindernissen jedenfalls soll der Ausflug in die erlesene musikalische Sommerfrische nicht scheitern. Auch der Flughafen Wien ist nur eine knappe Autostunde von Grafenegg entfernt. Für den internationalen Jet-Set der Klassikfreunde sozusagen ums Eck. Und der reist immer zahlreicher an, seit das Märchen von Grafenegg innerhalb kürzester Zeit bis Fernost und längst auch über den großen Teich hinweg bekanntgeworden ist. Menschen aus den EU-Nationen sind natürlich ebenso vertreten, schon allein durch die Residenz des European Union Youth Orchestra, dem offiziellen Jugendorchester der EU, das seit 2009 drei Jahre lang jeweils zwei Wochen in Grafenegg präsent ist, für Konzerte wie öffentlich zugänglichen Proben. Akademie nennt Johannes Neubert diesen Baustein des Musik-Sommers und träumt zugleich von dessen Weiterentwicklung in Richtung eines Musik-Campus, auf dem Musiker nicht nur aufführen, sondern auch sich weiterbilden und Musikinteressierte nicht nur rezipieren, sondern teilhaben und lernen. Das Vorbild Tanglewood geistert hier wieder durch den Raum, und man hat keinerlei Zweifel daran, dass auch dieses Ziel schon in naher Zukunft erreicht sein wird. Zumal erste und keineswegs bescheidene Anfänge bereits gemacht sind. Kein Geringerer als Tan Dun etwa gab im letzten Jahr einen Workshop für junge Komponisten und brachte anschließend den letzten Teil seiner Erde-Wasser-Papier-Trilogie, das Earth Concerto, in Grafenegg zur Uraufführung. Sein diesjähriger Nachfolger als Composer in Residence ist der Spanier Cristóbald Halffter. Auch gibt es selbstverständlich schon Musikvermittlungsangebote, höchst beliebt bei Kindern wie Erwachsenen, doch soll das alles ausgeweitet werden, dem Publikum noch weiter die Tür zur Musik geöffnet, dem Musiker noch tiefere Wege in die musikalischen Geheimnisse ermöglicht werden. Meisterkurse, Expertenrunden, Kammermusik, Einführungsgespräche, thematisch Bezug nehmende Prèludes vor dem Konzert und Soirées danach das ganze Festspielgelände Grafenegg soll Musik atmen in jedem Augenblick und an jedem Ort. Die Reitschule mit ihren wunderbar renovierten, Licht durchfluteten Räumen und einer Sattelkammer mit Holzarchitektur, fast so schön wie im Wiener Musikverein, bietet nicht nur genügend Platz, sondern auch den denkbar atmosphärevollsten Rahmen. Grafenegg steht bereit, die Welt darf kommen.
 

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