16.04.2020

Buchdetails

Die »Aura« des Originals im Museum: Über den Zusammenhang von Authentizität und Besucherinteresse (Edition Museum, Bd. 38)
von Roman Weindl
Verlag: Transcript Verlag
Seiten: 332
 

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Autor*in

Kristin Oswald
leitet die Online-Redaktion von Kultur Management Network. Sie studierte Geschichte und Archäologie in Jena und Rom sowie Social Media-Marketing in Berlin. Sie ist freiberuflich in der Wissenschaftskommunikation und im Museumsmarketing mit Schwerpunkt online tätig.
Buchrezension

Die „Aura“ des Originals im Museum. Über den Zusammenhang von Authentizität und Besucherinteresse

Das Coronavirus bewirkt aktuell einen Digitalisierungsschub in der Museumslandschaft. Zugleich wird verstärkt auf die "Aura des Originals" verwiesen, die Museumsbesucher*innen derzeit nicht genießen können. Wie Roman Weindls Studie zeigt, ist diese aber ein Konstrukt, das vor allem der Selbstversicherung der Museumsschaffenden dient und nur bedingt etwas zum Besuchserlebnis beiträgt.
 
Auf dem Cover des Buches von Roman Weindl sieht man ein oft genanntes Beispiel dafür, dass digitale Angebote Museumsbesuche nicht ersetzen können: Jede*r kann sich heute die Mona Lisa online anschauen. Dennoch strömen jährlich hunderttausende Menschen in den Pariser Louvre, um einen Blick auf das Original zu erhaschen. Doch obwohl dies meist nur kurz und im Gedränge geschieht, sei der Grund für diesen Besucher*innenandrang die "Aura" des berühmten Gemäldes. Dabei ist es mit der Aura so eine Sache: Während manche darin den greifbaren Hauch der Vergangenheit oder des künstlerischen Genies sehen, ist sie für andere ein Hirngespinst. Aber ob man eine Aura nun spürt oder nicht, wenn man Museumsobjekte betrachtet, eines ist sie sicher: Ein häufig genanntes Argument der Museumsschaffenden dafür, warum Menschen auch in Zeiten der digitalen Reproduzierbarkeit Museen besuchen und diese also erhalten und gefördert werden sollten. 
 
Aufbau des Buches
 
Die lobenswerte Ausgangsposition von Roman Weindls 2019 bei transcript erschienener Dissertation ist es, den vielbeschworenen Begriff der Aura von Grund auf neu und objektiv zu untersuchen. Dabei dekonstruiert er Begriffe und Grundannahmen, die in der Museumswelt nur selten hinterfragt werden, weil dies an nicht wenigen ihrer Grundfesten rütteln würde - etwa den "direkten, emotionalen und ganzheitlichen Zugang zur Geschichte (und) den Kontakt mit einer fernen Vergangenheit" (S. 22), das objektbezogene Lernen oder die objektiv-wissenschaftlichen Meinungsbildung der Besucher*innen. Und so fühlt man sich als Leser*in mitunter überrascht, vielleicht sogar entsetzt und zugleich befreit, hier Sätze zu lesen, die Museumsschaffende sonst eher selten über die Lippen bekommen. Weindl nimmt also eine erfreuliche emotionale Distanz gegenüber seinem Forschungsgegenstand ein und stellt dem Aura-Begriff weniger mystische anmutende, dafür theoretisch untermauerte und empirisch nachweisbare Konzepte gegenüber. 
 
Seine Arbeit besteht dabei aus vier großen Teilen: einem ausführlichen theoretischen Hintergrund, einer empirischen Untersuchung zum Blick von Besucher*innen auf Museumsobjekte, einem Schluss mit praktischen Ausblicken, und mit umfangreichen und hilfreichen Anhängen. Sein Hauptbetrachtungspunkt sind dabei vor allem historische und archäologische Museen bzw. solche, deren Narration spezifisch historisch ist. Es geht ihm also weniger um Kunst und Genie als um die Vermittlung der musealen Vergangenheit. 
 
Theorie
 
Dass der theoretische Hintergrund fast die Hälfte des Textteils der Arbeit einnimmt, ist keineswegs störend, sondern im Gegenteil sehr hilfreich. Hier zeigt der Autor Ursprung, Entwicklung und vor allem die Schwächen der Konzepte Aura, Original und Authentizität auf, die außerhalb theoretischer museologischer und kulturwissenschaftlicher Debatten kaum diskutiert werden. Dabei verweist er auf zahlreiche offensichtliche und eigentlich wenig überraschende Gründe dafür, warum diese als problematisch angesehen werden müssen:
 
  • In Museen sind Originalobjekte nicht frei und direkt erfahrbar, sondern in einen inszenierten Kontext eingebunden. Dieser Kontext, die dahinterstehenden Intentionen, Geschichtsbilder und beteiligten Museumsschaffenden werden aber nicht transparent gemacht werden. Damit werden die Objekte als überhöhte objektive Akteure dargestellt, die mit ihnen verbundenen Aussagen als Fakten und es entsteht eine künstliche Mystifizierung.
  • Die Begriffe Aura, Original und Authentizität werden im Museumsbereich nicht einheitlich benutzt, sondern haben mehrdeutige, metaphysische, emotionale und subjektive Facetten, die weder empirisch beweisbar noch theoretisch begründbar sind. Beispielsweise kann Authentizität sowohl Echtheit und Glaubwürdigkeit als auch eine individuelle sinnliche Erfahrung meinen. Repliken eignen sich demnach "genauso gut für die Repräsentation der Vergangenheit wie die historischen Originale (...), solange sie in der Lage sind, als (...) als Stellvertreter der Originale zu fungieren" (S. 171). 
  • Die didaktischen Annahmen zur Wahrnehmung materieller Objekte, die zudem in ihrer Materialität aufgrund von Vitrinen usw. nicht wirklich erfahrbar sind, wurden nie wirklich belegt bzw. von anderen Disziplinen wie den Erziehungswissenschaften bereits widerlegt.
  • Authentizität und Aura sind westliche Konzepte und schon allein deshalb nicht objektiv und allgemeingültig.
  • Kollektive soziale Faktoren beeinflussen die Objektwahrnehmung. Gemeint ist, dass der Habitus des akademischen Milieus der meisten Museumsschaffenden aufgrund sozialer Erwünschtheit und Anpassung von den Museumsbesucher*innen repliziert wird. Zudem verfügen sie meist nicht über das notwendige Vorwissen, um Objekte fachlich einordnen zu können. Sie verstehen deren intrinsischen Wert und "die ,fremde Sprache´ der im Museum gezeigten Hochkultur" (S. 178-179) also nur bedingt und nutzen für die Objektinterpretation individuelle und emotionale Kategorien.
 
Zusammenfassend ist die Aura also museal konstruiert, "das Original im Museum vor allem deshalb bedeutungsvoll, weil man ins Museum gehen muss, um es zu sehen" (S. 62) und die Mitglieder unserer aufgeklärten Gesellschaft öffnen sich "für auratische Erfahrungen (vor allem) auf Basis der ,geteilten Annahme des Glaubens´" (S. 64). Dabei wohnt der unreflektierten Nutzung der Konzepte ein problematischer esoterischer Anklang und eine essentialistische Auffassung inne, die es beinahe anrüchig erscheinen lässt, die Wirkung von Originalen auf Museumsbesucher*innen anzuzweifeln. 
 
Praxis
 
Auf den Augen öffnenden Theorieteil folgt Weindls empirische Studie. Hier untersucht er, welche Rolle Authentizität und Aura für Besucher*innen spielen. Auch diese Untersuchung beginnt mit einem theoretischen Rahmen zu dem von ihm genutzten Interessenkonzept. Im Vergleich zum vorangegangenen Kapitel ist die Darlegung dieses Konzepts zwar mitunter etwas zu ausführlich, im Rahmen einer Dissertation aber durchaus nachvollziehbar.
 
Das Interessenkonzept basiert auf pädagogisch-psychologischen Grundlagen zu persönlichem Interesse und Lernerfahrungen im schulischen Kontext. Weindl erklärt hier die Unterformen von Interesse und die verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven darauf. Wie er selbst sagt, lassen sich deren Erkenntnisse für die Schuldidaktik aber nur bedingt auf Museen übertragen. Umso mehr überrascht es deshalb, dass er diese umfangreichen Darlegungen dann kaum konkret auf den Museumsbereich überträgt, sondern dies eher indirekt impliziert. Dennoch wird verständlich, warum Weindl dieses Konzept bevorzugt: Hierbei geht um die individuelle Beziehung zu Themen oder Gegenständen, deren Ursprung im persönlichen Interesse und dessen situative Veränderungen. Beide Aspekte - persönliches und situationales Interesse - lassen sich für museale Objektbegegnungen empirisch erheben. 
 
Konkret untersucht Weindl in seiner Erhebung die Wirkung von Objekten auf die Emotionen und das Interesse der Studienteilnehmer*innen. In den Mittelpunkt stellt er sechs ausgewählte Objekte aus der Mittelalterausstellung des Oberhausmuseums Passau. Diese deklarierte er während eines Zeitraums von zwei Wochen mittels Objektbeschilderungen abwechselnd als Originale und Nachbildungen. Im gleichen Zeitraum wurden Besucher*innen quantitativ zu ihren Eindrücken der Objekte befragt. Dafür wurden sie mit zwei verschiedenen Fragebögen - einem mit und einem ohne eine spezifische Frage zur Objektauthentizität - zufällig zwei Gruppen zugeordnet. Das Ergebnis bildeten 395 auswertbare Fragebögen. Beide Gruppen waren dabei statistisch vergleichbar. 
 
Die Ergebnisse zeigen nur wenige Unterschiede zwischen beiden Gruppen. So bewertete die Gruppe mit der Frage nach Authentizität das Interesse an Nachbildungen geringer, die Gruppe ohne die konkrete Frage danach dieses ungefähr gleich mit dem Interesse an Originalen. Zudem konnte sich die Gruppe mit der Frage nach Authentizität im Anschluss an den Museumsbesuch besser an die sechs abgefragten Objekte erinnern. Die Manipulation der Objektschilder, der beide Gruppen unterlagen, wirkte sich demnach nur auf die Gruppe aus, die explizit nach Authentizität befragt wurde. In der anderen spielte sie keine Rolle und damit auch nicht, ob die Objekte Originale oder Nachbildungen waren. 
 
Zusätzlich zur quantitativen führte Weindl auch eine qualitative Erhebung durch. Dabei wurden dieselben Teilnehmer*innen im Anschluss an den Museumsbesuch nach ihren Lieblingsstücken unter den sechs Objekten sowie nach den Gründen für die Auswahl befragt. Die Antworten sortiert der Autor in die zwei Oberkategorien personen- und gegenstandsbezogene Begründungen mit jeweils mehreren Unterkategorien. Die häufigsten Antworten beziehen sich dabei auf personenbezogene Kategorien wie "etwas Neues gelernt", "persönliches Interesse", "eigenes Leben wieder finden" sowie auf die gegenstandsbezogenen Kategorien "Brauchbarkeit und Zweckmäßigkeit" und "Ausdruck von Leistung". Diejenigen gegenstandsbezogenen Kategorien, die am engsten mit den Konzepten Aura und Authentizität zusammenhängen, wurden am seltensten benannt. Zudem nannten die Befragten diejenigen Objekte besonders häufig, die auch den höchsten Mittelwert auf der Skala zum emotionalen Erleben erhielten. Die genannten persönlichen Verbindungen der Teilnehmer*innen zu den Objekten bezogen sich dabei weniger auf fachliche Aspekte als auf individuelle Sinnhaftigkeit. Der emotionale Bezug und der Faktor Wissenserwerb waren demnach für die Befragten deutlich wichtiger als Authentizität oder Echtheit.
 
Damit hat die Befragung nur dann ein höheres situationales Interesse an Originalen als an Nachbildungen ergeben, wenn explizit auf die Authentizität der ausgestellten Objekte hingewiesen und danach gefragt wurde. Die Einschätzungen waren also das Ergebnis nachträglicher Reflektion und sozialer Erwünschtheit und weniger einer tatsächlichen Wahrnehmung von Authentizität im Moment der Betrachtung. Deshalb muss nach Weindl "die in der geschichts- und museumsdidaktischen Literatur vielbeschworene Aura der historischen Originale, die allein schon aufgrund ihrer Authentizität eine Faszination auf die Besucherinnen und Besucher ausüben würde, skeptisch beurteilt werden" (S. 245).
 
Fazit
 
Roman Weindl leistet mit seiner Dissertation einen wichtigen, wenngleich sicher hier und da unbeliebten Forschungsbeitrag. Sie ist eine gute Lektüre für Studierende, aber auch für Museumsexpert*innen, die sich rational und fundiert mit musealer Vermittlungs- und Ausstellungspraxis beschäftigen möchten. Dank des Anhangs des Buches mit den Fragebögen, Analysen und Kodierleitfäden ist auch die statistisch anspruchsvolle empirische Untersuchung gut nachvollziehbar. 
 
Weindl zeigt auf, dass Originale in Museen Besucher*innen nicht automatisch einen Zugang zur Vergangenheit eröffnen und "dass die Authentizität der Museumsgegenstände zwar für viele Museumsfachleute von großer Bedeutung sein mag - für einen nicht unbedeutenden Teil des Museumspublikums spielt Echtheit im Sinne historische Provenienz und Einmaligkeit aber anscheinend eher eine untergeordnete Rolle. (...) Stattdessen werden auch solche Formen der musealen Vermittlung als Teil einer authentischen Geschichtspräsentation angesehen, die mit den dort gesammelten, bewahrten und ausgestellten Originalen nur am Rande zu tun haben." (S. 24) Das Konzept der Aura wird demnach von Museumsschaffenden vor allem deshalb genutzt, um die Institution Museum von der eines Archivs oder Depots und die museale von anderen Geschichtsvermittlungsformaten zu unterscheiden.
 
Der Autor zieht aus dieser Feststellung wichtige und richtige Schlüsse: So sollten Museen Konzepte wie das von ihm vorgestellte Interessenkonzept nutzen, um die Effekte von Museumsobjekten auf Besucher*innen zu messen sowie in neue Argumente und museale Ansätze zu transferieren. Ein solcher Ansatz wäre für Weindl etwa, Objektauthentizität und die Hintergründe musealen Arbeitens in der Ausstellungs- und Vermittlungsarbeit stärker zu thematisieren. Schließlich plädiert er dafür, im Rahmen des konservatorisch Machbaren mehr direkte und reflektierend-kritische Erfahrungen im Umgang mit Objekten zu ermöglichen, "anstatt sie als reine Beeindruckungsdinge zum Gegenstand irrationaler, auratischer Verehrung zu machen" (S. 247). Deshalb sollte sich die Museumsarbeit anstelle auf ,Objektfetischismus´ und Materialität stärker auf individuelle, soziale und kulturelle Qualitäten und Vermittlungsansätze fokussieren.
 
Leider spielt die Digitalisierung von Ausstellungen und Vermittlungsaspekten in der Publikation kaum eine Rolle und das ist wohl ihre größte Schwäche. Entsprechend verweist der Autor nur darauf, dass die Aura im digitalen Zeitalter seiner Meinung nach zunehmend an Relevanz verlieren wird. Digitale Repliken würden nicht zwangsläufig anders wahrgenommen als Originale in Vitrinen, da sie einerseits Kopien echter, physisch existenter Objekte und andererseits digital mitunter zugänglicher sind als in Ausstellungen. Dass sehr viele Menschen noch immer die echte Mona Lisa bestaunen, hat demnach nicht mit deren Aura, sondern vor allem mit dem sozialen Status des Gesehen-Habens zu tun. 

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