27.04.2009
Autor*in
Dorothea Kolland
Dorothea Kolland ist Musikwissenschaftlerin. Sie studierte Gesang an der Musikhochschule München sowie Musikwissenschaft, Soziologie und Italianistik in München, Florenz und Berlin. Sie promovierte 1978 über "Die Jugendmusikbewegung. Gemeinschaftsmusik Theorie und Praxis". Zwischen 1978 1981 war sie Bildungsreferentin der Bundesvereinigung Kulturelle Jugendbildung, ab 1981 Leiterin des Kulturamtes Neukölln. Ihre wissenschaftlichen Schwerpunkte: sind Anfänge des Musiktheaters, Musikpädagogik, Arbeitermusikbewegung, Musik im und gegen den Nationalsozialismus, Widerstand; Jugendkultur, Regionalgeschichte.
Kultur für Integration
Das Prinzip von Diversität und kultureller Teilhabe
Interview mit Dr. Dorothea Kolland, Leiterin des städtischen Kulturamts Berlin-Neukölln
Das Gespräch führte Veronika Schuster.
KM Magazin: Frau Dr. Kolland, wie können Sie Ihre Stadtteilkultur "Neukölln" beschreiben? Was macht Neukölln aus?
Dr. Dorothea Kolland: Neukölln steht im Bewusstsein der Öffentlichkeit als Zentrum für Armut und Probleme der Migration als "Kainsmal" von Berlin. Dies betrifft vornehmlich den sehr dicht bevölkerten Norden Neuköllns. Wiederum beschreibt diese Wahrnehmung nur einen Teil dessen, was man wirklich vorfindet. Es handelt sich bei Neukölln um einen sehr großen Bezirk mit einem relativ wohlhabenden, eher von Einfamilienhäusern bestimmten Bereich im Süden. Aber Neukölln ist nicht nur Armut und viel weniger als man gemeinhin den Medien entnimmt Kriminalität oder Gewalt. Der Stadtbezirk ist geprägt durch seine kulturelle Vielfalt, die auch eine große kulturelle Stärke und ein wichtiges Potenzial bedeutet. Es hat hier bereits seit Jahrhunderten Einwanderungen gegeben, heute heißt das für Nord-Neukölln 50 % Migranten, mit den "sans papier" etwa 60 %. Wir sind ein Quartier, wo nicht gänzlich die Zukunft Deutschlands abgebildet ist, aber doch bereits einiges real ist, was mit Sicherheit auf Deutschland im Allgemeinen zukommen wird. Was aber hoffentlich nicht die Zukunft Deutschlands sein wird: die Armut, die hier herrscht!
KM: Neukölln ist ein Schmelztiegel unterschiedlichster Kulturen aus 165 Nationen. Welche Rolle kommt der Kulturarbeit im Prozess des multinationalen Zusammenlebens zu? Welche Prioritäten setzen Sie dabei bei Ihrer Arbeit?
DK: Kulturarbeit eröffnet Möglichkeiten, die andere Bereiche der Sozialarbeit viel weniger bieten: Kultur kann Menschen dort greifen, wo sie etwas leisten können, was nicht unbedingt in unsere Leistungsgesellschaft hineinpasst. Hier können sie ihre spezifischen Qualitäten, ihr Wissen, ihre Fähigkeiten mit einbringen und erhalten dafür Respekt und Anerkennung. Genau das bleibt für viele Migranten in anderen Lebensbereichen eine unerreichbare Sache. Darin liegt in einer solchen Region zumal die große Chance für die Kultur. Sie kann so etwas darstellen wie einen "Kontakthof" für die verschiedenen Kulturen: Man kann sich treffen, man kann reden, man kann sich ausprobieren, ohne gleich irgendeine Art von Vertrag eingehen zu müssen.
KM: Eine Piazza?
DK: Vielleicht geschützter als das Aufeinandertreffen auf einer öffentlichen Piazza. Die andere besonders wichtige Sache ist, dass wir das Prinzip der Diversity verfolgen, also den Aspekt, dass wir uns in unserer Vielfalt, aber auch in unseren Differenzen wahr- und ernstnehmen. Wir wollen nicht "auf multikulti machen", sondern die Unterschiede respektieren. Aus diesen kulturellen Unterschieden ergeben sich natürlich enorm viele Reibungen, aber in diesem Moment findet auch das Aushandeln darum statt, wie das Zusammenleben aussehen kann. Und: Reibungen können sehr produktiv sein, sie bergen das Potential des Neuen.
KM: Wie kann man dem differenzierten Anspruch gerecht werden, für alle Bürger Ihres Stadtteils Angebote zu schaffen? Wonach entscheiden Sie dabei, mit welchen Kunstformen und kulturellen Angeboten Sie auf die Bevölkerung zugehen?
DK: Für alle Bürger das werden wir nie erreichen. Aber das ist sowieso unmöglich. Und wie ich das Kulturangebot so gestalte, dass ich Menschen damit erreiche, kann ich nicht generell im Vorhinein entscheiden. Man muss genau beobachten, wo sich Öffnungspunkte in die Bevölkerung hinein ergeben. Neben Diversity ist bei unserer Arbeit besonders wichtig, die Teilhabe zu ermöglichen. Man muss sich bewusst sein, dass es nicht reicht, die Türen zu öffnen, sprich Kultur für alle zu garantieren. Man muss auch die Wege ebnen, auf denen die Menschen kommen und aufeinandertreffen sollen. Das bedeutet im Wesentlichen, aus den Institutionen hinauszugehen dorthin wo Menschen sind. Das beinhaltet aber auch, Verschiebungen innerhalb des Etats vorzunehmen. Ohne solche Konsequenzen geht es nicht. Wobei wir auf der amtlichen Seite wären: Das betrifft vor allem die interkulturelle Öffnung bei den Mitarbeitern, ein besonders wichtiger Punkt. Hier haben wir mit unheimlichen Schwierigkeiten zu kämpfen, da die Berliner Verwaltung keinerlei Neueinstellungen zulässt. Wir versuchen mit Drittmitteln, Stellen für Mitarbeiter mit nicht-deutscher Herkunft zu bewerkstelligen. Ohne diese geht die Arbeit in diesem Bezirk nicht.
KM: Wie bewerkstelligen Sie die Zusammenarbeit der vielen aktiven Kunstund Kulturprojekte in Ihrem Bezirk? Gibt es hierin Herausforderungen?
DK: Wir haben in den letzten zwei, drei Jahren eine wirklich fulminante Entwicklung in der Ansiedlung von Künstlern, Kultur- und Kunstprojekten erlebt. Aber es zeichnet sich ein zentrifugaler Prozess für die eine oder andere Stadtregion ab. Es droht ein Auseinanderbrechen zwischen Künstler- und Bevölkerungsentwicklung. Das merken wir besonders bei unserem Kulturfestival "48 Stunden". Wir versuchen diesen Spalt aufmerksam zu verfolgen und ihm etwas entgegenzusetzen, indem wir im besonderem Maße Partizipationsprojekte fördern und auch herausfordern. Zum anderen legen wir einen besonderen Fokus auf den Bereich der kulturellen Bildung. Die wichtigste Aufgabe in einer Atmosphäre wie Neukölln ist, möglichst viele Menschen Kunst und Kultur mit genießen zu lassen und dabei ist es unwichtig mittels welcher Kunstformen das stattfindet. Dabei ist es häufig gar nicht sonderlich fruchtbar, wenn ein Kulturamt selbst als Veranstalter auftritt. Wir müssen diejenigen sein, die Kultur ermöglichen und sich dabei im Hintergrund halten.
KM: Welches Feedback bekommen Sie auf Ihre Angebote, und inwieweit können Sie auf Anregungen und Wünsche von außen reagieren? Unter welchem administrativen und finanziellen Druck stehen Sie dabei?
DK: Wir stehen leider unter sehr massivem finanziellen Druck. Wir sind in keinster Weise in der Lage, den Bedürfnissen nach Förderung und Unterstützung in unserem Künstler- und Projektförderungsbereich nachzukommen. Wir haben gerade die Fördervergabe 2009 beendet. Der Bedarf war insgesamt 10 x höher als die Summe, die wir zur Verfügung haben. Das ist natürlich eine bittere Pille. Man muss allerdings erwähnen, dass viele der Anträge von Künstlern eingereicht wurden, die trainiert sind, sich des Förderungssystems zu bedienen, und die sich dadurch nicht kleinkriegen lassen. Aber die andere Ebene, die wir uns wünschen, dass die Bevölkerung selbst die Projekte initiiert, wird eher von einer stummen Fraktion vertreten. Es ist ein großes Problem in Neukölln, dass wir keine Kultur tragende Bürgerschicht oder eine Publikumsspitze haben, auf die wir uns verlassen können. Das macht noch mal eine besondere Schwierigkeit aus. Für diese Aufgaben braucht man Kulturarbeiter, die ein bestimmtes Handwerkszeug mitbringen: eine hohe Sensibilität im Umgang mit Menschen, Zuhörer-Qualitäten und ganz besonders eine große Zähigkeit und Genauigkeit, um gerade Partizipations-Projekte anzugehen. Man benötigt im besten Fall gute künstlerische Ideen und eine Ahnung, wie man solche umsetzen kann. Vielen großen Kultureinrichtungen mangelt es an der Bereitschaft zur berühmten Kultursensibilität, die ich aber immer wieder einfordere. In einem Bezirk wie Neukölln kann man aber nur dann überleben, wenn man sich sein potenzielles Publikum vor Augen hält. Ein Anliegen muss dem Kulturamt der Zukunft besonders wichtig sein: das zu reflektieren, was man macht.
KM: Frau Dr. Kolland, Sie selbst können in Neukölln nun auf beinahe 28 Jahre "Diensttätigkeit" zurückblicken. Rückblickend betrachtet: Was hat sich verändert? Worin liegen die zukünftigen Herausforderungen für das Kulturamt Neukölln?
DK: Diese Stellung zwingt einen immer wieder zur Flexibilität, weil man stets vor neuen Aufgaben und neuen Ideen steht - und das macht die Arbeit einfach großartig. Was bisher in Neukölln geleistet werden konnte, war ein Stabilität zu erreichen. Kernbereich war auch die Schaffung von Strukturen, die eine Fokussierung auf die eigentlichen Belange und die Freiheiten für Vernetzungen möglich machen. Eines der großen Projekte mit diesem Bezug ist das Kulturnetzwerk, welches es so in keinem anderen Bezirk von Berlin gibt. In diesem Netzwerk wird sehr solidarisch zwischen Kulturinstitutionen und Künstlern gearbeitet. Dabei spielt das Amt nur eine Hintergrundrolle und bietet eine verlässliche und nachhaltige Struktur und hilft absichern. Die große Herausforderung für Neukölln ist natürlich, für die vielen Kinder Jugendlichen so etwas wie Chancengleichheit zu schaffen. Und ich denke, darin liegt die wichtigste Aufgabe der Kultur für die Zukunft. Chancengleichheit muss aber auch für Stadtstrukturen gelten. Hier kann die Kultur stadtgesellschaftliche Impulse aufnehmen und als Kommunikationsplattform fungieren, mit den Stadtplanern am Ball bleiben, neue Aktionsfelder und Koalitionen entwickeln. Das ist ein sehr wichtiges Thema. Ich glaube nicht, dass es unbedingt die Aufgabe von Kulturämtern ist, die Top-Avantgardekunst zu präsentieren, also beispielsweise piekfeine Ausstellungen zu organisieren (auch wenn wir uns da wohl um Qualität bemühen). Wir haben hierfür gar nicht die Finanzen. Unsere große Chance: Wir sind mehr als alle anderen Kulturinstitutionen an der Bevölkerung dran und müssen das auch bleiben. Über die eigentliche Aufgabe der Kulturämter gab und gibt es jedoch immer noch große Uneinigkeiten.
KM: Gibt es die Kulturämter, die nicht die Kunst und den Bürger also beide Seiten - vertreten?
DK: ... und darin auch nicht ihre Aufgabe sehen! Aber es ist bei weitem nicht mehr die Mehrheit, wie es noch vor einigen Jahren war. In einer Stadt wie Berlin, die von Galerien und Kunstinstitutionen nur so birst, müssen wir uns als Kulturamt gar nicht auf ein solches Wettbewerbsfeld begeben, sondern unsere Aufgabe genau formulieren und diese lösen.
KM: Frau Dr. Kolland, vielen Dank für das spannende Gespräch!
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