18.01.2010

Autor*in

Martin Flashar
Kommentar

Zu Besuch in Essen - der Start ins Kulturhauptstadtjahr 2010

Wir besuchten Freunde daheim im Ruhrgebiet. Der Start zur Kulturhauptstadt 2010 bot den Anlass. Misslungener Show-Down am Abend davor. Der Tiroler Markus Lanz versammelte in seinem ZDF-Talk einige Gäste aus dem Pott.
Unsere alten Freunde und wir punktuellen Heimkehrer waren vorm heimischen Fernseher geradezu peinlich berührt. Der Mann hat(te) keine Ahnung vom Revier, blieb von seiner Redaktion mäßig vorbereitet. Der Running-Gag über 90 Minuten, was für eine komische Sprache diese Menschen da an der Ruhr so pflegen, rettete ihn nicht im Gegenteil! Es gibt wahrlich mehr über die Leute zwischen Duisburg und Dortmund, von Bottrop bis Schwelm zu berichten als deren bemerkenswertes Idiom. Der Moderator: eine glatte Fehlbesetzung! Dank Helge Schneider, dem alten Mülheimer, der sich an dem Frage-Antwort-Spielchen auch nicht recht beteiligen wollte, entstand immerhin für einige Minuten gewisse Aufheiterung.
Alles Übrige gelang dem Management der Ruhr 2010-GmbH nahezu glänzend.

Am folgenden Tag fiel der eiskalte Startschuss auf Zeche Zollverein. Am frühen Abend trafen wir ein, minus 5 Grad. Die VIP-Eröffnung war gerade vorbei, man tummelte sich im Festzelt. Bei Eiseskälte stieg die Stimmung. Seit 18 Uhr stand das riesige Gelände, in das 200 Fußballfelder passen, dem Publikum offen. Zunächst konnte man die Besucher noch grob überschauen, gefühlte 20.000 Menschen.
Besonders eindrücklich blieb die schon äußerliche Vielfalt derer, die kamen: Alt und Jung, Senioren wie Schüler, Familien und verschmuste Paare, Fußball-Fans aus einfachen Verhältnissen neben Bundestagsabgeordneten, Jeansjacke versus Pelz, sogar das kleine Schwarze trug frau hochhackig im Schnee umher.

Ein Schwerpunkt des Jahres liegt naturgemäß auf der Kunst, zu sehen in den Ausstellungen und Museen. Am Starttag gab es die Vorbesichtigung des neuen Ruhr-Museums. Mit der Kohlenwäsche der Zeche könnte der Ort kaum sinnfälliger und eindrücklicher gefunden sein. Auf drei Etagen ist die Mischung aus Naturkunde und Regionalgeschichte präsentiert: oben, Stockhöhe 17 Meter, das Kaleidoskop der Gegenwartsthemen, in der Mitte bei 12 Metern die vorindustrielle Regionalgeschichte und Archäologie, im Basement schließlich, dem ursprünglichen Weg der Kohle folgend sinnfällig die große Zeit der Industrialisierung. Ein toller Durchgang. Die Kulisse des Industriebaus liefert eine perfekte Inszenierung. Wenn es etwas zu kritisieren gibt, dann die Enge im mittleren Geschoß. Dort findet sich auch ein nicht ganz schlüssiges Ausstellungsmodul: Was haben die griechischen Vasen des vormaligen Ruhrlandmuseums hier zu suchen? Sie sind kein Zeugnis der Geschichte und Kultur des Ruhrgebiets, außer man hätte an ihnen die Historie privaten und öffentlichen Sammelns antiker Kunst im Revier dokumentiert. Doch das unterblieb weitgehend und wird erst im Katalog ausgeführt. Ein überraschender Fremdkörper daher.

Was bringt das Jahr im Ganzen? Am 30. Januar eröffnet das Museum Folkwang in der Innenstadt mit dem Erweiterungsbau von David Chipperfield ein weiteres Highlight zweifelsohne. Im Herbst wird das Museum Küppersmühle für Moderne Kunst in Duisburg an Europas größtem Binnenhafen den spektakulären Container-Aufsatz der Baseler Architekten Herzog & de Meuron erhalten: 2.000 Quadratmeter neue Ausstellungsfläche bedeuten auch hier einen immensen Zugewinn an musealer Infrastruktur.

Beachtlich ist auch der Themenschwerpunkt Kreativwirtschaft stärken: darin spiegelt sich der Strukturwandel in NRW vielleicht am deutlichsten. Leuchtturm soll das Dortmunder U werden. In der ehemaligen Union-Brauerei wird ein kreatives Zentrum entstehen, in dem sich das bisherige Museum am Ostwall, Institute der Fachhochschule und der Uni Dortmund, der Hartware MedienKunstVerein sowie Veranstaltungs- und Ausstellungsflächen versammeln. Das Projekt in der reichlich verschuldeten Stadt zeigte als einziges gewisse Geburtswehen und zeitliche Verzögerung, die (partielle) Eröffnung ist jetzt für den Mai angekündigt.

Die Route der Wohnkultur erscheint nicht nur architektonisch, sondern auch soziologisch bedeutsam. Da überrascht zunächst die (an sich banale) Erkenntnis, welche architektonische Vielfalt das Revier bietet: Nicht aller Baubestand fiel den Bombardements des letzten Weltkriegs zum Opfer. Neben Fachwerk, Gründerzeit und Jugendstil allenthalben sowie der allgegenwärtiger Bergarbeitersiedlung bestechen solch Kleinode wie das Bauhaus-Ensemble Kaiserhof am Ostrand der Dortmunder Innenstadt. Das alles, im Ganzen 60 Wohnobjekte, kann der Besucher im Rahmen der Route besichtigen und die privaten Wohnungen begehen.
Dabei, erst recht aber zum Still-Leben am 18. Juli wird wohl eines der Hauptcharakteristika des Ruhrgebiets plausibel: seine Multikulturalität, mit all ihren Inspirationen und Problemen. Ehemalige Polen, Italiener, Türken, Russischstämmige und andere wurden zur Mitarbeit und Hilfe im vergangenen Jahrhundert an die Ruhr geholt oder kamen aus freien Stücken. Sie konstituieren wahrlich einen Schmelztiegel. An dem Sonntag im Juli steht die Hauptverkehrsader, die Autobahn A40 (die vormalige B 1) still, sie ist dann autofrei auf 60 Kilometern und bildet die Bühne eines großen Fests der Bewohner aller Ethnien.


Prämierte Wurstbude in Witten-Annen im 50er Jahre-Design (Foto Flashar)


Welchen Gewinn wird das Ruhrgebiet tatsächlich aus dem Titeljahr erzielen? Zweifelsfrei kommt mit dem Medienhype der Imageboom. Dann bewirkt die Kooperation zwischen 53 Kommunen eine bürokratische Meisterleistung schon zum Bewerbungszeitpunkt! neue Identitätsstiftung und gestärkte Zusammengehörigkeit. Der touristische Effekt mag fraglich sein. Vor allem aber folgt ein Erkenntniszuwachs für alle Deutschen südlich des Mains.
Der Bochumer Literat und ehemalige Tresenleser Frank Goosen schreibt zum überraschenden Grünanteil in der Industrielandschaft (Die ZEIT vom 7. Jan. 2010): Wir können es nicht mehr hören, wenn die Zugereisten sagen: Ich hätte nie gedacht, dass es hier so viele Bäume gibt! Ja, stellt Euch vor, wir haben sogar fließend Wasser!
Dann, am Ende trifft auch manches Vorurteil: die Pommesbuden-Kultur, es gibt sie noch, zum Glück. Allein mit ihr aber, der (imperfekten) Kohle-Assoziation und der Belustigung über den Dialekt sind das Revier und seine Bewohner mitnichten beschrieben. Dies ist die Nachricht für Herrn Lanz & Co.
Am Schluss des Eröffnungsabends, als wir Zollverein wieder verließen, zum Höhenfeuerwerk um 22.30 Uhr kam das Ruhrgebiet dann auf die Beine: realistisch 100.000 Besucher.

Email-Kontakt zum Autor: flashar (at) t13consult.de

Unterstützungsabos


Mit unseren Unterstützungsabos unterstützen Sie unsere Redaktion mit einem festen Betrag pro Monat – und damit alle unsere kostenfreien Inhalte, also unser Magazin, unseren Podcast, die Beiträge und die Informationen zu Büchern, Veranstaltungen oder Studiengängen auf unserer Website. 

5€-Unterstützungsabo Redaktion

Mit diesem Abo unterstützen Sie unsere Redaktion mit 5€ im Monat. Das Abonnement ist jederzeit über Ihren eigenen Account kündbar.

Preis: 5,00 EUR / 1 Monat(e)*

15€-Unterstützungsabo Redaktion

Mit diesem Abo unterstützen Sie unsere Redaktion mit 15€ im Monat. Das Abonnement ist jederzeit über Ihren eigenen Account kündbar.

Preis: 15,00 EUR / 1 Monat(e)*

25€-Unterstützungsabo Redaktion

Mit diesem Abo unterstützen Sie unsere Redaktion mit 25€ im Monat. Das Abonnement ist jederzeit über Ihren eigenen Account kündbar.

Preis: 25,00 EUR / 1 Monat(e)*
* Alle Preise sind inkl. der gesetzl. Mehrwertsteuer, zzgl. evtl. anfallenden Gebühren
Kommentare (0)
Zu diesem Beitrag sind noch keine Kommentare vorhanden.

Unterstützungsabos

Mit einem Unterstützungsabo unterstützen Sie die kostenfreien Inhalte unserer Redaktion mit einem festen Betrag pro Monat – also unser Magazin, unseren Podcast, die Beiträge und die Informationen zu Büchern, Veranstaltungen oder Studiengängen auf unserer Website. 

5€-Unterstützungsabo Redaktion

Mit diesem Abo unterstützen Sie unsere Redaktion mit 5€ im Monat. Das Abonnement ist jederzeit über Ihren eigenen Account kündbar.

Preis: 5,00 EUR / 1 Monat(e)*

15€-Unterstützungsabo Redaktion

25€-Unterstützungsabo Redaktion

* Alle Preise sind inkl. der gesetzl. Mehrwertsteuer, zzgl. evtl. anfallenden Gebühren
Cookie-Einstellungen
Wir setzen auf unserer Website Cookies ein. Einige von ihnen sind notwendig (z.B. für den Stellenmarkt), während andere uns helfen, unsere Angebote (Redaktion, Magazin) zu verbessern und wirtschaftlich zu betreiben. Einige Angebote können nur genutzt werden, wenn Cookies gesetzt wurden.
Sie können die nicht notwendigen Cookies akzeptieren oder per Klick auf die graue Schaltfläche ablehnen. Nähere Hinweise erhalten Sie in unserer Datenschutzerklärung.
Ich akzeptiere
nur notwendige Cookies akzeptieren
Impressum/Kontakt | AGB