19.10.2009

Autor*in

Hubert Theler
Kultur- und Kreativwirtschaft Schweiz

Konstrukt oder Wachstumsbranche?

Ein Beitrag von Prof. Hubert Theler, Mitglied der Forschergruppe Research Unit on Creative Industries (RUCI), Zürcher Hochschule der Künste
Während in vielen europäischen Staaten wie etwa Deutschland, Großbritannien, Frankreich, aber auch Italien und Spanien die Debatte um die Kulturund Kreativwirtschaft im vollen Gange ist, hat sie in der Schweiz noch nicht einmal richtig begonnen. Schon Mitte der 80-er Jahre ist die Europäische Union vermehrt auf den kulturellen Sektor als bedeutender Wirtschafts- und Beschäftigungsfaktor aufmerksam geworden (1). Die EU geht davon aus, dass zirka 2.3% ihrer Beschäftigten in der Kultur- und Kreativwirtschaft tätig sind (2). Wie die derzeitige Debatte in Deutschland zeigt (3), erreicht das Thema eine hohe öffentliche Aufmerksamkeit. Kultur- und Kreativwirtschaft ist nicht nur ein Imagefaktor, sondern ein eigenständiges Wirtschaftsfeld, welches sich zunehmend als Wachstumsbranche etabliert. Ihr wird eine wesentliche Bedeutung auf dem Weg zur wissensbasierten Ökonomie beigemessen. Es handelt sich hier nämlich um eine äußerst innovative Branche, welche zukunftsorientierte Arbeits- und Geschäftsmodelle hervorbringt mit Hilfe von modernen Technologien, allen voran den Informations- und Kommunikationstechnologien.
 
Und wo steht die Debatte in der Schweiz? Grundlegendes Zahlenmaterial liefern zwei Studien, die von der Forschergruppe RUCI (Research Unit on Creative Industries) um Michael Söndermann, Christoph Weckerle und Hubert Theler an der Zürcher Hochschule der Künste bereitgestellt wurden. Der erste Kulturwirtschaftsbericht erschien im Jahre 2003 und brachte Erstaunliches zutage (4). Für das Jahr 2000 wurde ein Umsatz des privatwirtschaftlichen Sektors (ohne den subventionierten öffentlichen Sektor) von 17 Mrd. Schweizer Franken errechnet mit zirka 82'000 Beschäftigten (5)! Im Vergleich zu den Vorjahren stieg sowohl der Gesamtumsatz um 5.5% als auch der steuerpflichtige Umsatz durchschnittlich um 6.8%.(6)
 
Die zweite Studie legte die Forschergruppe RUCI im Jahre 2008 vor. In der Studie Kreativwirtschaft Schweiz (7) welche sich vermehrt auch an der internationalen Debatte orientierte (8), wurden fundiertere Resultate mit internationaler Kompatibilität errechnet, die denn auch international hohe Aufmerksamkeit erregte. Gemäß dieser Studie kann die Kreativwirtschaft Schweiz wie folgt kurz porträtiert werden (9):
 
Arbeitsstätten 41600
Anzahl Unternehmen 40600 (12,7% aller Unternehmen)
Arbeitsplätze 200000
Wertschöpfung 19,5 Mrd. CHF (4,3% du BSP)
Umsatz 61,7 Mrd. CHF (2,5% der Gesamtwirtschaft)
Erfasst sind alle Kultur- und Kreativunternehmen der Schweiz, welche überwiegend erwerbswirtschaftlich orientiert sind und sich mit der Schaffung, Produktion, Verteilung und/oder medialen Verbreitung von kulturellen/kreativen Gütern und Dienstleistungen befassen. Ausgehend von der allgemeinen Systematik der Wirtschaftszweige des Bundesamts für Statistik definierte die Forschergruppe nach internationalem Standard dreizehn Kernbranchen: die Musikwirtschaft, den Buchmarkt, den Kunstmarkt, die Filmwirtschaft, der Rundfunkmarkt, den Markt für Darstellende Künste, die Designwirtschaft, den Architekturmarkt, den Werbemarkt, die Software-/Games Industrie, das Kunsthandwerk, den Pressemarkt und den phonotechnischen Markt (10). Es ist offensichtlich, dass es sich hier um eine Querschnittsbranche handelt, die nicht so homogen abgrenzbar ist wie etwa die Holz- oder Uhrenindustrie. Dennoch ist sie kein willkürliches Konstrukt, sondern eine ernstzunehmende Wachstumsbranche (11). Im Vergleich mit der Gesamtwirtschaft wird die Bedeutung der Branche noch deutlicher:(12)






Auffallend ist die hohe Zahl an Unternehmen. Dies rührt daher, dass die Kultur- und Kreativwirtschaft insgesamt sehr kleinteilig ist. 92 % der Unternehmen sind Kleinstunternehmen (gemäss SECO: Unternehmen bis zu 9 Beschäftigten). Dieses Phänomen ist nicht nur in der Schweiz zu beobachten, sondern überall in Europa. Insgesamt sind im Jahre 2005 über 200'000 Personen in der Kreativwirtschaft tätig. Sie erwirtschaften einen Umsatz von beinahe 62 Mrd. CHF. Der Beitrag an der Bruttowertschöpfung beträgt knapp 20 Mrd. CHF. Der Anteil der Kreativwirtschaft am BIP betrug im Jahre 2004 rund 4.2%. (vgl. dazu die Uhrenindustrie 2.5%, die chemische Industrie 3.4%, das Kreditgewerbe 8.9%) (13).
 
Trotz diesen eindrücklichen Zahlen kann in der Schweiz nicht von einer eigentlichen Debatte um dieses Thema gesprochen werden. Einzig die Wirtschaftsregion Zürich hat mittlerweile bereits den Zweiten Kulturwirtschaftsbericht (14) publiziert. Der Bericht entstand im Auftrag der Wirtschaftsförderung der Stadt Zürich und der Standortförderung des Kantons.
 
Die Kreativwirtschaft (15) als Wirtschaftszweig nimmt für den Standort Zürich eine bedeutende Rolle ein. Rund 53'000 (Stadt: 29'100) Personen finden in diesem Branchenkonglomerat zum überwiegenden Teil existenzfähige Arbeitsplätze und erwirtschaften, konservativ geschätzt, eine Bruttowertschöpfung von mindestens 5,3 Mrd. CHF (Stadt: 2,9 Mrd. CHF). Dies entspricht einem geschätzten relativen Anteil von rund 4,5% am Bruttoinlandsprodukt des Kantons Zürich. Auch im nationalen Kontext kommt der Zürcher Kreativwirtschaft eine wichtige Bedeutung zu: Beim Umsatz entspricht der Anteil des Kantons Zürich rund einem Viertel der gesamtschweizerischen Werte. Innerhalb des Kantons beträgt der Anteil der Stadt Zürich fast durchwegs 50% und mehr. Der Blick über die Landesgrenze hinaus verdeutlicht, dass der Zürcher Kreativwirtschaft im Vergleich mit derjenigen in den Großräumen Berlin und Köln (jeweils in Relation zur nationalen Gesamtwirtschaft betrachtet) mehr Gewicht zukommt.
 
Trotz diesem überraschenden Zahlenmaterial hat es die Kreativwirtschaft in der Schweiz schwer. Dies beweist der Umstand, dass beispielsweise im neuen Kulturförderungsgesetz dieses Wort nicht vorkommt. Ob dies mit der föderalen Struktur der schweizerischen Kulturpolitik zu tun hat oder mit dem mangelnden Interesse bei den Parlamentariern, ist schwer festzustellen. Fakt ist, dass die Zahlen der Kultur- und Kreativwirtschaft Schweiz kaum zur Kenntnis genommen werden und die Zahlen zur öffentlichen Kulturfinanzierung seit 2002 zudem fehlen. Und just in dieser Situation wird das neue Kulturförderungsgesetz im Parlament verabschiedet und Vierjahrespläne erarbeitet für die Kulturinstitutionen auf Bundesebene.
 
Es stellt sich die Frage, wie lange die Schweiz, welche sich die Innovationsförderung auf die Fahne geschrieben hat, es sich leisten kann, die Kultur und Kreativwirtschaft nicht in den Fokus ihrer wirtschaftlichen Bemühungen um internationale Kompatibilität zu stellen. Diese Branche leistet nämlich nicht nur ungeheure Vorarbeit in der Förderung von Innovation, sondern entwickelt auch Modelle für den sich rasch abzeichnenden Strukturwandel in der Arbeitswelt. Innovation also auf allen Ebenen! Die Innovationsfähigkeit und -kraft der Kultur- und Kreativwirtschaft könnte vereinfacht gesagt auf zwei Ebenen unterstützt werden: auf Ebene des individuellen Akteurs, also des Unternehmers oder Freelancers und auf Ebene der wirtschaftlichen und rechtlichen Rahmenbedingungen. Viele Innovationsarbeiter/ innen sind an der Schnittstelle zwischen Kunst und Wirtschaft tätig. Die Bedeutung dieser innovativen Kräfte ist bis heute unzureichend wahrgenommen worden, was sich auch an dem oft bescheidenen Auskommen bei meistens sehr hohen Qualifikationen zeigt. Fördermöglichkeiten auf dieser Ebene könnten die Bereiche Gründung, Finanzierung, Aus- und Weiterbildung sowie Vernetzung sein, konkret: Coaching bei Start-ups, Finanzierung mittels Mikrokrediten, Hilfen beim Markteintritt und Akquisition, Kurse und Schulungen im Bereich ökonomischer Handlungskompetenzen, Förderprogramme, Vergünstigungen bei der Bereitstellung von Arbeitsräumen und Ateliers, Vergabe von Preisen im Bereich der Innovation von kulturellen Produkten und Dienstleistungen, Implementierung eines Messewesens um nur einige zu nennen. Die wenigsten dieser Maßnahmen sind in der Schweiz zu beobachten. Einzig der Design Preis des Bundesamtes für Kultur könnte hier als löbliche Ausnahme erwähnt werden. Die individuelle Förderung ist sozusagen inexistent, wodurch ein großes ökonomisches Potenzial nicht genutzt wird. Zudem werden contentorientierte Innovationsprozesse für immaterielle Produkte oder Dienstleistungen noch immer nicht als Innovationen erkannt bzw. anerkannt.
 
Im Hinblick auf die Rahmenbedingungen sind vorwiegend Politbereiche wie die Bildung zu nennen, beispielsweise kreativwirtschaftsnahe Ausbildungs und Studiengänge. Einrichtungen wie Sozialversicherungskassen für Kulturschaffende gibt es in der Schweiz (noch) nicht. Schwierigkeiten ergeben sich aus Erfahrung auch in der unspezifischen Steuergesetzgebung und im Sozialversicherungsrecht. Mit der zunehmenden Digitalisierung der Content-Industrie gewinnt das Urheberrecht eine enorme Bedeutung. Hierzu sind in der Schweiz derzeit kaum Ansätze zu erkennen.
 
Die Kultur- und Kreativwirtschaft ist eine Zukunftsbranche. Inwieweit sie als solche erkannt und gefördert wird, kann hier nicht abschließend beantwortet werden. Die öffentliche Debatte zu diesem Thema ist noch nicht einmal richtig zustande gekommen. Die Forschungsgruppe RUCI arbeitet weiter an der Erforschung des Feldes und hofft dadurch, das Argumentarium für die jetzt notwendigen Impulse auslösen zu können.

ANMERKUNGEN:
(1) Europäische Kommission: Kultur, Kulturwirtschaft und Beschäftigung, Brüssel
1998; Zorba Myrsini: Arbeitsdokument über Kulturwirtschaft, Ausschuss für Kultur,
Bildung, Medien und Sport, Brüssel 2003.
Feist Andy: Cultural Employment in Europe, Council of Europe, Cultural Policices Research
& Development Unit, Policy Note No. 8, Strasbourg 2000.
(2) Europäische Kommission: a.a.O.: S.2
(3) Söndermann, Michael; Backes, Christoph, Arndt, Olaf, Brünink, Daniel: Kulturund
Kreativwirtschaft, Endbericht, Berlin 2009. Im Auftrag der Bundesregierung
Deutschland
(4) Söndermann, Michael; Weckerle, Christoph; Theler Hubert: Kultur. Wirtschaft.
Schweiz, Hochschule für Gestaltung und Kunst, Zürich 2003.
(5) Ebenda: S.21
(6) Ebenda: S.16
(7) Söndermann, Michael; Weckerle, Christoph; Gerig, Manfred: Kreativwirtschaft
Schweiz, Daten. Modelle. Szene., Birkhäuser Verlag, Basel, Boston, Berlin 2008.
(8) vgl. EU Working Paper: Cultural Statistics in the EU. Final Report of the LEG, EC
2000, S. 90 ff.
(9) Söndermann, Michael; Weckerle, Christoph; Gerig, Manfred: Kreativwirtschaft
Schweiz: a.a.O.: S. 39
(10) Ebenda, S. 29
(11) Die deutsche Abgrenzung der Kultur- und Kreativwirtschaft ist kürzlich für alle
Bundesländer als verbindlich bezeichnet worden. Diese Abgrenzung ist kompatibel mit
der europäischen Kernabgrenzung der EU-Kommission und dem weltweiten Referenzmodell,
dem britischen Creative Industries Konzept.
(12) Ebenda, S. 41
(13) Ebenda, S. 46
(14) Der Zweite Kulturwirtschaftsbericht kann als PDF heruntergeladen werden unter:
www.creativezuerich.ch
(15) Söndermann, Michael; Weckerle, Christoph: Zweiter Zürcher Kreativwirtschaftsbericht,
Zürich 2009. Als PDF unter www.creativezuerich.ch
 

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