28.04.2020

Themenreihe Corona

Autor*in

Frank Romeike
ist geschäftsführender Gesellschafter bei RiskNET GmbH - The Risk Management Network sowie Mitglied des Vorstands der "Association for Risk Management and Regulation". Er hält regelmäßig Vorträge auf nationalen und internationalen Konferenzen rund um die Themen Risikomanagement, wert- und risikoorientierte Steuerung, Szenarioanalyse und Unternehmensbewertung. 
Lernprozesse aus der aktuellen Krise

Böse Überraschungen antizipieren

Als Reaktion auf die Corona-Pandemie führen die meisten Kultureinrichtungen aktuell wichtige, aber situative Maßnahmen durch. Ein solches Krisenmanagement ist aber immer reaktiv und selten wirklich wirksam. Deshalb sollten Kulturbetriebe jetzt daraus lernen und für die Zukunft ein präventives, proaktives und wirksames Risikomanagement entwickeln, das an den Ursachen ansetzt und Maßnahmen zur aktiven Steuerung definiert.

Themenreihe Corona

Die aktuelle Situation sieht eher nach Brotkrumen für viele freischaffende Künstler aus. Zwar bangt eine Heerschar an Kreativen und Kulturbetrieben aufgrund der Covid-19-Krise um ihre Existenz, doch von den großen Worten der Bundesregierung hat der Kulturbereich zunächst einmal wenig. Freischaffende, öffentliche und viele privatwirtschaftliche Kulturbetriebe brauchen keine Kredite, sie brauchen Zuschüsse - und zwar sofort. Aber wann Hilfe zu erwarten ist, bleibt im bürokratischen Dickicht der Landesregierungen und in deren Umsetzungshoheit stecken. 
 
Resilienz 
 
Vielleicht ist dies Ausdruck eines Systems, das seit Bestehen der Bundesrepublik und auch schon davor auf die ökonomische Wachstumskarte gesetzt hat. Das heißt: Kunst und Kultur wurden im vergangenen Jahrhundert in vielen Fällen auf Leuchttürme reduziert. Prestige und Gewinnoptimierung standen im Mittelpunkt anstatt ausreichender finanzieller und vor allem personeller Ressourcen, der Kommerz und die Rendite brachen sich Bahn. Die jetzige Situation ist damit die späte Rache einer jahrzehntelangen Kurzsichtigkeit im Umgang mit der Kunst- und Kulturszene. 
 
Dies vor Augen setzen viele Künstler ihrer jeweiligen Epoche die Kreativität entgegen. Diese Resilienz sollte die Stärke von Kunst- und Kulturschaffenden sein, denn im Umkehrschluss hieß es bis dato: Die oft maue Finanzdecke wurde mit viel Kreativität gestützt. Nun zeigt sich aber, dass vor allem die Passion der Kulturschaffenden viele Kulturbetriebe am Leben erhielt - und das oft nur gerade so. Strukturelle Anpassungen, Strategieentwicklungen und dafür notwendige Mittel waren damit aber nicht möglich. Das rächt sich nun, denn sowohl Künstler als auch Kultureinrichtungen verfügen meist weder über Rücklagen für schwere Zeiten noch über Risikopläne. Stattdessen reagieren sie zwangsläufig mit einem mehr oder weniger guten - und vor allem reaktiven - Krisenmanagement.
 
Im konkreten Fall der Covid-19-Pandemie hätte viele Kulturbetriebe beispielsweise bereits in der Vergangenheit ihre Digitalkompetenz und ihr digitales Angebot ausbauen sowie ihre Strukturen und Arbeitsweisen flexibilisieren können. Diejenigen, die das getan haben, haben jetzt etwas zum Zeigen. Die Software Google Arts & Culture vereint beispielsweise bereits mehr als 500 Online-Auftritte von Museen und Galerien auf der ganzen Welt. Viele weitere, auch kleinere Kulturbetriebe fangen jetzt damit an, werden kreativ und digital. Der Aufwand ist aber ohne entsprechenden Erfahrungsschatz ungleich höher, die langfristige Wirkung und bestehende Reichweite angesichts des zunehmenden Wettbewerbs um digitale Aufmerksamkeit zugleich unklar. So kreativ und spontan die Künstler und Kultureinrichtungen also jetzt auch reagieren und so lobenswert das ist - gäbe es als Teil eines Risikoplans bereits eine bestehende digitale Infrastruktur und wären die Kanäle in der Vergangenheit bereits ausgiebig bespielt worden, wäre die Umstellung jetzt deutlich leichter.
 
Risikomanagement für Kreative: Darauf kommt es an
 
Es trifft sich gut, das wirksames Risikomanagement sehr viel mit Kreativität zu tun hat. Nämlich mit der Fähigkeit, "böse" Überraschungen rechtzeitig zu erkennen und sich darauf vorzubereiten, bevor die Krise vor der Tür steht (siehe Abb. 01). Leider sind viele Kulturunternehmen und auch die öffentliche Hand beim Antizipieren dieser Überraschungen (beispielsweise in einer definierten Strategie) nicht besonders gut. Häufig werden sie von Überraschungen überrannt, sei es eine Finanzkrise, der Ausfall der Infrastruktur oder eine Pandemie. Und wenn zuvor keine präventiven Maßnahmen definiert wurden, startet ein häufig eher chaotisches und nicht evidenzbasiertes Krisenstakkato. Dies ist in der Praxis unglaublich teuer und selten wirksam. 
 
 
 
Langlebige und erfolgreiche Unternehmen - und eben auch Kulturbetriebe - können mit den beiden Begriffen Agilität und Veränderungsfähigkeit beschrieben werden. Sie schaffen es immer wieder, sich und ihre Produkte neu zu erfinden. Erfolgreiche Unternehmen betreiben außerdem eine konservative Finanzierungs- und Ausgabenpolitik mit einer nur geringen Abhängigkeit von Banken oder Investoren, finanzieren sich also möglichst selbst. Und sie zeichnen sich durch Transparenz ihrer Werte und eine ausgeprägte Identifikation aller Mitarbeiter mit diesen aus. Zumindest letzteres trifft auch auf die meisten Kultureinrichtungen zu und ist in vielen Fällen wohl der einzige Grund, warum diese noch bestehen.
 
Gibt es Risikoverwaltungssysteme oder -pläne, sind diese oft überbürokratisiert und unwirksam, wenn darin lediglich Risiken erfasst und konserviert, sie aber nicht "gelebt" werden. Stattdessen sollten Führungskräfte und Betreiber von Kultureinrichtungen lernen, in die Organisation hineinzuhorchen und schwache Frühwarnsignale erkennen. Das können beispielsweise Unzufriedenheit bei den Mitarbeitern aufgrund bestimmter Strukturen sein, aber auch politische Strömungen oder gesellschaftliche Entwicklungen, die sich auf die Einrichtung auswirken können. Und sie sollten lernen, zuzuhören. Denn viele Frühwarnsignale und Risiken sind in den Köpfen der Mitarbeiter bekannt, werden aber nicht offen kommuniziert, sondern allzu gern "unter den Teppich gekehrt". 
 
So werden die Szenarien einer Pandemie bereits seit vielen Jahren von Risikomanagern und Gesundheitswissenschaftlern präsentiert und diskutiert (auf unserem Kompetenzportal RiskNET bereits im Jahr 2006). Beispielsweise hat der Gesundheitswissenschaftler und Statistiker Hans Rosling das Risiko einer globalen Pandemie bereits seit vielen Jahren auf Platz 1 seiner Risikolandkarte gesetzt (siehe Rosling: Factfulness). Doch nicht selten verschließen die Verantwortlichen in Politik, Wirtschaft und auch öffentlichen Verwaltungen die Augen vor möglichen schmerzhaften (Stress-)Szenarien. Nicht wenige Unternehmen orientieren sich an Artikel 3 des Rheinischen Grundgesetzes: "Et hätt noch emmer joot jejange" ("Es ist bisher noch immer gut gegangen.") oder auch an Artikel 2 "Et kütt wie et kütt." ("Es kommt, wie es kommt."). Aus der Perspektive des Risikomanagements wäre es sinnvoller, wenn Entscheider und auch Risikomanager Artikel 5 beherzigen würden: "Et bliev nix wie et wor." ("Es bleibt nichts, wie es war."). Kurzum: Sei offen für Neuerungen und denke auch über schmerzhafte Szenarien nach.
 
Mögen Szenarien also auch auf den ersten Blick unwahrscheinlich wirken, bedeutet das nicht, dass man nicht umfassend darauf vorbereitet sein sollte - wie Corona gerade zeigt. So habe ich es in der Praxis immer wieder erlebt, dass über die wirklich "kritischen Schwächen" (beispielsweise Führungskultur, Fehlerkultur, fehlende Agilität) während der Mittagspause in der Kantine, am Stammtisch oder in der Familie am Abend diskutiert wird. Die wenigsten Führungskräfte arbeiten in Bezug auf das Risikomanagement mit Kreativitätsmethoden, beispielsweise der "Reverse Thinking-Methode" oder einer Szenarioanalyse, um potenzielle Überraschungen zu antizipieren.
 
Die "Reverse Thinking-Methode" - auch als Kopfstandtechnik oder Flip-Flop-Technik bezeichnet - unterstützt die Analyse von Risiken, indem die eigentliche Kernfrage umgekehrt wird. Statt nach Risiken zu fragen, wird beispielsweise eine der folgenden Fragen gestellt:
 
  • "Was müssen wir als Unternehmen oder Kulturbetrieb tun, damit wir scheitern und insolvent werden?"
  • "Was müssen wir tun, damit unsere definierte Risikotragfähigkeit (limitiert durch Eigenkapital bzw. Liquidität) durch den Eintritt von Risiken komplett aufgebraucht wird?"
  • "Was muss ein Disruptor tun, um unser Geschäftsmodell zu zerstören? Was können wir hieraus lernen?"
Führungskräfte sollten also in die Organisation hineinhorchen und Führungskräfte und ihre Mitarbeiter fragen, welche potenziellen Szenarien ihnen "schlaflose Nächte" bereiten (daher wird die Methode von mir auch als "nightmare assessment" bezeichnet). Sie sollten aktiv zuhören und sich anschließend die Szenarien mit Hilfe eines szenarioorientierten Bewertungsansatzes (schlimmstes Szenario, realistisches Szenario und bestes Szenario) bewerten lassen. 
 
Auch haben viele Risiken gemeinsame Aspekte, auf die man sich nur einmal einstellen muss. Dass Kultureinrichtungen für Mitarbeiter und Besucher nicht mehr zugänglich sind, kann beispielsweise auch bei Überschwemmungen, Terrorsituationen oder verzögerten Baumaßnahmen der Fall sein
 
Krise als Chance begreifen
 
In Corona-Zeiten mit leeren Straßen, Bühnen und Museen erfinden sich viele Kreative neu. Hilfreich sind ihnen dabei digitale Strukturen, Apps und Lösungen. Zimmerkonzerte via Twitter, Musikunterricht und Tanz per Livestream, Schauspiel digital auf den eigenen Rechner übertragen. Kein ganz neues Phänomen, aber gerade jetzt umso wichtiger. Für Kunst- und Kulturbetriebe ist das eine Chance, neue Vermarktungsstrategien auszuprobieren, eine Entkopplung bestehender Geschäftsmodelle voranzutreiben und das Heft des Handelns stärker in die Hand zu nehmen. 
 
Risikomanagement ist die Kunst, mit anderen Leuten Risiken und Chancen professionell zu antizipieren, um so gemeinsam durch die stürmische See zu kommen!
 
Dies wusste bereits der chinesische Philosoph Lăozĭ: "Befasse dich mit den Dingen, bevor sie geschehen. Bringe sie in Ordnung, bevor sie durcheinander sind. Denn die schwierigen Dinge auf der Welt fangen stets einfach an, und die großen Dinge fangen stets klein an."
 
Leseempfehlungen
 

Unterstützungsabos


Mit unseren Unterstützungsabos unterstützen Sie unsere Redaktion mit einem festen Betrag pro Monat – und damit alle unsere kostenfreien Inhalte, also unser Magazin, unseren Podcast, die Beiträge und die Informationen zu Büchern, Veranstaltungen oder Studiengängen auf unserer Website. 

5€-Unterstützungsabo Redaktion

Mit diesem Abo unterstützen Sie unsere Redaktion mit 5€ im Monat. Das Abonnement ist jederzeit über Ihren eigenen Account kündbar.

Preis: 5,00 EUR / 1 Monat(e)*

15€-Unterstützungsabo Redaktion

Mit diesem Abo unterstützen Sie unsere Redaktion mit 15€ im Monat. Das Abonnement ist jederzeit über Ihren eigenen Account kündbar.

Preis: 15,00 EUR / 1 Monat(e)*

25€-Unterstützungsabo Redaktion

Mit diesem Abo unterstützen Sie unsere Redaktion mit 25€ im Monat. Das Abonnement ist jederzeit über Ihren eigenen Account kündbar.

Preis: 25,00 EUR / 1 Monat(e)*
* Alle Preise sind inkl. der gesetzl. Mehrwertsteuer, zzgl. evtl. anfallenden Gebühren
Kommentare (0)
Zu diesem Beitrag sind noch keine Kommentare vorhanden.

Unterstützungsabos

Mit einem Unterstützungsabo unterstützen Sie die kostenfreien Inhalte unserer Redaktion mit einem festen Betrag pro Monat – also unser Magazin, unseren Podcast, die Beiträge und die Informationen zu Büchern, Veranstaltungen oder Studiengängen auf unserer Website. 

5€-Unterstützungsabo Redaktion

Mit diesem Abo unterstützen Sie unsere Redaktion mit 5€ im Monat. Das Abonnement ist jederzeit über Ihren eigenen Account kündbar.

Preis: 5,00 EUR / 1 Monat(e)*

15€-Unterstützungsabo Redaktion

25€-Unterstützungsabo Redaktion

* Alle Preise sind inkl. der gesetzl. Mehrwertsteuer, zzgl. evtl. anfallenden Gebühren
Cookie-Einstellungen
Wir setzen auf unserer Website Cookies ein. Einige von ihnen sind notwendig (z.B. für den Stellenmarkt), während andere uns helfen, unsere Angebote (Redaktion, Magazin) zu verbessern und wirtschaftlich zu betreiben. Einige Angebote können nur genutzt werden, wenn Cookies gesetzt wurden.
Sie können die nicht notwendigen Cookies akzeptieren oder per Klick auf die graue Schaltfläche ablehnen. Nähere Hinweise erhalten Sie in unserer Datenschutzerklärung.
Ich akzeptiere
nur notwendige Cookies akzeptieren
Impressum/Kontakt | AGB