09.03.2023

Themenreihe Corona

Autor*in

Thomas Renz
ist Kulturwissenschaftler. Seit 2020 forscht er am Institut für Kulturelle Teilhabeforschung zu Fragen der strategischen Publikumsentwicklung von Kulturorganisationen. Von 2017-2020 wirkte er als kaufmännischer Geschäftsführer und künstlerischer Leiter des Stadttheaters Peiner Festsäle / Kulturring Peine. Von 2010 bis 2017 lehrte und forschte er als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim. 
(Postpandemischer) Publikumsschwund

Wann wird es wieder so, wie es noch nie war?

Durch die Pandemie ist der Publikumsschwund im Kulturbetrieb zwar verstärkt in den Fokus gerückt, als Hauptursache dafür kann sie jedoch nicht gesehen werden: Denn wie die Ergebnisse einer Langzeitstudie zeigen, standen Kultureinrichtungen schon vor der Coronakrise vor diesem Problem.

Themenreihe Corona

Nachdem im Laufe des Jahres 2022 die letzten für Veranstaltungen relevanten pandemiebedingten Hygiene- und Sicherheitsauflagen wegfielen und Kultureinrichtungen wieder öffneten, erklang schnell landauf, landab das Klagelied des Publikumsschwunds. Es schien auf den ersten Blick so, als ob die COVID-19-Pandemie das Besuchsverhalten nachhaltig negativ verändert hätte. Plötzlich blieben Besucher*innen weg, in Museen gähnte stellenweise die Leere und Theater spielten vor halb verkauften Sälen - selbst bei Premieren, was nicht nur manchem Regisseur das Herz brach.[1] Und viele Akteur*innen in Kultureinrichtungen, -verwaltungen und Kulturpolitik, aber auch Journalist*innen fragten sich, wie wir wieder zu der guten alten Zeit zurückkommen könnten.

Aber Hand aufs Herz! War die Situation bis Februar 2020 denn so viel besser? Happy Days im Land der Dichter*innen und Denker*innen? Wartelisten für Theaterabos? Wegen Überfüllung geschlossene Museen? Nicht wirklich. Ein Blick in die damaligen Vorträge der Kolleg*innen und des Autors selbst spricht Bände: Die Themen waren bekannt und beliebt: "Kulturelle Teilhabe für alle? Konsequenzen für Kulturpolitik und Kulturmanagement", "Durch (Nicht-)Besucher*innenforschung Gelegenheitsbesucher ins Theater bringen!" oder "Das Publikum der Zukunft". Denn seit vielen Jahren war bereits klar, dass es so wie damals eigentlich nicht weitergehen konnte. Deshalb sollten die wesentlichen Herausforderungen, die der Kulturbetrieb bereits seit den 2010er Jahren diskutierte, doch allen bekannt gewesen sein:
 
  • Im Gesamtblick war das Publikum von klassischen öffentlich geförderten Kultureinrichtungen im Laufe der Zeit zunehmend überaltert.[2] 
  • Jüngere Generationen - vor allem Besucher*innen zwischen 20 und 50 Jahren - rückten nicht in dem Maße als reguläres Publikum nach, wie es ökonomisch notwendig wäre.
  • Trotz einiger Bemühungen wie z. B. im Handlungsfeld der kulturellen Bildung seit den 2010er Jahren repräsentierte das Publikum weiterhin nur einen kleinen, elitären Teil der Bevölkerung.[3]  
  • Trotz des Wunsches nach einer "Kultur für alle" wurde eine größere und breitere Teilhabe nicht erreicht.
  • Die Gäste entschieden sich spontaner. Und wer ehrlich zu sich selbst war, wusste, dass Abos eigentlich Auslaufmodelle waren, denn beliebt waren schon damals kurzfristige Käufe mit kundenfreundlichen Stornomöglichkeiten.
  • Insgesamt schien es so, als ob sich Kultureinrichtungen mit elitären und sehr voraussetzungsreichen Programmen, mit einem stellenweise überkommenen Werkskanon sowie mit teils jahrhundertalten Formaten ein großes Stück von weiten Teilen der Gesellschaft entkoppelt hätten.
Solche Beobachtungen über die Veränderung der Publikumsstruktur müssen wissenschaftlich mit Hilfe von - ökonomisch durchaus aufwändigen - empirischen Langzeitstudien verifiziert werden. Denn ein Spekulieren aufgrund vermeintlich privater Erfahrungen zu den pandemiebedingten Entwicklungen wäre problematisch, für die strategische Reaktion von Kultureinrichtungen sogar höchst gefährlich. Das größte System, welches eine solche kontinuierliche Erforschung der Besucher*innen von Kultur- und Freizeiteinrichtungen im deutschsprachigen Raum leistet, ist KulMon®.[4] Das Institut für Kulturelle Teilhabeforschung (IKTf) verantwortet seit seiner Gründung 2020 die wissenschaftliche Betreuung und übernahm 2022 die Projektleitung. KulMon® ist dauerhaft als Langzeitstudie angelegt und ermöglicht den teilnehmenden Einrichtungen durch einen standardisierten Fragenkatalog Vergleiche untereinander bzw. mit Durchschnittswerten der einzelnen Branchen. Erhebungen werden in den Einrichtungen als persönliche Interviews durch ein professionelles Marktforschungsinstitut durchgeführt. 

Auch in Zeiten von COVID-19 liefen die KulMon®-Befragungen kontinuierlich weiter. Methodisch basieren die folgenden Auswertungen auf eben diesen Befragungen mit Besucher*innen von an KulMon® teilnehmenden Kultureinrichtungen in Berlin, in welchen Befragungen zwischen 2019 und 2022 soweit möglich durchgängig durchgeführt wurden. Das war in 17 Museen und Gedenkstätten sowie in 9 Bühnen der Fall. Insgesamt flossen 56.093 mündliche Interviews im Befragungszeitraum zwischen Januar 2019 und August 2022 in die Auswertung ein.[5] Darüber hinaus verantwortet das IKTf alle zwei Jahre eine repräsentative Befragung der Berliner Bevölkerung. Zuletzt wurden im Sommer 2021 auf Grundlage einer Zufallsauswahl durch das Einwohnermeldeamt 3.614 Personen schriftlich postalisch befragt.[6] Somit gibt es genügend repräsentative Daten zu Besucher*innen und Nicht-Besucher*innen vor und während der Pandemie.
 
Strukturelle Veränderungen im Publikum zwischen 2019 und 2022

Das IKTf hat nun alle Zahlen ausgewertet und vielfältige Phänomene diskutiert und interpretiert. Im Groben lässt sich sagen: Die Pandemie hat einiges durcheinandergebracht. Einige Veränderungen waren jedoch nur temporär und sind wieder auf dem Niveau von 2019. Ob das den Kultureinrichtungen wirklich hilft, ist eine andere Frage. 

Mit Blick auf die Altersverteilung ist ab dem Frühjahr 2020 ein deutlicher Rückgang des Anteils der Besucher*innen über 60 Jahre zu verzeichnen. Impfungen gab es damals noch nicht und Schutzmasken wurden noch nicht flächendeckend und verpflichtend genutzt. Es ist daher nachvollziehbar, dass diese statistisch gesehen gesundheitlich vulnerablen Gruppen 2020 Kulturangeboten aus Furcht vor Ansteckung fernblieben. Der Anteil der 60 bis 70-Jährigen ist um ein Drittel, der der 70 bis 80-Jährigen um die Hälfte und der der über 80-Jährigen sogar um zwei Drittel gesunken (s. Abb. 1). Es mag den Anschein vermitteln, als ob die Anteile jüngerer Besucher*innen gestiegen wären. Dieses Phänomen ist jedoch nur auf das Fehlen der älteren Gäste zurückzuführen und nicht mit einer gestiegenen Besuchsaktivität der jüngeren Gäste gleichzusetzen. Bereits im Verlauf von 2021, aber dann vor allem von 2022 haben sich die Anteile der älteren Besucher* innen wieder erholt - die Altersverteilung hat also wieder das prä-pandemische Niveau erreicht.

 
In Bezug auf den Faktor Alter hat die Pandemie somit offenbar keine nachhaltigen Veränderungen der Publikumsstruktur bewirkt. Das mag kurzfristig positiv klingen. Rückblickend auf das Wissen und die Erfahrungen in den Jahren bis 2019 wird aber schnell deutlich: Im Kulturpublikum besteht ganz generell zu wenig Diversifizierung nach Altersgruppen. Ältere sind prinzipiell überdurchschnittlich häufiger vertreten als in der Gesamtgesellschaft. Die Kultursoziologie ist sich schon seit Langem einig: Diese ungleiche Verteilung ist nicht auf einen Alters-, sondern auf einen Generationeneffekt zurückzuführen.[7] Ein bestimmtes Verhalten (z. B. Besuch einer Kulturveranstaltung) tritt nicht mit dem Beginn eines gewissen Alters ein, es ist vielmehr von der Generation abhängig, in welcher eine Person sozialisiert wurde. Somit entwickeln später geborene Generationen im Alter nicht "automatisch" ein Interesse an Kulturbesuchen. Die Pandemie machte aus ökonomischer und aus Sicht der Kulturellen Teilhabegerechtigkeit deutlich, dass fehlende Diversität im Publikum zu Krisenzeiten besonders problematisch werden kann: Wenn überdurchschnittlich repräsentierte Altersgruppen wegfallen, sinkt die Zahl der Gäste. Gleichzeitig können andere, bisher nicht erreichte Altersgruppen kurzfristig nur schwer angesprochen werden.

Vor allem für Großstädte wie Berlin, welche von touristischen Besucher*innen profitierten, stellten zudem die Veränderungen im Reiseverhalten eine Herausforderung dar. Der Anteil der Tourist*innen aus Deutschland stieg im Pandemiejahr 2020 in den Berliner Einrichtungen auf 38 Prozent und war 2021 immer noch leicht erhöht. Dies kann auf pandemiebedingte Reisebeschränkungen ins Ausland und eine Zunahme des innerdeutschen Tourismus zurückgeführt werden.[8] 2022 pendelte sich dieser Anteil aber wieder auf den Ausgangswert von 2019 ein. Am deutlichsten ist die Veränderung bei den Gästen aus dem Ausland. Hier fiel der Wert von 25 Prozent (2019) auf 16 Prozent (2020), wobei sich die alten Werte auch 2022 trotz Anstieg bis zum Sommer noch nicht komplett erholt haben (s. Abb. 2). 

 
Einrichtungen mit hohem Besucher*innenanteil aus dem Ausland litten hingegen nachvollziehbar unter diesen Entwicklungen am deutlichsten. Bei einzelnen Gedenkstätten halbierte sich der Anteil touristischer Besucher*innen aus dem Ausland von ehemals 60 Prozent (2019) auf 32 Prozent (2020). Auch diese Binnenverschiebungen führten jedoch nicht zu einer Zunahme der Besuchsaktivitäten der Berliner Bevölkerung. Diese Anteile sind weitgehend konstant geblieben. In der Folge zählten die Einrichtungen also quantitativ weniger Besucher*innen.

Die Pandemie verschärfte die soziale Ungleichheit im Publikum

Empirische Besucher*innenforschung nutzte bisher überwiegend rein soziodemografische Merkmale (z. B. Alter oder formaler Bildungsabschluss), um das Publikum zu segmentieren und mögliche Ungleichheiten im Vergleich zur Gesamtbevölkerung offen zu legen. Der praktische Nutzen für Kultureinrichtungen war aber eingeschränkt, da die daraus resultierenden Gruppen zu unspezifisch waren und konkrete Maßnahmen nur bedingt abgeleitet werden konnten. Das IKTf nutzt in seinen Befragungen daher die Typologie der Lebensführung von Gunnar Otte.[9] Solche Lebensstile beschreiben den Geschmack, die Einstellungen oder Werte einer Person und eignen sich besser als rein soziodemografische Merkmale dazu, das Verhalten einer sozialen Gruppe zu erklären. Sie beschreiben sowohl, wie Personen ihre Ressourcen einsetzen (z. B. Verwendung von Einkommen), als auch wie modern diese eingestellt sind (z. B. in Bezug auf gesellschaftliche Werte). Mit Lebensstilen können daher mögliche soziale Ungleichheiten im Publikum aufgezeigt werden. Da sie detailliert und empirisch fundiert Auskunft über unterschiedliche Ansprüche an die Freizeitgestaltung und kulturellen Vorlieben liefern, können Kultureinrichtungen konkrete zielgruppenspezifische Maßnahmen daraus ableiten.[10] Die Lebensstil-Matrix enthält insgesamt 9 Lebensstile, welche sich durch ein unterschiedlich hohes Ausstattungsniveau sowie durch unterschiedliche Modernitätsgrade unterscheiden. Abbildung 3 zeigt ausschließlich die drei Lebensstile mit geringer Modernität bzw. geschlossener Biografie. Denn bei diesen Lebensstilen sind die deutlichsten Veränderungen durch die Pandemie feststellbar.
 
Diejenigen Lebensstile der Berliner Bevölkerung, welche bereits in der Vergangenheit vergleichsweise seltener Kulturveranstaltungen besucht haben, besuchen diese durch die Pandemie noch seltener. Und anders als bei anderen Merkmalen wie z. B. Alter oder Wohnort ist hier 2022 keine wesentliche Erholung ablesbar. Dies trifft durchweg auf konservative Lebensstile mit geringem Modernitätsgrad zu und deckt sich mit den Erkenntnissen der Berliner Bevölkerungsbefragung des IKTf aus dem Jahr 2021: Dort wird belegt, dass vor allem die konservativen Lebensstile sowie diejenigen mit niedrigem Ausstattungsniveau aus Sorge vor einer COVID-19-Infektion mit Rückzug reagiert haben.[11] In Bezug auf Kulturelle Teilhabegerechtigkeit ist diese Entwicklung hochproblematisch. Auch vor dem Hintergrund, dass die in den letzten 15 Jahren entwickelten Bemühungen von Kultureinrichtungen zur Ansprache dieser unterrepräsentierten Gruppen offenbar durch äußere Umstände wie der COVID-19-Pandemie ihre sich ohnehin nur langsam entfaltende Wirkung. Die aufgrund von Hygienemaßnahmen temporär eingestellten Vermittlungsmaßnahmen haben diese Entwicklung sicherlich noch verschärft.
Weiter so wie bisher oder braucht es einen neuen Neustart Kultur?
 
Auch langjährige Beobachter*innen des Kulturbetriebs formulieren die Überlegung, dass die Pandemie keine völlig neuen Entwicklungen im Publikum ausgelöst hat. So schreiben die Professorin für Kulturmanagement und Expertin für Kulturvermittlung Birgit Mandel und ihre Co-Autorin Maria Nesemann: "Da auch die vor 2020 gut gebuchten privaten Bühnen und Konzertveranstalter*innen von Publikumsrückgang betroffen sind, ist davon auszugehen, dass die Pandemie ein Treiber für diese Entwicklung war."[12] Auch Armin Klein, emeritierter Professor für Kulturmanagement, kommt aktuell zu einem ähnlichen Schluss: "Wie in nahezu allen gesellschaftlichen Bereichen hat die Pandemie auch bei der Kultur zentrale Probleme offengelegt und scharf konturiert, die schon sehr viel länger vorhanden sind.[13] 
 
Die empirischen Daten des IKTf verifizieren diese Thesen nun durch empirische Langzeiterhebungen. Deutlich wurde: Die Pandemie hat in erster Linie bereits vorher bestehende Herausforderungen in der Struktur des Publikums von Kultureinrichtungen verschärft. Eine aktuelle Online-Studie aus der Schweiz weist zudem erstmalig einen vermuteten Couch-Potato-Effekt empirisch nach, der durch die Erfahrungen in der Pandemie verstärkt wurde. Demnach geben 42 Prozent der Teilnehmenden einer im Herbst 2022 durchgeführten Online-Befragung als Hauptgrund für seltenere Besuche von Kulturveranstaltungen an: "Ich habe mich daran gewöhnt, zuhause zu sein und habe heute weniger Lust, auszugehen."[14] Diese Studie zeigt auch erstmals einen Zusammenhang von verstärkter Homeoffice-Arbeit und sinkendem Interesse an Freizeitaktivitäten am Abend oder am Wochenende. Ursachen für diese Entwicklungen werden zukünftige Studien zeigen müssen.
 
Die Pandemie wirkt also wie ein Brandbeschleuniger. Vor allem eine homogene Struktur des Publikums, die nicht die Diversität der Gesellschaft abbildet, führte in der Pandemie zum ökonomisch problematischen Wegbleiben der Besucher*innen. Zudem ist die Verschärfung der sozialen Ungleichheit durch die Pandemie enorm. Ein mögliches Gegensteuern wird auch dadurch erschwert, dass Einrichtungen aus rein ökonomischen Gründen gezwungen waren, sich in den Pandemiejahren und auch noch aktuell um die Sicherung des Stammpublikums zu kümmern. 
 
Auf Handlungsebene der einzelnen Einrichtung ist daher zu diskutieren, wie durch eine andere Programm- und Personalpolitik grundsätzlich eine stärkere Diversität im Publikum begünstigt werden kann. Damit verbunden könnten die Einrichtungen auch auf zukünftige Krisen besser reagieren und müssten sich nicht mehr auf ein homogenes Publikum verlassen. Diese Debatten um eine breitere und größere kulturelle Teilhabe sind schon lange vor der Pandemie angestoßen worden und mögliche Instrumente sind nicht völlig unbekannt. Die wirklich notwendigen Transformationsprozesse scheinen sie im Kern der Kultureinrichtungen jedoch noch nicht angestoßen zu haben sowie auch die Pandemie nur sehr selten Auslöser für völlig neue Wege war. Wenige Kultureinrichtungen haben die Krise für ein radikaleres Umsteuern genutzt (und bei möglicher Kritik auf eine pandemiebedingte ökonomische Notwendigkeit verwiesen). Symptomatisch kann dies am Beharren auf das Abonnementsystem beobachtet werden. Nur stellenweise probieren Kulturveranstalter*innen neue Distributions- oder Preissysteme aus - wohingegen das Gros der Theater weiterhin am alten Abo festhält. 
 
Auf Handlungsebene von Kulturpolitik und -administration ist zu diskutieren, mit welchen Maßnahmen geförderte Kultureinrichtungen dazu motiviert werden können, sich für Transformationsprozesse in ihrer Programm- und Personalpolitik zu öffnen. "Kultur für alle" ertönt schon seit Jahrzehnten als Auftrag, aber wirklich strukturell verändert hat sich wenig. Auch aktuell scheint es so, dass die Erfahrungen von COVID-19 nicht wirklich zu einem produktiven Tabula rasa in der Kulturförderung, sondern zu einem einfachen "weiter so" geführt haben. Der "Neustart Kultur" der vorigen Bundesregierung hat beispielsweise zwar temporär neue Akteur*innen aktiviert[15] und neue Förderformate[16] ermöglicht, aber eine nachhaltige Veränderung der kulturpolitischen Förderstrukturen scheint sich nicht abzuzeichnen. Und noch schlimmer: Durch den Wegfall pandemiebedingter Förderprogramme sind genau solche neuen Wege gar nicht mehr möglich. 
 
Und schließlich kann auch ergebnisoffen diskutiert werden, in welchen Sparten und an welchen Orten 2022 das Angebot an Kulturveranstaltungen stärker gewachsen ist als die Nachfrage, und welche Konsequenzen die verschiedenen Akteur*innen aus Einrichtungen, Verwaltung und Politik daraus ziehen. In anderen vergleichbaren Branchen wie z. B. der Veranstaltungswirtschaft werden dementsprechende Überangebote bereits erkannt und verhandelt.[17] 
 
Ein einfaches "weiter so" scheint nicht die angemessene Reaktion auf alle diese Entwicklungen zu sein. Es ist ratsam, dass Kultureinrichtungen, aber auch Kulturpolitik und -verwaltung angesichts der COVID-19-Krise einen Neustart wagen und sich mit tatsächlichen Veränderungen beschäftigen. Denn nach der Krise ist bekanntermaßen vor der Krise und ohne echte Transformationsprozesse kann der Entkopplungsprozess von Kultureinrichtungen und weiten Teilen der Gesellschaft nicht aufgehalten werden.
 
 
Dieser Beitrag erschien zuerst im freien Teil des Kultur Management Network Magazin Nr. 170: "Postkolonialismus".
 
Fußnoten
[1] So der Regisseur Christopher Rüping im April 2022 auf Twitter, siehe https://twitter.com/CRueping/status/1518501872520339459.
[2] Vgl. Reuband 2018. 
[3] Vgl. Renz 2016.
[5] Vgl. Renz und Allmanritter 2022.
[6] Vgl. Allmanritter und Tewes-Schünzel 2022.
[7] Vgl. Neuhoff 2001, Reuband 2005.
[9] Vgl. Otte 2019.
[10] Vgl. Renz und Tewes-Schünzel 2021.
[11] Vgl. Allmanritter und Tewes-Schünzel 2022.
[12] Mandel und Nesemann 2023.
[13] Klein 2022.
[15] z. B. Die Deutsche Theatertechnische Gesellschaft oder die Interessengemeinschaft der Städte mit Theatergastspielen.
[16] z. B. Recherche-, Prozess- oder Strukturförderung statt Projektförderung.
 
Literatur
  • Allmanritter, Vera; Tewes-Schünzel, Oliver (2021): Kulturelle Teilhabe in Berlin 2021. Einstellungen zu Kulturbesuchen und Hygienemaßnahmen während der COVID-19-Pandemie und Wiederbesuchsabsicht. kurz&knapp-Bericht Nr. 1, Berlin.
  • Dies. (2022): Kulturelle Teilhabe in Berlin 2021: Kulturbesuche, Freizeitaktivitäten und digitale Angebote in Zeiten von COVID-19. Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung, gefördert von der Berliner Senatsverwaltung für Kultur und Europa (Schriftenreihe Kultursoziologie des Instituts für Kulturelle Teilhabeforschung, Nr. 2), Berlin.
  • Klein, Armin (2022): Zwangsvorstellungen? Über das allmähliche, aber unübersehbare Verschwinden des Publikums - auch ohne Corona. In: Kulturpolitische Mitteilungen Nr. 179, IV/2022. S. 16-17.
  • Mandel, Birgit; Nesemann, Maria (2023): Postpandemischer Publikumsschwund als Auslöser für Publikums- und Transformationsstrategien öffentlich getragener Theater, in: Kultur Management Network Magazin Nr. 170, Januar/Februar 2023, Weimar, S. 22-30.
  • Neuhoff, Hans (2001): Die Altersstruktur von Konzertpublika. In Musikforum. Musik leben und erleben in Deutschland. Das Magazin des Deutschen Musikrats 37 (05): 34-38.
  • Otte, Gunnar (2019): Weiterentwicklung der Lebensführungstypologie, Version 2019. Mainz: Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Institut für Soziologie. https://sozialstruktur.soziologie.uni-mainz.de/files/2019/12/Otte2019-Weiterentwicklung-der-Lebensf%C3%BChrungstypologie-Version-2019.pdf.
  • Renz, Thomas (2016): Nicht-Besucherforschung. Die Förderung kultureller Teilhabe durch Audience Development. Bielefeld: transcript.
  • Renz, Thomas; Allmanritter, Vera (2022): Die Pandemie als Brandbeschleuniger. Strukturelle Veränderungen im Kulturpublikum zwischen 2019 und 2022. kurz&knapp-Bericht Nr. 3, Berlin.
  • Renz, Thomas; Tewes-Schünzel, Oliver (2021): Nicht-Besucher*innenforschung revolutionieren? Lebensstile als neuer Zugang zur Erklärung von Kultureller Teilhabe. In: Kultur Management Network Magazin Nr. 163, Weimar, November/Dezember 2021, S. 88-95.
  • Reuband, Karl-Heinz (2005): Sterben die Opernbesucher aus? Eine Untersuchung zur sozialen Zusammensetzung des Opernpublikums im Zeitvergleich. In: Deutsches Jahrbuch für Kulturmanagement (7): 123-138.
  • Reuband, Karl-Heinz (2018): Kulturelle Partizipation in Deutschland. Verbreitung und soziale Differenzierung. In: Institut für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft (Hrsg.): Welt.Kultur. Politik. Kulturpolitik in Zeiten der Globalisierung. Jahrbuch für Kulturpolitik 2017/18. Bielefeld: transcript, 377-393.

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