09.03.2010

Autor*in

Patrick S. Föhl
ist Gründer und Leiter des "Netzwerks Kulturberatung" in Berlin sowie ein international agierender Kulturentwicklungsplaner, Kulturmanagement-Trainer und Hochschulreferent. Darüber hinaus publiziert er regelmäßig in den Bereichen Kulturpolitik sowie Kulturmanagement und ist Beirat im Bereich "Bildung und Diskurse" des Goethe-Instituts. 
Potsdamer Kulturforscher kritisieren negative Darstellung der Region

Was läuft in Wittenberge?

Wer nach Bildern zu Deindustrialisierung, Bevölkerungsrückgang, Stadtbrachen und deprimierten Arbeitslosen sucht, fährt nach Wittenberge. Ob Spielfilme, Reportagen oder Fernsehberichte, die Stadt steht für Niedergang und Aussichtslosigkeit.
Zweifellos ist Wittenberge ein besonders anschauliches Beispiel für die dramatischen Umbrüche in ostdeutschen Industriestädten. Deshalb wählte auch eine Forschergruppe aus fünf Instituten um den Kasseler Soziologen Heinz Bude diese Stadt als Gegenstand einer groß angelegten Studie zum Thema »Social Capital Über das Leben im Umbruch«. Nach den bisher bekannt gewordenen Ergebnissen (die Studie ist noch nicht veröffentlicht), werden vor dem Hintergrund der einschneidenden beruflichen, kulturellen und sozialen Veränderungen der vergangenen 20 Jahre »Überlebensstrategien« ausgewählter Wittenberger Bürger dargestellt. Dabei kommen nicht nur vermeintliche Verlierer und Frustrierte zu Wort, sondern auch die so genannten Gewinner und Menschen, die neue Formen von informeller Arbeit, Austausch und sinnhafter Tätigkeit entdecken. Die Studie zeigt also ein sehr differenziertes Bild der Lebenswelten, Orientierungen und Aktivitäten der Wittenberger.
 


In der Präsentation der Ergebnisse werden allerdings eher die Vorurteile über eine verlorene Stadt bedient. Das liegt zunächst an der journalistischen Aufbereitung durch den Medienpartner DIE ZEIT (10/2010). Die Bildauswahl suggeriert Wittenberge als eine Stadt der Kuriositäten (ein Schimmel wird von einer schwarz gekleideten Frau an einem Kino vorbeigeführt), der Tristesse und zwanghafter Menschen. Diese auf Effekte und an Vorurteilen orientierten Illustrationen (Bilder bleiben bekanntlich eher haften als Texte) konterkarieren die Bemühungen um ein differenziertes Bild.

Zentrale These der Forschergruppe ist, dass das Gemeinschaftsgefüge der Stadt zerbrochen ist, und sich unverbundene Gruppen (wie Säulen) gebildet haben, die sich in Bezug auf ihre Lebenslage und Lebensweisen strikt abgrenzen. Das ist allerdings eine Entwicklung, die in allen westlichen Gesellschaften zu beobachten ist und seit vielen Jahren unter verschiedenen Begriffen diskutiert wird. Es ist problematisch diese generelle gesellschaftliche Tendenz durch die Verknüpfung mit den »Überlebensstrategien« der Befragten zu einem besonderen Problem Wittenberges zu machen. Das führt dann zu unangemessenen Dramatisierungen, wie beispielsweise in den Potsdamer Neuesten Nachrichten vom 3. März 2010, die ihre Ausführungen zur besagten Studie folgendermaßen etikettierten »Gesellschaft in Ostdeutschland droht Zerfall«. Das Neue Deutschland titelte am selben Tag nicht weniger dramatisierend »Ostdeutsche Gesellschaft zerfällt«, mit dem Fazit »Sozialistisches Wir nicht mehr vorhanden«.
 

Kulturkonzept für den Regionalen Wachstumskern Perleberg-Wittenberge-Karstädt

Im Rahmen dieser einseitigen Berichterstattung kommt zu wenig zur Geltung, dass die verantwortlichen Akteure in Wittenberge sich längst auf den Weg gemacht haben, ihr Gemeinwesen neu zu gestalten. Dafür sucht die Stadt Wittenberge auch die Zusammenarbeit mit ihren Nachbargemeinden. Der durch das Land Brandenburg geförderte Zusammenschluss zum Regionalen Wachstumskern Perleberg, Wittenberge und Karstädt (RWK Prignitz) eröffnet beispielsweise Möglichkeitsräume und überwindet die psychische sowie mentale Fixierung auf eine schrumpfende Stadt.

In diesem Zusammenhang erarbeitete die Forschungsgruppe »Regional Governance im Kulturbereich« des Studiengangs Kulturarbeit der Fachhochschule Potsdam ein Kulturkonzept für den Regionalen Wachstumskern Perleberg-Wittenberge-Karstädt. Die Studie gaben die drei Kommunen in Auftrag unter finanzieller Beteiligung durch das Ministerium für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes Brandenburg aus Mitteln des Europäischen Sozialfonds. Die Untersuchung wurde von Oktober 2008 bis November 2009 durchgeführt und am 2. März 2010 in einer gemeinsamen Sitzung der Kulturausschüsse der drei Kommunen diskutiert.

Das regional orientierte Kulturkonzept wurde auf einer breiten Beteiligungsbasis erarbeitet. Kulturschaffende, Politiker und andere regionale Akteure wurden im Rahmen von Experteninterviews, Gesprächen und Workshops in den Prozess integriert. Die kulturellen Nutzungsgewohnheiten und Wünsche der Bürger wurden mittels eines schriftlichen Fragebogens erhoben. Im Gegensatz zu den Negativschlagzeilen über die Prignitz und insbesondere Wittenberge konnte das Team der Forschungsgruppe, Patrick S. Föhl, Iken Neisener und Prof. Dr. Hermann Voesgen, neben den ohne Zweifel bestehenden immensen demografischen Herausforderungen der Region auch zahlreiche positive Ansatzpunkte in ihren Untersuchungen herausarbeiten.

Viele Projekte und Kooperationen sind bereits sichtbar, weitere entstehen derzeit. Dem häufig bemängelten fehlenden »Wir-Gefühl«, steht trotz aller gegenwärtigen Barrieren ein neuer Ansatz regionaler Zusammenarbeit gegenüber, der den Weg eines offensiven und kreativen Umgangs mit dem demografischen Wandel ebnet. Die Forscher der FH Potsdam trafen bei ihren Untersuchungen nicht nur auf eine Vielzahl engagierter Akteure aus dem öffentlichen, privaten und ehrenamtlichen Bereich, sondern auch auf zahlreiche interessante Orte und Projekte. Insbesondere die industriekulturelle Geschichte der Stadt Wittenberge, mit all ihren Brüchen und Orten, stellt eine entwicklungsfähige Grundlage sowohl für einen offenen Umgang mit den drängenden Problemen des Wandels dar als auch für die kulturtouristische Nutzung. Die verlassenen Industrieanlagen und mitunter leer stehenden Stadtteile können den inzwischen zahlreich in der Region lebenden Künstlern als kreativer Schau- und Arbeitsort dienen und Studenten zu Projekten anregen. Gemeinsam mit den vorhandenen Kulturangeboten und Projekten in der Region können lokalspezifische Themen, wie z.B. Mode und Nähen, gemeinsam aufbreitet und vermittelt werden. Gleichfalls gilt es Räume zu schaffen, für zunächst verrückt erscheinende und innovative Ideen, um von altbewährten Mustern abzurücken und neue, vor allem ungewohnte, Sichtweisen auf die Region zu entwickeln. Damit kann das verkehrsgünstig gelegene Wittenberge als Tor zur Prignitz und vor allem zu den Partnern Perleberg und Karstädt fungieren. Deren gemeinsame Stärken liegen indes nicht nur in der Kooperation und Ressourcenbündelung, um gemeinsam Kulturangebote zu erhalten und zu entwickeln, sondern auch in der Herausstellung der Unterschiedlichkeiten. So findet sich in den drei Kommunen ein facettenreicher Querschnitt verschiedener brandenburgischer Traditionen und Sozialgeschichte.

Doch trotz all der nötigen Außenorientierung soll das Kulturkonzept nicht dazu verleiten, ausschließlich auf eine Verbesserung der Außenwahrnehmung zu zielen und touristische Potenziale in den Mittelpunkt zu stellen. Zu großen Teilen konzentriert es sich auf die Bürger vor Ort und die Themen Generationengerechtigkeit, kulturelle Bildung, Aktivierung, angepasste Entwicklung der vorhandenen Kulturangebote und nicht zuletzt auf die Umlandfunktion des RWK. Denn über die gegenseitige Unterstützung der drei Kommunen hinaus, wird daran zu arbeiten sein, kulturelle Angebote so zu gestalten, dass sie auch in das Umland strahlen, um eine kulturelle Teilhabe für diejenigen sicherzustellen bzw. anzubieten, die in den peripheren Räumen der Prignitz leben. Dafür so die Empfehlung muss zukünftige Kulturarbeit und -förderung interkommunal, mobil und integrativ ausgerichtet werden.

Mit der Realisierung der genannten Empfehlungen kann an einem neuen und selbstkritischen/bewussten Image einer Umbruchsregion gearbeitet werden, das die Bürger vor Ort stärkt und ein Angebot nach außen darstellt, sich mit dieser Region auf eine neue Weise zu beschäftigen. Ohne Zweifel kann dieser Prozess nur gelingen, wenn ein schonungsloser und offener Umgang mit den gegenwärtigen Umbrüchen und Verlusten gepflegt wird.

Dass der Wandel als Chance begriffen werden kann, hat die gemeinsame Sitzung der Kulturausschüsse der drei Gemeinden am 2. März 2010 im Perleberger Rathaus eindrucksvoll unterstrichen. Dort war man sich einig, die bestehenden Hürden der Konkurrenz Schritt für Schritt hinter sich lassen zu wollen und das zukünftige Handeln im Kulturbereich, analog zu den Empfehlungen der FH Potsdam, an den Maßstäben der Nachhaltigkeit, der Aktivierung und der Offenheit hinsichtlich innovativer Ideen auszurichten. Der Mut und die Zuversicht, ungewöhnliche Wege zu erproben und sich damit den Herausforderungen des demografischen Wandels auf kulturellem Gebiet zu stellen, gewinnen in der Region Wittenberge an Boden.

Ein Abstract der Kulturkonzeption steht auf der Seite des RWK Perleberg-Wittenberge-Karstädt zum Download bereit:
 
 

Weitere Informationen und Kontakt:
www.regional-governance-kultur.de
 

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