25.11.2021

Autor*in

Thomas Schmidt
ist Professor für Theater- und Orchestermanagement an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Frankfurt am Main. 
Vorschläge für eine neue kulturpolitische Förderarchitektur

Das Fasziensystem der deutschen Kulturpolitik Teil I

Der folgende Artikel bezieht sich auf eine Untersuchung der kulturpolitischen Förderarchitektur für die Darstellenden Künste in der Bundesrepublik und unterbreitet eine kritische Analyse. Im Zentrum stehen dabei die Freien Darstellenden Künste, wobei ich diese als Teil einer übergeordneten Theaterlandschaft betrachte, zu der auch die öffentlichen und privaten Theater, die Festivals und Bespielhäuser zählen.
Die Studie lief 2021 im Auftrag des Fonds Darstellende Künste. Im Rahmen dessen habe ich 30 jeweils etwa ein- bis zweistündige Interviews geführt, um mir ein aktuelles Bild in der Wahrnehmung der Künstler:innen und Organisationen, aber auch der deutschen Kulturpolitik auf allen Ebenen und in allen Verbänden, Netzwerken und Gewerkschaften zu machen. Hinzu kommen weitere 130 Interviews, die Melina Eichenlaub, Vanessa Hartmann, Rebecca Rasche und Esther Sinka aus dem Masterprogramm Theater- und Orchestermanagement in Frankfurt/Main in einem zweiten Studienstrang zu den Kultur-Entwicklungsplanungen der Länder durchgeführt haben, und deren Erkenntnisse teilweise hier eingeflossen sind. Über das hier Dargelegte hinaus wurden auch Aspekte der "Freiheit der Kunst" und die Frage nach der "Kultur als Pflichtaufgabe" betrachtet.
 
Das Fasziensystem der deutschen Kulturpolitik
 
Der dabei gewonnene Eindruck lässt sich knapp skizzieren: Die deutsche Kulturpolitik besteht aus einem für seine Nutzer:innen und Stakeholder nahezu undurchschaubaren Dickicht an Gewalten, Funktionsebenen, Instrumenten und Fördermechanismen. Die kulturpolitische Gesamtstruktur lässt sich dabei als ein sehniges Gewebe darstellen, bestehend aus: politisch-Legislativen und -Exekutiven Funktionen, Kulturverwaltungen, politischen Netzwerken, Fachgewerkschaften und privaten Instrumenten zur Förderung (Fonds, Stiftungen). Verbände, Gewerkschaften und Netzwerke überschneiden und koppeln sich in ihren Funktionen. Sie schalten sich neben Legislative und Exekutive aktiv in die Gestaltung der Kulturpolitik ein und generieren eine außerparlamentarische Einflusszone. Dadurch entsteht das unübersichtliche, weil in sich miteinander verflochtene Fasziensystem der deutschen Kulturpolitik (s. Grafik 1). Verursacht durch verschiedene kulturpolitische Triebkräfte, die asymmetrische Verteilung von Mitteln zwischen öffentlichen und freien Darstellenden Künsten und ihre künstliche Trennung, fehlen bislang eine einheitliche Kulturpolitik und eine zukunftsgewandte Förderarchitektur. 
 
 
Auf der Meta-Ebene und in den diversen Sektoren agieren verschiedene kulturpolitische Verbände mit ihren spezifischen Interessen. Diese sind in der Regel mit ihrem Aufgaben-Portfolio als Arbeitgeber- und Lobbyverbände sowie als Netzwerke Bestandteil einer kulturpolitischen Textur des Landes. Sie unterstützen und verstärken die Kulturpolitik, zugleich reflektieren sie diese sehr kritisch, um sie zu Veränderungen anzuhalten oder selbst aktiv Weichen zu stellen. Dazu zählen zum einen als "Super"-Verband der Deutsche Kulturrat, dem für die einzelnen Genres und Sparten jeweils führende Verbände angehören, die wiederum selbst aus Verbandsstrukturen bestehen. 
 
Für die Darstellenden Künste ist es der Rat für darstellende Kunst und Tanz (sic! Der Tanz ist natürlich auch eine Darstellende Kunst!), dem wiederum 29 Verbände angehören. Dieser Rat wurde zuletzt präsidiert vom Deutschen Bühnenverein, dessen letzter Geschäftsführer in Personalunion auch die Sprecherfunktion innehatte. Damit konnte er wesentlich zur Durchsetzung wichtiger Ziele und Interessen des Bühnenvereins beitragen. Auch in der Konzeptions-, Strategie- und Beratungsarbeit finden wir vor allem Verbände und Gewerkschaften. Neben vielen kleineren beherrschen darin die folgenden acht großen Akteur:innen das kulturpolitische Feld in den Darstellenden Künsten:
  • Deutscher Bühnenverein (DBV), 
  • INTHEGA, die dem DBV bereits angehört, also eine Struktur doppelt,
  • Bundesverband Freie Darstellende Künste (BFDK), 
  • ASSITEJ, 
  • Dachverband Tanz sowie 
  • die Fachgewerkschaften GDBA, ver.di und VdO.
Dass in diesen Organisationen aktive Künstler:innen kaum in die Strategie-Arbeit einbezogen werden und diese vor allem von Funktionären geleistet wird, verwundert nicht. So üben viele Funktionäre aufgrund der strukturellen Dopplungen dieser Verbände, Räte und Lobbyorganisationen Mehrfachfunktionen aus und generieren damit einen großen Einfluss. 
 
Mit diesen personalisierten Funktionen, Kreuz-Mitgliedschaften und geschäftspolitischen Überlappungen werden ergänzende Funktionen in das strukturelle Gerüst der drei politischen Ebenen Stadt-Land-Bund eingebettet, so dass insgesamt das sehr stark miteinander verflochtene Faszien-System der deutschen Kulturpolitik entsteht. Die damit verbundene große Unübersichtlichkeit schränkt eine unmittelbare Partizipation der Künstler:innen und der Publika als wichtigste Stakeholder des Systems stark ein. 
 
Kritik an der gegenwärtigen Verfasstheit der Kulturpolitik
 
Die Kritik an der gegenwärtigen Verfasstheit der Kulturpolitik ist in den verschiedenen Peer-Groups, Communities und Teilen der Kulturpolitik größer als erwartet. 
 
Der Präsident der Kulturpolitischen Gesellschaft und Erfurter Kulturdezernent, Dr. Tobias Knoblich, definiert Kulturpolitik als "einen komplexen Organismus, der nicht konfliktfrei funktioniert". Seine wesentliche Kritik bezieht sich darauf, dass die Rolle der federführenden Kommunen immer mehr geschwächt wird, "während der Bund eine immer präsentere Rolle einnimmt, die so nie vorgesehen war. (...) Der Bund vermittelt den Akteur:innen das Gefühl des Durchregierens. Damit geht die Gefahr einher, dass das Föderale ausgehöhlt wird." Selbst ein gemäßigter Kritiker wie der Hamburger Kultursenator und Präsident des Deutschen Bühnenvereins, Dr. Carsten Brosda, merkt an, dass es für ein verlässliches "Zusammenspiel der Ebenen der Kulturpolitik (…)  noch mehr Routine und Selbstverständlichkeit in der Kooperation über die Ebenen hinweg" braucht.
 
Kritisiert wird das Bild einer "einheitlichen Bundesdeutschen Kulturpolitik" auch vom Berliner Staatssekretär für Kultur, Dr. Klaus Wöhlert, "die aus vielen Einzelteilen auf verschiedenen Ebenen besteht und von sehr verschiedenen Akteuren ausgeführt wird." Dabei beschreibt Wöhlert die Vorstellung, ein zentrales Ministerium auf Bundesebene könnte alles richten, als Illusion, die "nur wenig Abhilfe" schaffe. Denn "zwar könnte so die Repräsentation der Kunst und Kultur möglicherweise verbessert werden, bereits die Kommunikation mit den Ländern bliebe vom Goodwill dieser abhängig." Auch Tobias Knoblich stimmt ein, dass man "kein Kultur-Ministerium brauche." Lediglich eine Teilnehmerin der Studie, Simone Barrientos, Mitglied des Deutschen Bundestages und des Kulturausschusses, mahnt ein Kulturressort an, "das als wichtiges Ministerium Platz am Kabinettstisch hat."
 
Die Schmerzhafte Beliebigkeit der Förderung
 
Die Förderung von Kunst und Kultur in der Bundesrepublik wird aktuell durch die föderale kulturpolitische Struktur definiert und gerahmt. Bundesländer und Kommunen teilen sich in diese Aufgaben nach dem Prinzip der Subsidiarität. Diese bestimmt, dass sich die Förderstränge ergänzen und komplementieren und der Bund nur punktuell fördert - via korrespondierender Organisationen. Zudem darf der Bereich der Darstellenden Künste nicht direkt vom Bund, sondern nur in Ausnahmefällen (Berlinförderung), implizit (Bundesstiftung für Kultur) oder über Sonderprogramme (Corona-Hilfsprogramme, Neustart Kultur) gefördert werden. Aufgrund dieser Förderstruktur teilen sich Kommunen und Länder - in etwa hälftig - in die Finanzierung der öffentlichen, freien und privaten Segmente der Darstellenden Künste. Nur zwischen 10 bis 20 Prozent in der Spitze wird von den öffentlichen Theatern aus Einnahmen erbracht. Die Anteile der Freien Künstler:innen und Gruppen sind meist deutlich geringer und bestehen oft aus unbezahlt eingebrachten Eigenleistungen.
 
Unter den Künstler:innen wird die "schmerzhafte Beliebigkeit bei der Kulturförderung" kritisiert: "Eine Bundeskulturpolitik ist allgemein kaum sichtbar, lediglich als parteipolitische Slogans werden Haltungen ab und an sichtbar", äußert sich ein:e Theaterleiter:in (T 14). Vielfach korreliert die fehlende Sichtbarkeit auch mit fehlender Initiative der Kulturpolitik, so dass "kaum Dialog mit den Institutionen oder Kunstschaffenden" stattfindet. So verwundert es nicht, dass "derzeit Transparenz und Kommunikation kaum vorhanden" sind und nur auf Nachfrage entstehen (T 14).
 
Kritisiert wird, dass sich die Künstler:innen und Organisationen "vielen Abhängigkeiten ausgesetzt fühlen". Teilnehmer:in 11 spricht davon, dass es zu viele und kaum mehr überschaubare "Gremien und Personen in der Kulturpolitik gibt, die bedient werden möchten, was die eigentliche Theaterarbeit ungemein erschwert." Teilnehmer:in 14 stellt heraus, dass im Aufsichtsgremium ihrer Organisation "hauptsächlich Vertreter:innen aus der Politik" sitzen, weshalb es keine "inhaltlichen Diskussionen" gibt. Sie mahnt endlich eine fachliche Besetzung der Gremien an. 
 
Eine wichtige Erkenntnis ist die eingeschränkte Handlungsfähigkeit großer Teile der deutschen Kulturpolitik, die schlechte, prekäre Situation der freien Künstler:innen nicht rechtzeitig erkannt und keine finanziellen Konzepte entwickelt zu haben. Erst mit der Corona-Krise - und weit entfernt von einer gründlichen Aufarbeitung - und dem Engagement verschiedener Verbände, gab es überhaupt ein Aufwecken und Alarmieren über die Situation der Solo-Selbstständigen und der Freien, deren künstlerische Biographien aus den Augen gelassen wurden, während Verbandsarbeit und "Projektitis" überhandnahmen. Dabei ist klar geworden, dass die soziale Lage in den Förderkonzeptionen mindestens ebenso dringlich aufgegriffen werden muss, wie künstlerische und strukturelle Aspekte, wenn über die nachhaltige Verbesserung der Fördermechanismen reflektiert wird. 
 
Das Phänomen der außerparlamentarischen Steuerung der Kulturpolitik
 
Bezogen auf ihre inhaltliche Arbeit und den Zweck, eine zukunftsfähige Gesamtstruktur der Darstellenden Künste zu gestalten, sind die kulturpolitischen Förderfunktionen idealtypisch dreigeteilt in eine Förder-, eine Lobbyfunktion sowie eine Lern-, Reflexions- und Entwicklungsfunktion. Die Struktur- und Regelungsfunktionen werden an dieser Stelle noch unbeachtet gelassen.
 
Allerdings richtet sich die Aufmerksamkeit meist auf die Förder- und die Lobbyfunktionen, während Lern- und Reflexionsfunktionen nicht ausreichend gespiegelt werden. Das blendet eine nachhaltige Zukunftssicherung weitgehend aus, für die sich die aktuelle Kulturpolitik erst in eine ganzheitlichere Politik transformieren muss.
 
Dies betrifft auch die Verbandsarbeit, die möglicherweise ein zu starker und dominierender Teil der deutschen Kulturpolitik geworden ist, so dass kulturpolitische Aushandlungsprozesse heute außerparlamentarisch stattfinden. Damit setzen sie die traditionellen kulturpolitischen Entscheidungswege, Legislative - Exekutive - Kulturorganisationen, außer Kraft. Vor allem die Legislative auf Bundes- und Landesebene wird viel zu wenig einbezogen. Damit werden Formen der kulturpolitischen Entscheidungsbildung eingeübt, die auf Einflussnahme und weniger auf Mehrheitsentscheidungen beruhen. So setzt ein Lobbywettbewerb um Zugänge zur Politik ein, der andere Akteur:innen mit weniger guter Vernetzung benachteiligt. In der Demokratie müssen gerade letztere bevorzugt werden.
 
Strukturen und Abläufe des sich permanent verdichtenden Fasziensystems der Kulturpolitik werden deshalb selbst von Akteur:innen mit Erfahrung nicht vollständig durchschaut, weshalb mehr Transparenz und Kommunikation angemahnt werden: "In meiner Wahrnehmung sind die Strukturen der Kulturpolitik sehr opak, es ist unklar, wie und von wem Entscheidungen getroffen werden. Was in meine Augen fehlt, ist größere Transparenz der Strukturen und Abläufe", schreibt Teilnehmer:in 7, eine erfahrene Regisseur:in. Ihre Ausführungen kulminieren in ihrer vielfach geteilten Synthese: "Ich habe nicht den Eindruck, dass die Bedürfnisse von Künstlern im Theatersystem oder in der Kulturpolitik überhaupt eine Rolle spielen, das ist in der jetzigen Form gar nicht vorgesehen" (T 7). Andererseits wissen die juristisch ausgebildeten Beamten und Mitarbeiter:innen in den Ministerien und Ämtern oft selbst nur sehr wenig von den differenzierten Prozessen und Strukturen in den Darstellenden Künsten. 
 
Die Kritik an den Verbänden wird - stellvertretend - mit der häufig auftauchenden Kritik am dominierenden Deutschen Bühnenverein am plastischsten deutlich: "Mein Eindruck war immer, dass sich über die letzten 20 Jahre eine Gruppe von Intendanten etabliert hat, die im Hintergrund die Kulturpolitik steuert, da es offenbar an kompetenten Politikern fehlt, verlässt man sich auf die etablierten Profis, was zu einer Verfilzung und einer gewissen Entropie in der Theaterlandschaft geführt hat und Innovation und Veränderung, auch auf personeller Ebene im Keim erstickt" (T 7).
 
Ein erfahrener Dramaturg und Hochschullehrer moniert die "fast logenhafte Geheimhaltungspolitik des Deutschen Bühnenvereins, der als Lobby-Veranstaltung der Intendanten-Willkür dient. Hierzu dient das Mittel der dubiosen Intendantenfindung und der damit geschaffenen, stark vereinheitlicht schraffierten Intendantenlandschaft, in der sich mit dem Bühnenverein in den verschiedenen Rollen des Trainers, Schiedsrichters und aktiven Mitspielers gegenseitig die Bälle zugeschoben werden" (T 8). Hier bleibt zu hoffen, dass es dem konzeptionell wie auch zupackend agierenden Präsidenten Dr. Carsten Brosda gelingt, den DBV auf einen Reformweg zu bringen.
 
Schlussfolgerungen und Empfehlungen
 
Die Kritik der Teilnehmer:innen der Studie bezieht sich also auf folgende Punkte:
 
 
Im derzeitigen kulturpolitischen Kontext konzentrieren sich die Bedürfnisse der Darstellenden Künstler:innen und Organisationen auf folgende Komplexe: 
  • Finanzierung und Beratung für Projekte und künstlerische Vorhaben, Programme und Institution Building,
  • verbesserte Arbeits- und Lebensbedingungen für die Künstler:innen, einschließlich verbesserter Aus- und Weiterbildungsbedingungen,
  • Transparenz, verbesserte Zugänge und Dialog mit der Kulturpolitik,
  • zukunftsfähige Förderarchitektur durch Strukturbildung.
Die derzeitige kulturpolitische Doktrin stellt die Projektförderung in den Mittelpunkt, nicht die Förderung der Künstler:innen. Fördermechanismen dienen vorrangig der Finanzierung von Projekten im Bereich der Freien - und des Betriebs der öffentlichen Theater. Darüber hinaus werden weder Aus- und Weiterbildungen noch Zugänge für junge Künstler:innen oder Quereinsteiger:innen in den Kunstbetrieb oder Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen und zur Absicherung eines künstlerischen Lebenszyklus angeboten. Auch Institution Building, Zugänge zu Wissen und Technologien werden kaum unterstützt. Stattdessen verursachen "Bürokratie und veraltete und unspezifische Förderstrukturen (…) ein Gefühl der Demütigung und Abwertung der Künstler:innen." wie eine Akteur:in (T 9) feststellt. Eine Freie Künstler:in und Netzwerker:in äußert sich symptomatisch für viele andere: "Um überhaupt gefördert zu werden, braucht man Netzwerke und Versorgungssysteme, das schafft Abhängigkeiten, die durchaus schwierig sind. Ohne die damit verbundenen Abhängigkeitsverhältnisse ist es mir in Deutschland heute nicht möglich, als Künstlerin, als Company, als Organisation gefördert zu werden" (T 2). Im Umkehrschluss bedeutet das: Wer sich nicht anbindet und vernetzt und völlig unabhängig agieren möchte, hat kaum eine Chance in einem System der Darstellenden Künste erfolgreich zu sein. Damit ist die Eintrittsschwelle für Künstler:innen in das System der Darstellenden Künste in Deutschland klar umrissen; zugleich wird damit ein Handlungsrahmen für die Kulturpolitik definiert.
 
Reflexion - Vorschläge für die Zukunft
 
Eine neue Förderarchitektur statt erneuerter Fördermechanismen: Auf Grundlage des empirischen und theoretischen Materials lässt sich an dieser Stelle einschätzen, dass derzeit nicht von einer Förderarchitektur gesprochen werden kann, da es den angebotenen Instrumenten an Geschlossenheit und Ganzheitlichkeit fehlt und das System weder auf einem gemeinsamen Konzept, noch gemeinsamen Planungs- oder Abstimmungsmechanismen beruht.
 
Die Grundfragen, die sich daraus ableiten, lauten: Wie können Fördermechanismen so aufgestellt und justiert werden, dass sie nachhaltig sind und eine Partizipation der Künstler:innen an der konzeptionellen Einrichtung der Förderinstrumente, ihren Entscheidungs- und Vergabemechanismen ermöglichen? Und wie gestaltet man daraus eine zukunftsweisende Förderarchitektur?
 
Die Vorstellungen und Wünsche der Freien richten sich nach den oben eingeführten Bedürfnisgruppen aus: Grundsicherung, Zugänge zu Finanzieller Förderung und Entwicklung einer nachhaltige Förderarchitektur. Eine grundlegende Verbesserung der Zugänge zu Förderleistungen und deren inhaltliche Differenzierung, die mit einer deutlich höheren Förderleistung für die Freien verbunden sein sollte, hat eine hohe Priorität. Bezogen auf die zur Verfügung stehenden Fördermittel der Länder und Kommunen für Theater und Darstellende Künste liegen die Fördersummen für die Freien Künstler:innen im einstelligen Prozentbereich. Im Vergleich dazu liegt der Förderbeitrag für die öffentlichen Theater mit jeweils 80 bis 90 Prozent unverständlich viel höher.
 
Um einen Schritt weiter zu kommen, schlägt Helge Lindh, Mitglied des Bundestages und des Kulturausschusses, als ersten Schritt ein neues Abstimmungsinstrument vor: Ein Konklave zur kulturpolitischen Strukturreform: "Wichtig wäre es, sofort zu Beginn der nächsten Legislaturperiode eine kulturpolitische Konferenz als ein Konklave einzurichten, unter Beteiligung aller drei Ebenen, während der die Strukturen und Instrumente einer neuen modernen Kulturpolitik diskutiert werden. Dabei sollte auch die Frage gestellt werden, müssen wir zur Not auch an den verfassungsrechtlichen Bedingungen etwas ändern, um die Kulturpolitik modernisieren zu können."
 
Ausgangspunkt meiner weiteren Überlegungen ist dabei sein Vorschlag: "ein System zu errichten, das besser ineinandergreift, um die bestehenden Reibungsverluste zu minimieren. Zugleich muss auch ein neuer moderner Lastenausgleich zwischen Bund, Ländern und den hochverschuldeten Kommunen besprochen werden, bei dem es (...) um die Aushandlung neuer und sinnvoller Förderanteile geht."
 
Empfehlung 1 - Neue Förderanteile: Die Aushandlung neuer sinnvoller Förderanteile ist in meinen Augen die Basis für eine neue und nachhaltige Förderarchitektur in den Darstellenden Künsten. Es geht dabei zum einen natürlich um die Entlastung der Kommunen bei der Finanzierung der oftmals überdimensionierten öffentlichen Theater, zumal deshalb heute in diesen Kommunen kaum noch Geld bleibt, um eine Freie Szene kontinuierlich zu fördern. Die andere zu behebende Asymmetrie besteht zwischen den Förderanteilen der Freien und der öffentlichen Theater. Damit möchte ich nicht vorschlagen, dass die einen an die anderen nominal etwas abgeben sollen. Stattdessen sollen die Freien in den kommenden Jahren von den nächsten Erhöhungen der Kulturbudgets überproportional profitieren, während sich die öffentlichen Theater aus Solidarität derweil in Verzicht einüben. 
 
Eine Zielstellung sollte sein, dass die Freien Darstellenden Künste bis 2032 insgesamt 15 Prozent und bis 2047 dann 30 Prozent aller Fördermittel in den Darstellenden Künsten erhalten, was einem Wachstum von einem Prozentpunkt p.a. entspricht. Warum eine entsprechende Weichenstellung noch immer nicht vorgenommen worden ist, ist völlig unverständlich. Auch die Corona-Jahre wurden hierfür nicht genutzt, um die Erhöhungen systematisch anzugehen. 
 
Ein eng damit zusammenhängender, weiterer Aspekt, der immer wieder angesprochen wird, ist die unsaubere Logik einer Teilung der Theaterlandschaft in einen öffentlichen und einen freien Bereich, weshalb "die Trennung von freien Theatern/ Theatergruppen und öffentlichen Theatern überwunden werden und zugleich eine sichere, gerechte und ausreichende Finanzierung für beide, auch durch gemeinsame Kooperationen hergestellt werden soll" (T 11). Dazu gehören: "mehr Austausch/ Vernetzung/ gemeinsame Plattformen", die auch über den nationalen Kontext hinausgehen. 
 
Empfehlung 2 - Gemeinsame und übergreifende Produktionsplattformen: Im Prinzip spricht vieles dafür, als ersten Schritt in diese Richtung gemeinsame, übergreifende Produktionsplattformen zu schaffen und großzügig finanziell zu unterstützen, die nicht nur die Dichotomie der beiden Theaterhemisphären erfolgreich beheben, sondern auch die Bürokratien der Bundesländer und die formalen Hürden überspringen. In der konkreten Umsetzung bedeutet das, die wichtigsten Zielstellungen beider Bereiche in deren Entwicklung einfließen zulassen. Da die öffentlichen Theater, wie die jüngeren freien Gruppen und Künstler:innen vor allem bei der Unterstützung durch Kreative Produzent:innen Nachholbedarf haben, wäre es möglich, diese Leistungen in einem Mischmodell zu etablieren und hierfür Hilfe durch die etablierteren Freien in Anspruch zu nehmen. Wenn man die Ebenen in einer ersten Stufe in einem Produzent:innen-System zusammenführt, entstehen herausfordernde Symbiosen zwischen Freien und öffentlichen Häusern, bis sich die Grenzen immer mehr verwischen und Kreative Produzent:innen als Grenzgänger:innen zwischen den Systemen und Ebenen das nachholen, was in vielen Jahren Doppelpass und anderer angebotsorientierter Modelle nicht zu Stande kam: ein nachhaltiger, Hemisphären überschreitender Wissens- und Praxistransfer.
 
Empfehlung 3 - Neujustierung des Förderfokus: Das Fördersystem der deutschen Kulturpolitik ist im Lauf der letzten 70 Jahre deutlich zu wenig erneuert worden und deshalb in wesentlichen Bereichen veraltet, wird von vielen Teilnehmer:innen der Studie reflektiert. Es berücksichtigt zudem die aktuellen Rahmenbedingungen und die soziale Situation der Künstler:innen nur unzureichend. Das gilt auch für die Inhalte und Qualität der neuen und kritischen Diskurse, die mit anhaltender Kraft die Arbeit der Freien Gruppen und Künstler:innen, wie auch der Theater-Organisationen nachhaltig beeinflussen. Vor allem fehlen maßgeschneiderte Beratungs- und Unterstützungsangebote für die Künstler:innen, insbesondere für jene, die - temporär oder langfristig - aus den Systemen fallen, wegen Krankheit, Schwanger- und Elternschaft oder Alter, wie auch für jene, die erst später in ihrer Vita zu den Künsten stoßen und besser integriert werden müssen. Die KSK ist ein sehr unterstützendes Instrument, sie greift aber nicht für alle Künstler:innen und in allen Lebensumständen. 
 
Damit sollte eine weitere Neujustierung des bisher gültigen Förderfokus einhergehen. Dieser beruht in den Freien Darstellenden Künsten bislang fast ausschließlich auf Künstlerischen Projekten, und zu wenig auf Begleitung und Unterstützung sowie auf Nachhaltigkeit, Struktureller Entwicklung und Institution Building. Auf neue Instrumente möchte ich im nächsten Teil (2) eingehen.
 
Dieser erste Beitragsteil erschien zuerst im Kultur Management Network Magazin Nr. 162: "Werbung im Kulturbetrieb". Teil II können Sie in der Magazin-Ausgabe 163: "Identität und Kulturarbeit" lesen.

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