By Disaster or by Design

 

Davide Brocchi nimmt uns in seinem Buch "By Disaster or by Design", erschienen 2023 bei Springer VS, mit auf eine Zeitreise zur Entwicklung von Mensch und Gesellschaft, um zu erklären, wie wir uns dorthin manövriert haben, wo wir jetzt stehen. Er beschäftigt sich dabei mit den drängenden Problemen und globalen Herausforderungen unserer Zeit: darunter Klimawandel, Ressourcenknappheit, soziale Ungleichheit und politische Instabilität. Die zentrale Frage dabei lautet: "Wie können Gesellschaften selbst dann an einem Entwicklungspfad festhalten, wenn er sie in den Abgrund führt?" Brocchis Buch sucht die Antwort in der Kultur. Ihm gelingt ein kurzweiliger Spannungsbogen, in dem er u.a. aufzeigt, was Kultur für diese Entwicklung bedeutet, welche Rolle sie etwa als Bauplan früherer Zivilisationen und heutiger Gesellschaften hat. Und wie sie dazu beitrug, die natürlich gegebene, universale Komplexität zu reduzieren, um sie handhabbar zu machen. Auf rund 570 Seiten setzt sich der Verfasser mit den komplexen Zusammenhängen zwischen Krisen und dem Design unserer Gesellschaft auseinander und analysiert dabei, wie diese Probleme durch menschliche Entscheidungen und Handlungen beeinflusst werden. 

 

Der Aufbau des Buches teilt sich in Ursachenforschung, dem Woher, und in Gegenwartsaufgabe, dem Wohin, Wie und Wer. Dabei werden Ursache und Wirkung, Ereignisse und Entwicklungen, Entscheidungen, Handlungen und Konsequenzen nachvollziehbar zueinander in Beziehung gebracht. Zuvor formuliert der Verfasser die Ziele und Fragestellungen der vorliegenden Untersuchung. Diese Vorgehensweise unterstützt die Lesenden bei der inhaltlichen Navigation durch die umfassende Ausarbeitung und ermöglicht eine konsequente Fokussierung. Der Autor präsentiert seine Thesen und Erkenntnisse in einer zugänglichen Sprache und macht das Buch zu einem lohnenden Zeitinvest für alle, die die mehrdimensionalen Zusammenhänge besser verstehen wollen. 

 

Die Zielsetzung des Buches besteht darin, ein Bewusstsein für die Wechselwirkungen zwischen menschlicher Gestaltung und globalen Herausforderungen zu schaffen. Brocchi möchte den Lesenden verdeutlichen, dass unsere Entscheidungen und Handlungen auf individueller und gesellschaftlicher Ebene einen erheblichen Einfluss auf die Zukunft unseres Planeten haben. Er lädt uns dazu ein, Verantwortung zu übernehmen und bewusste Entscheidungen zu treffen, um positive Veränderungen herbeizuführen.

 

 

"By Disaster or by Design" nimmt eine wichtige Position im aktuellen Diskurs zu globalen Herausforderungen ein. Dass die Transformation dringend erforderlich ist, steht dabei außer Frage. So bietet das Buch eine fundierte und ganzheitliche Perspektive, die über einfache Schuldzuweisungen und oberflächliche Lösungsansätze hinausgeht. Brocchi betrachtet die Komplexität der Probleme und ermutigt dazu, strukturelle Veränderungen anzustreben und nachhaltige Lösungen zu finden. Dabei greift er auf eine breite Palette von wissenschaftlichen Erkenntnissen, Fallstudien und persönlichen Erfahrungen zurück. Er lenkt den Blick dabei konsequent darauf, ob die Entwicklungen by disaster, also weiterhin geschehen lassen, oder by design, durch Mitgestaltung, stattfinden werden. 

 

Der Verfasser greift die bisherige Diskussion über Kultur und Nachhaltigkeit mit zwei Verständnissen von Kultur auf, in der diese als gesellschaftlicher Bereich und bzw. oder als Querschnittsdimension eingeordnet wird. Das Ziel sollte sein, verschiedene Ansätze zwischen Kultur und Nachhaltigkeit in einer einheitlichen Theorie zu vereinen. Kultur hält menschliche Gesellschaften zusammen und hat einen starken Einfluss auf unser Verhalten. Nachhaltigkeit bedeutet, dass wir sowohl individuell - als Einzelwesen - als auch gemeinschaftlich - als Gemeinschaft - das Lernen (als Prozess und Grundlage für Entwicklungen) lernen müssen.

 

Wissenschaften und Kunst sind demnach wertvolle Referenzen für die kulturelle Entwicklung der Gesellschaft. Indem wir uns individuell und gemeinsam stärken, machen wir die Zukunft zu einer Aufgabe der Gegenwart. Für ein gelingendes und zukunftsfähiges Kulturmanagement ist die Lektüre eine wichtige Weichenstellung, denn sie wechselt Perspektiven, stellt Fragen, erlaubt sich Provokation, generiert neues Wissen. Brocchi geht die aktuelle Kulturpolitik nicht weit genug: "Die Krise der Gesellschaft ist auch eine Krise ihrer Kulturpolitik." (vgl. Seite 277). Er beschreibt sie als ohnmächtig, mit geringer finanzieller Ausstattung (und Wertschätzung?) und schwach vertreten auf Amts- und Ministeriumsebene. Die Bedeutung der Kultur als verbindende, ermöglichende und treibende Dimension einer nachhaltigen Entwicklung wird jedoch herausgestellt. D.h., wir sollten die Transformation zur Nachhaltigkeit als eine kulturelle Verantwortung begreifen. Im Fazit heißt das: Eine transformative Kulturpolitik erfordert eine Veränderung der Kulturpolitik selbst. 

 

Davide Brocchi ordnet ein: Woher, Wie, Wozu, Wohin ... Er traut sich zu, den Begriff Transformation als Big Picture darzulegen und spannt den Bogen weit zurück, historisch, über die Entwicklungsschritte des Begriffs, seine diversen Interpretationen und Nebenstrecken und benennt es als das, was es ist: Systemwechsel. Ganz im Sinne von: "Nichts ist so beständig wie der Wandel." (Heraklit von Ephesus, 535-475 v. Chr.) Mit Bezug zum Buchtitel wird klar: Transformation kann der geordnete, notwendige Wandel sein gegenüber einem Disaster, bei dem wir die aktuellen Entwicklungen weiterhin geschehen lassen. Endlich ein Buch über und zur Transformation in ihren zahlreichen, wenn auch noch nicht abschließenden Facetten. Damit liefert der Autor eine gut recherchierte Analyse, die sowohl akademisch interessierte Lesende als auch ein breiteres Publikum anspricht. Seine interdisziplinäre Herangehensweise vermittelt komplexe Zusammenhänge verständlich, ohne dabei an Tiefe zu verlieren. Einige Abschnitte könnten für weniger fachkundige Lesende herausfordernd sein, denn sie sind bisweilen etwas langatmig und benötigen parallele Recherchen. Eine stärkere Fokussierung auf mögliche Lösungsansätze hätten das Buch noch bereichert. Das schmälert in keiner Weise die umfassende und weitreichende Arbeit, die nach Worten des Verfassers des Werkes eine Gemeinschaftsleistung ist. 

 

Brocchi betrachtet die Dinge aus einer ganzheitlichen Perspektive und wird so am besten der Komplexität der Zusammenhänge gerecht. Seine Forschungsmethode ist interdisziplinär und umfasst Theorien aus verschiedenen Wissenschaftsbereichen. Philosophie, Systemtheorien und Kulturökologie helfen dabei, die verschiedenen Perspektiven miteinander zu verbinden. Die Untersuchung stützt sich größtenteils auf Diskursanalysen, Literatur- und Internetrecherche. Theorie und Praxis werden eng miteinander verknüpft. 

 

 

Können wir Transformation? Sicher sind wir nicht, aber wir müssen es angehen - individuell und kollektiv, interdisziplinär und generationsübergreifend. Davide Brocchi liefert dazu einen gründlich und verständlich aufgearbeiteten, sehr aktuellen Zwischenstand einer langen Recherche zum verfügbaren Wissen und der deutschsprachigen Debatte. Er ermutigt, genau hier anzusetzen und - auch wegen der Komplexität bzw. Vielfalt - die gemeinsame Geschichte weiterzuschreiben. Denn das Buch ist ein offenes Werk und kann umgeschrieben oder weiterentwickelt werden. 

 

Dabei macht Brocchi auch deutlich, dass keinesfalls ein "weiter so", sondern vielmehr ein klares "far beyond business as usual" zum erforderlichen Systemwechsel führen sollte, also zu einer Transformation der Gesellschaft zur Nachhaltigkeit. Daher trägt dieses Buch dazu bei, dass wir über die Gesellschaft, Nachhaltigkeit und Kulturpolitik breiter denken und neue Perspektiven gewinnen - auch, indem wir erkennen, dass Ökologie, Wirtschaft, Soziales und Kultur zusammengehören. An zwei Praxisbeispielen (vgl. S. 284) wird deutlicher, was er damit meint: Das Programm "TRAFO - Modelle für Kultur im Wandel" sowie das Forschungsprojekt "Nachhaltigkeitskultur entwickeln: Praxis und Perspektiven soziokultureller Zentren". Am Institut für Kulturpolitik der Universität Hildesheim wurde ein Nachhaltigkeitsleitfaden für die Soziokultur entwickelt, der sich am Deutschen Nachhaltigkeitskodex (DNK) orientiert. Der DNK bietet seit 2011 einen Basisleitfaden für kleinere und mittelständische Unternehmen. Dieser Transfer ist zweifelsfrei ein spannendes Experiment. 

 

"By Disaster or by Design” gehört deswegen auf die Referenzliste für Studierende und Lernende aller Fachbereiche, mit Empfehlung an die Lehrenden, Ausbildenden und Weiterbildenden: als ein Gesamtwerk, das Entwicklung und Zusammenhänge darstellt. Für Kulturschaffende und Kulturermöglichende liefert das gesammelte Wissen des Buches eine unterstützende Argumentation für die zentrale Bedeutung von Kultur für die Transformation zur Nachhaltigkeit. Gerade deshalb, um die Relevanz ihrer Beiträge zu Debatte und Entwicklung neu einzuordnen - und höher zu bewerten und wertzuschätzen. Wo wären wir ohne Kunst und Kultur als eindeutige Zeugen der Weiterentwicklung des menschlichen Gehirns? Das kann sich jede*r selbst fragen. Kunst und Kultur sind weitaus mehr als ein "nice to have"-Zeitvertreib an einem verregneten Sonntagnachmittag, oder das dankbare Ziel gönnerhafter Zuwendung. Neueinsteigenden in das Thema Nachhaltigkeit bietet das Buch eine deutliche Erweiterung gängiger Aspekte und Sichtweisen, könnte aber auch stellenweise überfordern. Dafür lässt sich das Werk gut abschnittweise lesen, ohne den Faden zu verlieren. Die Quellen sind umfassend und ermöglichen die individuelle Vertiefung auch jenseits des vorliegenden Buches. 

 

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