30.01.2023
Themenreihe klimafreundlich
Autor*in
Tim Schumann
leitet seit 2018 die Heinrich-Böll-Bibliothek in Berlin-Pankow. Als Mitglied des Netzwerks Grüne Bibliothek und Unterstützer von Libraries-4-Future fragt er sich, was die Aufgabe von Bibliothek sein kann, eine nachhaltige Zukunft zu erreichen.
Öffentliche Bibliotheken und die ökologisch-soziale Transformation
Auf dem Weg zu grünen Bibliotheken
Alle Bibliotheken befinden sich derzeit in grundlegenden Veränderungsprozessen und Nachhaltigkeit ist ein zentraler Teil dieser Veränderungen. Gerade öffentliche Bibliotheken, die der Nachbarschaft oder dem Kiez zur Verfügung stehen, können dabei auf vielen Ebenen einen Beitrag leisten, bei dem ressourcensparende Arbeitsprozesse nur der erste Schritt sind.
Themenreihe klimafreundlich
Neuerfindung der Idee und der Aufgabe öffentlicher Bibliotheken
Grundlegend für den Veränderungsdruck, der aktuell auf Bibliotheken lastet, ist die digitale Wissens- und Informationsgesellschaft. Immer mehr Menschen erfüllen ihren steigenden Informationsbedarf nicht mehr mit der Hilfe von Büchern, sondern suchen und finden sie im Internet. Gerade öffentliche Bibliotheken spüren diesen Wandel sehr stark. So sinkt die Ausleihe von Büchern (ausgenommen E-Books) langsam, aber beständig. Zugleich werden sie aber immer häufiger besucht und anders genutzt. Sie wandeln sich weg von ihrem Image als Ort der Stille und Passivität hin zu lebendigen Orten der Zivilgesellschaft und Gemeinschaft. Sie legen einen Fokus auf Aufenthaltsqualität und bieten sich den Menschen als ‚dritte Orte‘ oder als "Wohnzimmer der Stadtgesellschaft" (z.B. Borbach-Jaene, 2019) an.
Das führt dazu, dass öffentliche Bibliotheken als Orte der Inspiration, des Lernens, Treffens und Empowerments weitergedacht werden, wie es im "4-Räume-Modell" heißt, das in den 2010er Jahren in Skandinavien theoretisch entworfen wurde (Jochumsen, 2012). Neben den klassischen Buchregalen werden Makerspaces eingerichtet, in denen Menschen selbst aktiv etwas produzieren können, und Bibliotheken werden zu Orten des Do-it-Yourself bzw. Do-it-Together, da viele Menschen hier in Gemeinschaft lernen und experimentieren (Heinzel, 2020). Zudem werden immer mehr öffentliche Bibliotheken zu sogenannten ‚Open Libraries‘, die auch außerhalb der Arbeitszeiten des Personals nutzbar sind. Den Menschen steht also die Infrastruktur (Veranstaltungsorte, Arbeitsräume, Wlan, WC, etc.) deutlich länger zur Verfügung (Neuer, 2020).
Nachhaltigkeit als DNA öffentlicher Bibliotheken
Diese Entwicklungen und Veränderungsprozesse zeigen sich auch für die Idee der Grünen Bibliothek. Seit einigen Jahren nehmen immer mehr Bibliotheken in Deutschland (und weltweit) die Themen Nachhaltigkeit und Klimaschutz auf ihre Agenda. Dabei hilft einerseits die neue Rolle der öffentlichen Bibliothek, als Grüne Bibliothek aktiv zu werden. Andererseits geben die 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen einen Handlungs- und Orientierungsrahmen. Einige Beispiele finden sich bei Biblio 2030.
Wichtig für das Verständnis der Arbeit von Grünen Bibliotheken ist dabei eine Herangehensweise, in der soziale und ökologische Nachhaltigkeit nicht voneinander getrennt betrachtet werden, bei der also das Teilen (und damit auch Sparen) von Ressourcen im Fokus steht und nicht mehr vorrangig persönliche Bereicherung und Besitz. Das ergibt sich fast automatisch, da das Prinzip des ‚sharing‘ seit jeher in der DNA einer öffentlichen Bibliothek verankert und nun auf das Teilen von Räumen, Infrastrukturen und Gegenständen erweitert wird. So ist z.B. das Angebot, Bücher auszuleihen, einerseits ökologisch nachhaltig, da die Menschen das Buch nicht selbst kaufen müssen und damit Ressourcen eingespart werden. Andererseits ist es auch sozial nachhaltig, da das Buch allen zur Verfügung steht, unabhängig von ihrer finanziellen Situation.
Hinter diesem Denken steht auch die wachsende Selbstwahrnehmung als soziale (oder auch solidarische) Infrastruktur für die Nachbarschaft sowie die Wahrnehmung, dass es keine vergleichbaren Orte zu öffentlichen Bibliotheken gibt, die frei von Konsumzwängen sind und bei denen der Aufenthalt prinzipiell kostenfrei ist (Klinenberg, 2018).
State of the Art - Was machen Grüne Bibliotheken eigentlich?
Öffentliche Bibliotheken kombinieren häufig zwei Herangehensweisen an das Thema Grüne Bibliothek. Die erste ist der Blick auf die internen Prozesse und Strukturen. Um in diesem Bereich Fortschritte zu erreichen, rufen immer mehr Bibliotheken interne ‚Nachhaltigkeits-AGs‘ ins Leben (wie die Stadtbibliothek Bremen) oder beauftragen eine*n oder mehrere Kolleg*innen mit der Rolle des/der Nachhaltigkeitsbeauftragten. Zudem haben erste Bibliotheken Nachhaltigkeitsstrategien entwickelt. Diese AGs oder Strategien versuchen, mit Hilfe von Co2-Bilanzierungen (wie die Stadtbibliotheken in Norderstedt oder in Emmerich) oder einer Gemeinwohlbilanzierung (Stadtbibliothek Pankow) konkrete Schritte zu entwickeln, um Ressourcen einzusparen oder Prozesse ökologisch freundlicher zu gestalten. Außerdem sollen in Anschaffungen und Ausschreibungen Nachhaltigkeitskriterien einfließen, um neue Standards zu setzen.
Aber auch ohne diese Strukturen unternehmen Bibliotheken Schritte zum Einsparen von Ressourcen. Eines der gängigsten Beispiele ist dabei die Buchschutzfolie, auf die immer mehr öffentliche Bibliotheken verzichten. Auch die Umstellung auf LED-Beleuchtung oder das Anbringen von Thermostaten an den Heizkörpern steht bei immer mehr Bibliotheken auf der Agenda, damit Strom- und Energieverbrauch gesenkt werden können.
Die zweite Herangehensweise ist die Entwicklung von neuen Angeboten und Services für die Nutzer*innen der Bibliothek. Hier kommt vor allem die Kombination von sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit zum Tragen (z.B. bei der Veranstaltungsreihe ‚Ernte deine Stadt‘ in Bad Oldesloe). Außerdem stellen immer mehr öffentliche Bibliotheken Raum zum Tauschen von Gegenständen, Kleidung oder Lebensmitteln zur Verfügung. Zusätzlich dazu werden ‚Bibliotheken der Dinge‘ aufgebaut, die Gegenstände des nicht-so-alltäglichen Gebrauchs zur kostenfreien Ausleihe anbieten. Ein fast klassisches Angebot stellt hier z.B. die Bohrmaschine dar. Auch Repair-Cafés oder offene Werkstätten, die in Kooperationen betrieben werden (z.B. in der Stadtbibliothek Oberhausen) sind keine Seltenheit mehr in Bibliotheken.
Neben diesen Ansätzen bieten öffentliche Bibliotheken immer öfter Saatgutbibliotheken oder Pflanzentauschbörsen an. Während Saatgutbibliotheken häufig in Kooperation mit Initiativen entstehen, die den Erhalt von alten oder seltenen Sorten sowie die Gemeinfreiheit von Saatgut im Fokus haben, binden Pflanzentauschbörsen vor allem die Nachbarschaft ein. Noch viel zu selten entdecken öffentliche Bibliotheken ihre Grünflächen und bauen diese zu Gemeinschaftsgärten aus (z. B. seit mehreren Jahren die Stadtbibliothek Berlin-Tiergarten).
Die Möglichkeiten, was Grüne Bibliotheken leisten können, sind vielfältig und sicher noch nicht erschöpft. Doch vor allem fehlt die Einbettung der Grünen Bibliothek in gesamtgesellschaftliche Zielsetzungen jenseits der Idee, klimafreundlicher und nachhaltiger zu agieren. Dafür bietet sich die Idee der Großen Transformation geradezu an.
Grüne Bibliotheken als zentrale Institutionen der Großen Transformation
Mit der Großen Transformation (WBGU, 2011) unserer Gesellschaft ist ein massiver Veränderungsprozess auf ökologischer, ökonomischer, technologischer, institutioneller und kultureller Ebene gemeint, der von der kulturellen Vision der Nachhaltigkeit her gedacht wird. Dieser Wandel muss aktiv vom Staat und von der Gesellschaft gestaltet werden (Schneidewind, 2018).
Folgt man dem Klimaforscher Hans-Joachim Schellnhuber, kommt dem Kulturbereich dabei eine zentrale Funktion zu. Die Kultur muss die Idee der Großen Transformation für die Menschen mit Sinn füllen und eine große, positive Erzählung für diese Zukunft entwickeln. Erst dann wird sich die Mehrheit der Gesellschaft dafür einsetzen. Die Sprache der Wissenschaft ist laut Schellnhuber für einen Großteil der Menschen jedoch zu abstrakt (Schellnhuber, 2020).
In diesem Zusammenhang werden die Potentiale Grüner Bibliotheken deutlich. Dabei geht es vor allem um die Potentiale von öffentlichen Bibliotheken in ihrer Bedeutung als soziale oder solidarische Infrastruktur für die Menschen und in ihrer Rolle als Bildungs- und Kultureinrichtungen. Öffentliche Bibliotheken haben immer ihren Kiez und ihre Nachbarschaft im Blick. Ein flächendeckendes Netz öffentlicher Bibliotheken (wie es z.B. in vielen Großstädten, mehr oder weniger gut, zu finden ist) hat eine Wirkung in die Breite und die Tiefe der Gesellschaft, unabhängig von Alter, Geschlecht, sozialem Status oder Bildungsgrad. Vor den Einschränkungen durch Corona verzeichneten öffentliche Bibliotheken in Deutschland entsprechend im Schnitt mehr als 120 Millionen Besuche.
Fazit
Die Verbindung zwischen den Konzepten der Grünen Bibliothek und der Großen Transformation bietet zahlreiche Potenziale. Öffentliche Bibliotheken können eine zentrale Rolle für eine Gesellschaft spielen, in der das Teilen, der Zugang, die Partizipation und das gemeinsame Gestalten im Fokus stehen und nicht mehr vorrangig persönliche Bereicherung und Besitz. Grüne Bibliotheken werden zu ‚Erfahrungsräumen‘, in denen die Menschen ganz praktisch teilhaben an der Transformation zu einer nachhaltigen Gesellschaft und ihren Beitrag dazu leisten können.
Stellen Sie sich vor, zukünftig agiert jede öffentliche Bibliothek im Sinne einer Grünen Bibliothek! Gegenstände und Räume werden gemeinsam genutzt, Wissen und Informationen sind weitgehend kostenfrei, die Anbindung an zivilgesellschaftliche Initiativen wird ausdrücklich gefördert. In einer gut ausgebauten Bibliothek der Dinge können Sie die Gegenstände, die Sie lediglich ab und zu benötigen, einfach und kostenfrei ausleihen. Saatgutbibliotheken helfen, Balkone und Grünflächen mit alten und seltenen Sorten zu bepflanzen. Während in Repaircafés die Menschen defekte Gegenstände reparieren oder mit Hilfe von 3-D-Druckern Ersatzteile herstellen, können sie z.B. an Nähmaschinen eigene Kleidungsstücke nähen oder sogar selbst entwerfen. Das ist aktiv gelebte Beteiligung an der Großen Transformation - und alles, was Sie dafür benötigen, ist ein Bibliotheksausweis.
Literatur
Borbach-Jaene, Johannes (2019): Warum das "Wohnzimmer der Stadt" gerade sonntags geöffnet sein sollte. Ein Standpunkt zur Sonntagsöffnung der öffentlichen Bibliotheken. In: Bibliotheksdienst (53, 7-8), S. 484-488. https://doi.org/10.1515/bd-2019-0070.
Heinzel, Viktoria, Seidl, Tobias und Stang, Richard (2020). Lernwelt Makerspace: Perspektiven im öffentlichen und wissenschaftlichen Kontext. Berlin, Boston: De Gruyter Saur. 2020, https://doi.org/10.1515/9783110665994.
Jochumsen, Henrik, Rasmussen, Caspar und Skot-Hansen, Dorte (2020): The four spaces - a new model for the public library. New Library World 113 (11/12) 2012, 586-597.
Klinenberg, Eric (2018): Palaces for the people. How social infrastructure can help fight inequality, polarization, and the decline of civic life. New York: Crown, 2018.
Neuer, Johannes (2020): Open Library: Mehr Bibliothek für die Bürger. Treffpunkt Kommune, 5. Juni.
Schellnhuber, Hans-Joachim (2020): Impuls beim Panel "Climate, Crisis & Culture”, KulturInvest!-Kongress 2020 "Challenge Climate Change", 26. November.
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