13.11.2019

Buchdetails

Die Kunst der Innovationsgesellschaft: Kreative Interventionen als Suche nach Neuheit (Kunst und Gesellschaft)
von Henning Mohr
Verlag: Springer VS
Seiten: 300
 

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Autor*in

Helga Stattler
leitete 20 Jahre das Hernstein Institut für Management und Leadership. Die Zusammenarbeit mit Künstlern begann 2000 mit Theaterprojekten für Unternehmen und der Projektbegleitung für Veranstaltungsdesigns mit künstlerischen Methoden. Anschließend gründete sie das Institut für Kunst und Wirtschaft als Beraterin und Intermediär für Künstlerische Interventionen.
Buchrezension

Die Kunst der Innovationsgesellschaft. Kreative Interventionen als Suche nach Neuheit

Künstlerisches Handeln bedeutet immer, etwas Neues zu schaffen, und entspricht daher dem Ideal der wissens- und kreativitätsbasierten Innovationsgesellschaft. Doch wie lässt sich dieser Ansatz auf andere Bereiche übertragen? Dieser Frage geht das Buch "Die Kunst der Innovationsgesellschaft" nach.
 
Es gibt bereits einige konkrete Beispiele für Projekte zwischen Kunst und den Bereichen Forschung, Bildung, Gesundheit und vor allem Wirtschaft. Die Zusammenarbeit muss aber von beiden Seiten noch gelernt werden, denn aufgrund der Unterschiede im Wahrnehmen, Denken und Tun passen sie eigentlich nicht zusammen. Einen Teil zum gegenseitigen Verständnis beitragen will Henning Mohrs Dissertation, erschienen 2018 bei Springer. Darin führt er eine beispielhafte, soziologisch fundierte Analyse von Prozesskunst durch. Seiner Erkenntnis nach können künstlerische Projekte dabei helfen, einen neuen Blick auf eine Region und deren unentdeckte Potenziale zu legen. Darüber hinaus verhandelt das Buch zentrale Themen des Kulturmanagement: Freiheit der Kunst, künstlerische Forschung, Wissensdynamiken, Grenzüberschreitungen und Nachhaltigkeit.
 
Eine Welt ohne Gebrauchsanweisung
 
Ziel dieser Dissertation ist die soziologische Analyse der Voraussetzungen, Wirkungsweise und Neuheitsimpulse künstlerischer Prozesse. Die von diesen ausgelösten Wissensdynamiken werden im Kontext der Innovationsgesellschaft erforscht, deren zentrales Konzept die Neuheitssuche ist.
 
In der ersten Hälfte des Buches werden der Begriff des Wissens und die aktuelle Bedeutung des Neuen sowohl anhand der einschlägigen Literatur als auch bereits unter dem Aspekt der Künste behandelt. Vor der Analyse des Beispielprojekts "Archipel InVest" im Rahmen von Urbane Künste Ruhr (UKR) steht ein ausführliches Kapitel über die Kriterien für die Auswahl des Praxisfalls und die Methodik der Erforschung und der Analyse.
 
Die zweite Hälfte des Buches ist der Analyse selbst (immer in Bezug zum Wissen) mit den Teilen Reflexivierung, Experimentalisierung und Aktivierung gewidmet. Den Abschluss bildet die Zusammenführung von Prozesskunst und Wissensdynamiken und der Ausblick auf andere Bereiche der Gesellschaft.
 
Feldzugang und Methodik
 
Da kaum wissenschaftliche Grundlagen zum Thema existieren und daher kein bestehendes Theoriewissen getestet werden konnte, wählte Mohr einen induktiven Ansatz, also die empirische Analyse des Materials aus der Begleitung der künstlerischen Prozesse. Dabei fiel seine Wahl auf Urbane Künste Ruhr, die als Teil der Nachhaltigkeitsstrategie der RUHR.2010 künstlerische Prozesse für den Strukturwandel des Ruhrgebiets nutzt. Angesichts der Vielfalt der Projekte unter dem Dach von von UKR entschied sich Mohr dafür, das Projekt "Archipel InVest" im Rahmen von UKR näher zu untersuchen, das es mehrjährig angelegt war und unterschiedliche Einzelprojekte beinhaltet hat. Die Frage dahinter lautete: Was ist in der Region möglich, damit eine Transformation von der Arbeiterkultur zur Dienstleistungskultur gelingt? Um sie zu beantworten, setzte der Autor die Grounded-Theory-Methodologie ein, ein explorativ-qualitatives Untersuchungsdesign mit offenen Leitfragen zu künstlerischen Prozessen, aus dem anschließend eigenständige Kategorien entwickelt werden können.
 
Der offene Zugang zeigt sich schon bei der konkreten Auswahl der ca. 10 Projekte, die nicht im Voraus geplant war, sondern während der Interviews und der Exploration des Feldes entstand - mitunter, weil der Gesprächspartner offen und sympathisch war. Als besonders positiv für seine Erforschung künstlerischer Prozesse unterstreicht Mohr, dass eine ausreichende Recherchephase und damit intensive Kommunikation möglich waren. 
 
Die Perspektiven der prozessual agierenden Künstler und deren Arbeitsweisen wurden dann in zwei Dimensionen erhoben und analysiert:
 
  • Wie erarbeiten und transformieren sie lebensweltliches Wissen?
  • Wieso ist dieses Wissen in der Innovationsgesellschaft funktional?
Die Projekte
 
Die 10 Projekte werden kurz vorgestellt, ergänzende Informationen findet man mit zahlreichen Zitaten in den relevanten Kapiteln, um die Theorien zu belegen. Das Gemeinsame dieser Projekte ist die Entwicklung von Visionen für die Menschen in der Region und ein Signal von "Aufbruch". Drei davon sollen hier als Beispiele kurz beschrieben werden:
 
Psyche einer Stadt: Anhand von Zitaten aus Tagebüchern der Bewohner wurden historisch gewachsene Identitäten reflektiert und Defizite in den Ressourcen Raum, Infrastruktur, Zeit, Humankapital und Traditionen als Potenziale aufgedeckt.
 
Vest: Das bestehende Nähatelier einer migrantischen Frauengruppe wurde zu einem Modelabel und einem Ladenlokal weiterentwickelt. Es ging dabei um die ökonomische Verwertbarkeit künstlerische Produktionen.
 
Reckliskop: Hierbei handelt es sich um ein Gerät mit Gucklöchern mit verschiedenen Optiken, die auf Orte, Gebäude, Nischen gerichtet waren. Der Künstler nutzte die Neugier der Menschen, um ihnen eine neue Perspektive auf ihre bis dato nicht reflektierte Umwelt zu bieten. Der Blick auf Probleme sollte geschärft, Nischen beleuchtet und die Wahrnehmung verändert werden.
 
Die Themen
 
Das sind einige der Themen, die in dieser Arbeit durchgängig behandelt werden:
 
Prozessuale Kunst
 
Künstler definieren sich meist über ihre Autonomie, Zweckfreiheit und Selbstbezüglichkeit und grenzen sich von der zielgerichteten Gestaltung der Gesellschaft bewusst ab. Aber sie sind gerade aufgrund ihrer Offenheit, ihrer eigenen Logiken der Wissensverarbeitung und der Möglichkeit von Experimenten, Improvisation und Grenzüberschreitung zugleich in der Lage, Utopien für andere Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens zu formulieren. So hat sich an den Rändern der Kunst die prozessuale Kunst entwickelt, mit der sich Mohr beschäftigt. Der künstlerische Prozess wird hierbei in die Handlungsfelder der Menschen eingebunden. Der Künstler orientiert sich an der Lebenspraxis, mischt sich also in den Alltag ein, um eine Veränderung zu ermöglichen. Das Soziale wird zum künstlerischen Medium in der Produktion und in der Vermittlung in die Gesellschaft. Die Rolle des Künstlers ist die eines Kommunikators und anstiftenden Entwicklers. Die Besonderheit der prozessualen Kunst ist dabei, dass e Prozess keinen definierten Beginn und Ende hat, sondern ein Ablauf mit Schleifen ist, die immer wieder zu neuen Erkenntnissen führen und die nächsten Schritte verändern.
 
Wissen und Wissensdynamiken
 
Wissen ist der zentrale Begriff dieser Arbeit, aber nicht jenes "theoretische" Wissen, das durch wissenschaftliche Forschung entsteht, sondern das "praktische" Wissen, das durch Kommunikation in sozialen Interaktionen ständig weiterentwickelt wird. Prozessuale Kunst kann, wie Mohr zeigt, hier unterstützen - mit ihrer Besonderheit disziplinübergreifender Arbeit, Öffnung von Verschlossenem, Sichtbarmachen von Verborgenem, Überschreiten von Grenzen. 
 
Die Arbeitsweise der Künstler
 
Die Verantwortlichen von UKR wollten konkret wahrnehmbare Projekte, die die Krise des Ruhrgebiets thematisieren, und kritisierten die häufig zu theorielastige Beschreibung von Projekten und Vorgangsweisen. Die Interviews des Buches zeigen, dass die Künstler hierzu unterschiedlicher Meinung waren. Einige wollten am Ende eines Projekts eine allgemein verwertbare Erkenntnis. Andere verwehrten sich dagegen, denn das sei ein zielorientierter, zweckgebundener, rationaler Prozess, der den Grundsätzen künstlerischer Arbeit entgegensteht.  Künstler verwenden zwar analytische Methoden, um die für das Projekt notwendigen Informationen zu erhalten. Sie verwerten sie aber nicht "logisch", sondern im künstlerischen Prozess. Es entsteht dadurch neues Wissen, das zu einem öffentlichen Diskurs führen kann - ein "Spiel mit Wissen". Dabei kann im "Experiment" als einer ergebnisoffenen Erprobung lebensweltlichen Wissens auch Undenkbares spielerisch in die Realität umgesetzt werden. 
 
Nachhaltigkeit
 
Eigentlich beschäftigt sich die Studie nicht mit der Wirkung prozessualer Kunst. Sie zeigt aber, dass Künstler an einer positiven Beeinflussung der Akteure der Projekte interessiert sind, wobei diese von den Beteiligten selbst mit eigenem Handeln weitergeführt und verstetigt werden sollen. Künstler verstehen sich als "Anstifter", um den Menschen ihre Handlungsmacht zu verdeutlichen und ihre Eigenverantwortung zu stärken. Beispielsweise wünschen sie sich in Bezug auf die Gestaltbarkeit der Umwelt einen Bewusstseinswandel in der Bevölkerung, nicht auf die Obrigkeit zu warten, sondern eigeninitiativ zu agieren. Künstler stiften auch Impulse zu Vernetzung, um Wissen zu teilen. 
 
Fazit 
 
Als Verfechterin von Kooperationen mit Künstlern "auf Augenhöhe" stören mich Begriffe wie "Indienstnahme" oder "Künstler einspannen", die mehrfach vorkommen. Mohr lehnt zwar "Vereinnahmung" ab, schreibt aber mehrfach "akzeptable Indienstnahme" und verweist darauf, dass Künstler den Begriff in den Interviews selbst genannt und mit der konkreten Beauftragung für die Gestaltung sozialer Wirklichkeiten kein Problem haben, solange die Zielsetzung offen bleibt.
 
Eine Straffung des Textes wäre vielleicht möglich gewesen. Man stolpert öfter über Aussagen, die man an anderer Stelle schon gelesen hat. Das unterlegt der Autor sogar mit "Es wurde bereits mehrfach darauf hingewiesen". Das mag auch an der Struktur des Analyseteiles liegen, in dessen Kapiteln zentrale Begriffe (wie Grenzüberschreitung, Aktivierung, lebensweltliches Wissen, Empowerment u.a.) immer wieder ähnlich dargestellt werden.
 
Als Dissertation wendet sich das Werk an Forschende, auf Grund des Projektbeispiels aber auch an Stadt- und Regionalentwickler. Die Erkenntnisse zu den spezifischen Denk- und Arbeitsweisen von Künstlern sind zudem auch für andere Bereiche der Gesellschaft relevant, bei denen es um interdisziplinäres Denken geht. In der Literatur, auf Blogs und in den sozialen Medien findet man bereits zahlreiche Beispiele für künstlerische Vorgehensweisen außerhalb des Kunstbereichs, etwa in Forschungs- und Bildungseinrichtungen, Krankenhäusern und vor allem in der Wirtschaft. Auch Organisationen der Kultur- und Kreativwirtschaft arbeiten immer öfter mit Künstlern zusammen.
 
Da solche Kooperationen durch die Vermittlung von Kulturmanagern, Beratern oder Intermediären entstehen, empfehle ich das Buch einem erweiterten Kreis von möglichen Akteuren in diesem Feld, zum Beispiel Sozialwissenschaftlern, Innovationsmanagern, Künstlern und Kulturmanagern. Wenn sich Kulturmanagement als Übersetzungs- und Vermittlungsinstanz zwischen Akteuren mit potenziell widersprüchlichen Zielen versteht, bietet das Buch Anregungen für die eigene Arbeit.
 
Meine Leseempfehlung: Äußerst hilfreich in dieser Dissertation sind die Zusammenfassungen, daher sollten sie als erstes gelesen werden! Der Autor übersetzt hier mitunter die Theorie unter dem Titel "vereinfacht gesagt". Die Fußnoten tragen ebenso zum Verständnis bei. Anschließend sollte man die zehn Projektbeispiele lesen, denn sie zeigen die praktische Umsetzung künstlerischer Interventionen. Allerdings sind Informationen dazu nicht nur im Kapitel 5.1.4 "Fokusprojekt Archipel InVest" zu finden, sondern auch in den Analyseteilen. Man bekommt also schrittweise neue Informationen zu den Projekten, jeweils in Bezug auf die verschiedenen Aspekte der Wissensverarbeitung. 
 
Ausblick
 
Wie Mohr zeigt, sehen sich prozessual agierende Künstler vielfach als Grenzgänger zwischen Kunst und Expertentum. Und umgekehrt? Wird man zum Künstler, wenn man sich künstlerischer Herangehensweisen bedient? Mohr lässt die Frage offen, ob hier ein neues, eigenständiges Feld ästhetischer Arbeit entsteht, da es dazu einer umfassenden Analyse der Entwicklung dieses Tätigkeitsbereichs bedürfte. Ich sehe Ansätze hierfür derzeit bereits bei künstlerischen Interventionen in der Wirtschaft, bei denen Organisationsberater künstlerische Fähigkeiten vermitteln, wie Wahrnehmungs- und Reflexionsfähigkeit, Gestaltungskompetenz und Umgang mit Unplanbarkeit und Widersprüchen.
 
Der Autor plädiert dafür, mehr Licht in diesen noch weitgehend unbekannten Themenkreis zu bringen und von Künstlern zu lernen. Die Sozialwissenschaft und die Kulturmanagement-Forschung sollten sich der wachsenden Bedeutung des Künstlerischen in der Innovationsgesellschaft bewusst werden und entsprechende Forschungsprojekte initiieren. Besonders wichtig wären Begleitstudien, um die Wirkung des Künstlerischen auf soziale Veränderungen zu untersuchen und daraus entsprechende (kulturpolitische) Ansätze zu entwickeln.

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