08.08.2019
Buchdetails
Kulturpolitik in Thüringen: Praktiken - Governance - Netzwerke
von Michael Flohr
Verlag: transcript Verlag
Seiten: 398
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Autor*in
Harald Schiller
arbeitet als Journalist, Texter, Autor und Ausstellungsmacher in Hamburg. Er studierte Germanistik und Kulturmanagement in Münster/ Westfalen und Hamburg, wo er 1993 die geschichtenwerft als Plattform für Journalismus, Kommunikation und Ausstellungsprojekte gründete.
Buchrezension
Kulturpolitik in Thüringen. Praktiken – Governance – Netzwerke
Kaum irgendwo in Deutschland geht der Politik in Sonntagsreden das Kulturland so locker über die Lippen wie in Thüringen, "Goethe! Weimar! Bach! Bauhaus!". Wie aber ist das kulturpolitische Feld zwischen Eisenach und Gera wirklich aufgestellt? Michael Flohr hat diese Frage zum Thema seiner Promotionsschrift gemacht.
An den Anfang seiner Arbeit, die 2018 im transcript Verlag erschien, setzt Flohr eine pointierte Analyse der kulturpolitischen Praxis in Deutschlands Osten und Westen vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zur BRD und dem wiedervereinigten Deutschland. Die Ansätze der Kulturpolitik in DDR und BRD waren naturgemäß konträr gesetzt, Kultur für den Staat versus Kultur im Staat. Hier entwirft Flohr die großen Entwicklungslinien auf der nationalen Ebene, ohne die eine regionale Ebene heute nicht verstehbar ist. Dieser nähert er sich im Anschluss, wenn er die Thüringer Landeskulturpolitik skizziert. Seine Ergebnisse destilliert Flohr, 1985 in Gera geboren, aus einer umfangreichen qualitativen und quantitativen Datenbasis. Neben der Auswertung von Dokumenten greift er auf eine Netzwerkanalyse, Experteninterviews und Umfragen zurück. Konkret sind dies eine Online-Umfrage, auf die 143 Akteure reagierten und 30 Interviews, die Flohr mit wichtigen kulturpolitischen Akteuren führte. Auf fast 400 Seiten untersucht er wirkungsmächtige Kulturförderstrukturen, Governance-Formen und Kultur-Netzwerke.
Kulturpolitik ist kein Karriereturbo
Der Politikwissenschaftler identifiziert 259 kulturpolitische Akteure im Land, Ämter, Behörden, Institutionen, Verbände und Vereine, seinen Schwerpunkt legt er auf die aktuelle Kulturpolitik seit 2014. Die Erfurter Staatskanzlei macht Flohr dabei, wenig überraschend, als einflussreichsten Akteur aus. Daneben nennt er als weitere Handelnde mit größerem Einfluss den Kulturrat als Dachverband der Spartenverbände, die Klassik-Stiftung, die Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen, den Museumsverband und den Landesmusikrat. Die Bedeutung des thüringischen Landtags für die Kulturpolitik beschreibt Flohr als gering, die Fraktionen interessierten sich für dieses Politikfeld kaum. Flohr berichtet von der entsprechend schwachen Stellung der Kulturpolitiker, die häufig am Landtag vorbei operierten. Wichtiger ist wohl der direkte Draht in die Staatskanzlei - wo seit 2014 der Geschäftsbereich Kultur angesiedelt ist. Die Mechanik kulturpolitischer Interventionen und ihre Konsequenzen auf die unterschiedlichsten Kulturfelder gelten als wenig erforscht - zum Karriereturbo taugt Kulturpolitik traditionell nur selten.
Flohrs Werk lässt sich als ostdeutsche Fortschreibung des 2012 erschienenen "Kulturinfarkts" lesen, einer 2012 kontrovers diskutierten Streitschrift westdeutscher Kulturmanager und Kulturmanagementforscher. Öffentliche Kultureinrichtungen, so lautete damals der Tenor, treibe nicht so sehr Kunst und kulturelle Innovation um. Stattdessen bilde die Sicherung eigener Pfründe den Kern aller Aktivitäten. Diese These führt Flohr 2018, auf solidem Fundament, weiter: "In der Thüringer Kulturpolitik akkumuliert ein kleiner, im Meinungsmainstream angesiedelter, sich strukturell reproduzierender und eng mit der Exekutive verbundener und verwobener Kreis von kollektiven und korporativen Akteuren Macht und Einfluss!"
Kulturpolitik ist kein Karriereturbo
Der Politikwissenschaftler identifiziert 259 kulturpolitische Akteure im Land, Ämter, Behörden, Institutionen, Verbände und Vereine, seinen Schwerpunkt legt er auf die aktuelle Kulturpolitik seit 2014. Die Erfurter Staatskanzlei macht Flohr dabei, wenig überraschend, als einflussreichsten Akteur aus. Daneben nennt er als weitere Handelnde mit größerem Einfluss den Kulturrat als Dachverband der Spartenverbände, die Klassik-Stiftung, die Sparkassen-Kulturstiftung Hessen-Thüringen, den Museumsverband und den Landesmusikrat. Die Bedeutung des thüringischen Landtags für die Kulturpolitik beschreibt Flohr als gering, die Fraktionen interessierten sich für dieses Politikfeld kaum. Flohr berichtet von der entsprechend schwachen Stellung der Kulturpolitiker, die häufig am Landtag vorbei operierten. Wichtiger ist wohl der direkte Draht in die Staatskanzlei - wo seit 2014 der Geschäftsbereich Kultur angesiedelt ist. Die Mechanik kulturpolitischer Interventionen und ihre Konsequenzen auf die unterschiedlichsten Kulturfelder gelten als wenig erforscht - zum Karriereturbo taugt Kulturpolitik traditionell nur selten.
Flohrs Werk lässt sich als ostdeutsche Fortschreibung des 2012 erschienenen "Kulturinfarkts" lesen, einer 2012 kontrovers diskutierten Streitschrift westdeutscher Kulturmanager und Kulturmanagementforscher. Öffentliche Kultureinrichtungen, so lautete damals der Tenor, treibe nicht so sehr Kunst und kulturelle Innovation um. Stattdessen bilde die Sicherung eigener Pfründe den Kern aller Aktivitäten. Diese These führt Flohr 2018, auf solidem Fundament, weiter: "In der Thüringer Kulturpolitik akkumuliert ein kleiner, im Meinungsmainstream angesiedelter, sich strukturell reproduzierender und eng mit der Exekutive verbundener und verwobener Kreis von kollektiven und korporativen Akteuren Macht und Einfluss!"
Dissertation erzielt öffentliche Wirkung
Dass Flohr das selbsternannte "Kulturland Thüringen" - 1795 nahm hier immerhin die "ästhetische Erziehung des Menschen" ihren idealistischen Ausgangspunkt - als Untersuchungsgegenstand auswählt, ist ein Glücksfall. Eine Studie dieses Umfangs fehlte für Thüringen bislang. Flohrs Werk erzielte dabei schon öffentliche Wirkung: Seine Buchvorstellung bei der Kulturpolitischen Gesellschaft Thüringen zog ein großes Publikum an und ausführliche Besprechungen in der Lokalpresse fanden zahlreiche Leser. Überregionale soziale Medien reagierten ebenfalls, der Text war schließlich Gegenstand einer Großen Anfrage im Thüringischen Landtag - ein ungewöhnlicher Erfolg für eine Promotionsschrift.
Wofür also steht Kulturpolitik in Thüringen? Macht, Einfluss und Fördergelder konzentrieren sich an wenigen Orten, fast ein Viertel der Kulturausgaben des Landes fließt nach Weimar. Die Thüringer Kulturpolitik sieht Flohr als Ausdruck, Bestehendes zu konservieren, die Akteure bewegten sich in einer veränderungshemmenden Tretmühle. Flohr fordert "einen normativen Gegenentwurf zur gegenwärtigen, transformationsbedürftigen Kulturpolitik". Derzeit fließt ein Großteil der Kulturfördermittel in wenige, als wichtig identifizierte Kultureinrichtungen. Diese erreichten jedoch durch formelle und informelle Bildungs- und Zugangshürden die Mehrheit der Bevölkerung nicht. Entsprechend verfehle die staatliche Kulturförderung die Wünsche und Bedürfnisse der Mehrheit der Bürger, in deren heterogenen Lebensrealitäten staatlich geförderte Kulturangebote nicht vorkommen.
Welche Folgen hatten die kulturpolitischen Wendemarken?
41 Jahre gehörte Thüringen der DDR an, war seit 1952 in die Bezirke Erfurt, Gera und Suhl aufgeteilt und wurde 1990 als Bundesland wiedergegründet. Ein wenig mehr hätte man über die Folgen des Umbaus ostdeutscher Kultureinrichtungen nach 1989 erfahren wollen, einem der größten kulturpolitischen Reformprojekte der letzten Jahrzehnte - mit elementaren Konsequenzen. "Prägungen aus 41 Jahren DDR wirken gewiss, aber es besteht die Annahme, dass durch die etablierte freiheitlich-demokratische Rahmung ab 1990 der westdeutsche Diskurs aufgenommen wurde", schreibt Flohr und macht es sich vielleicht doch etwas zu leicht.
Nach 24-jähriger CDU-Dominanz ist die aktuell regierende rot-rot-grüne Koalition unter der Führung eines von der Partei "Die Linke" gestellten Ministerpräsidenten in Deutschland ohne Beispiel. Nichts weniger als einen Politikwechsel kündigten die Koalitionsparteien 2014 an. Welche Auswirkungen hatte das für Theater, Museen oder die freie Szene? Hatte es Konsequenzen für Selbstverständnis und Legitimationsstrategien? Eine umfänglichere Wiedergabe seiner Interviews und die Reflexion zukunftsweisender diskursiver Möglichkeiten wäre interessant gewesen. Das Kapitel "Bruch oder Kontinuität unter Rot-Rot-Grün" fällt unentschlossen und vielleicht etwas zu freundlich aus. Hier hätte man sich einen schärferen Blick auf die Kulturabteilung der Staatskanzlei gewünscht und professionellen Abstand zu Kulturminister Benjamin-Immanuel Hoff. Der Leser erfährt von wertschätzenden Gesprächssituationen in der Staatskanzlei. Aber sollte so ein Austausch nicht selbstverständlich sein?
Fazit
Michael Flohr hat eine wertvolle Studie vorgelegt. Eine breite öffentliche Wahrnehmung erfährt seine Arbeit zurecht. "Kulturpolitik in Thüringen", so seine Erkenntnis, befindet sich in einer selbstverschuldeten Krise. Der Blick in die Zukunft vieler Akteure sei von Verlustangst geprägt. Ignoranz der Politik macht Flohr dafür verantwortlich, seine Präferenz für partizipative Kulturangebote gegenüber der etablierten Hochkultur ist unverkennbar. Ob sich Kultur am Ende der Vorstellung auch noch rechnen sollte? Hier scheiden sich die Geister, in Thüringen und anderswo.
Lesenswert ist Kulturpolitik in Thüringen nicht nur für Studierende und Forschende der Politikwissenschaft. Auch Kulturmanager und kulturpolitische Akteure über die Grenzen des Freistaats hinaus sollte sie interessieren. Denn Flohr beschreibt, warum und mit welchen Folgen sich die Thüringer Kulturpolitik in einer systemimmanenten Sinn- und Strukturkrise befindet. Soll sie überwunden werden, sind Konflikte und Verteilungskämpfe programmiert. Flohr konstatiert eine sich vergrößernde Schere zwischen einem bildungsbewussten Kulturpublikum und den restlichen gesellschaftlichen Gruppen. Suchen Menschen in Theatern, in der Oper, in Galerien und Museen nach Sinn, Identität und Zukunftsperspektiven? Der Kabarettist Rainald Grebe, dessen Karriere im Jahr 2000 am Theaterhaus Jena begann, singt in seiner inoffiziellen Thüringen-Hymne skeptisch: "… die Männer wollen im Stillen nur raus in den Garten und Grillen!"
Dass Flohr das selbsternannte "Kulturland Thüringen" - 1795 nahm hier immerhin die "ästhetische Erziehung des Menschen" ihren idealistischen Ausgangspunkt - als Untersuchungsgegenstand auswählt, ist ein Glücksfall. Eine Studie dieses Umfangs fehlte für Thüringen bislang. Flohrs Werk erzielte dabei schon öffentliche Wirkung: Seine Buchvorstellung bei der Kulturpolitischen Gesellschaft Thüringen zog ein großes Publikum an und ausführliche Besprechungen in der Lokalpresse fanden zahlreiche Leser. Überregionale soziale Medien reagierten ebenfalls, der Text war schließlich Gegenstand einer Großen Anfrage im Thüringischen Landtag - ein ungewöhnlicher Erfolg für eine Promotionsschrift.
Wofür also steht Kulturpolitik in Thüringen? Macht, Einfluss und Fördergelder konzentrieren sich an wenigen Orten, fast ein Viertel der Kulturausgaben des Landes fließt nach Weimar. Die Thüringer Kulturpolitik sieht Flohr als Ausdruck, Bestehendes zu konservieren, die Akteure bewegten sich in einer veränderungshemmenden Tretmühle. Flohr fordert "einen normativen Gegenentwurf zur gegenwärtigen, transformationsbedürftigen Kulturpolitik". Derzeit fließt ein Großteil der Kulturfördermittel in wenige, als wichtig identifizierte Kultureinrichtungen. Diese erreichten jedoch durch formelle und informelle Bildungs- und Zugangshürden die Mehrheit der Bevölkerung nicht. Entsprechend verfehle die staatliche Kulturförderung die Wünsche und Bedürfnisse der Mehrheit der Bürger, in deren heterogenen Lebensrealitäten staatlich geförderte Kulturangebote nicht vorkommen.
Welche Folgen hatten die kulturpolitischen Wendemarken?
41 Jahre gehörte Thüringen der DDR an, war seit 1952 in die Bezirke Erfurt, Gera und Suhl aufgeteilt und wurde 1990 als Bundesland wiedergegründet. Ein wenig mehr hätte man über die Folgen des Umbaus ostdeutscher Kultureinrichtungen nach 1989 erfahren wollen, einem der größten kulturpolitischen Reformprojekte der letzten Jahrzehnte - mit elementaren Konsequenzen. "Prägungen aus 41 Jahren DDR wirken gewiss, aber es besteht die Annahme, dass durch die etablierte freiheitlich-demokratische Rahmung ab 1990 der westdeutsche Diskurs aufgenommen wurde", schreibt Flohr und macht es sich vielleicht doch etwas zu leicht.
Nach 24-jähriger CDU-Dominanz ist die aktuell regierende rot-rot-grüne Koalition unter der Führung eines von der Partei "Die Linke" gestellten Ministerpräsidenten in Deutschland ohne Beispiel. Nichts weniger als einen Politikwechsel kündigten die Koalitionsparteien 2014 an. Welche Auswirkungen hatte das für Theater, Museen oder die freie Szene? Hatte es Konsequenzen für Selbstverständnis und Legitimationsstrategien? Eine umfänglichere Wiedergabe seiner Interviews und die Reflexion zukunftsweisender diskursiver Möglichkeiten wäre interessant gewesen. Das Kapitel "Bruch oder Kontinuität unter Rot-Rot-Grün" fällt unentschlossen und vielleicht etwas zu freundlich aus. Hier hätte man sich einen schärferen Blick auf die Kulturabteilung der Staatskanzlei gewünscht und professionellen Abstand zu Kulturminister Benjamin-Immanuel Hoff. Der Leser erfährt von wertschätzenden Gesprächssituationen in der Staatskanzlei. Aber sollte so ein Austausch nicht selbstverständlich sein?
Fazit
Michael Flohr hat eine wertvolle Studie vorgelegt. Eine breite öffentliche Wahrnehmung erfährt seine Arbeit zurecht. "Kulturpolitik in Thüringen", so seine Erkenntnis, befindet sich in einer selbstverschuldeten Krise. Der Blick in die Zukunft vieler Akteure sei von Verlustangst geprägt. Ignoranz der Politik macht Flohr dafür verantwortlich, seine Präferenz für partizipative Kulturangebote gegenüber der etablierten Hochkultur ist unverkennbar. Ob sich Kultur am Ende der Vorstellung auch noch rechnen sollte? Hier scheiden sich die Geister, in Thüringen und anderswo.
Lesenswert ist Kulturpolitik in Thüringen nicht nur für Studierende und Forschende der Politikwissenschaft. Auch Kulturmanager und kulturpolitische Akteure über die Grenzen des Freistaats hinaus sollte sie interessieren. Denn Flohr beschreibt, warum und mit welchen Folgen sich die Thüringer Kulturpolitik in einer systemimmanenten Sinn- und Strukturkrise befindet. Soll sie überwunden werden, sind Konflikte und Verteilungskämpfe programmiert. Flohr konstatiert eine sich vergrößernde Schere zwischen einem bildungsbewussten Kulturpublikum und den restlichen gesellschaftlichen Gruppen. Suchen Menschen in Theatern, in der Oper, in Galerien und Museen nach Sinn, Identität und Zukunftsperspektiven? Der Kabarettist Rainald Grebe, dessen Karriere im Jahr 2000 am Theaterhaus Jena begann, singt in seiner inoffiziellen Thüringen-Hymne skeptisch: "… die Männer wollen im Stillen nur raus in den Garten und Grillen!"
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