10.11.2022

Buchdetails

The (fr)agile Orchestra: Empowerment Strategies for Orchestras
von Gerald Mertens, Beat Fehlmann, Peter Gartiser, Lydia Grün, Nico Hutter, Irene Knava, Elena Kountidou, Sven Scherz-Schade, Claudia Spahn, Magnus Still
Verlag: Schott Music
Seiten: 128
 

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Autor*in

Marius Köhler
hat nach seinem Studium der Elektro- und Informationstechnik an der TU München zweieinhalb Jahrzehnte in verschiedenen Positionen im IT-Telekommunikationssektor gearbeitet und ist mittlerweile als selbstständiger IT-Strategieberater tätig. Daneben absolvierte er ein Studium zum Kulturmanager an der DAM und berät und vertritt u.a. Kammerensembles in strategischer Hinsicht zur Statusanalyse und Fortentwicklung mit Blick auf Business and Audience Development, Marketingentwicklung und Social Media. Während seiner neunjährigen Tätigkeit im Vorstand der Freunde des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks konnte er zahlreiche zukunftsweisende Projekte für neue Konzertformate gemeinsam mit dem Management und dem Orchestervorstand mitinitiieren und auf den Weg bringen.
Buchrezension

The (fr)agile Orchestra

Die Coronakrise war - wie für so viele gesellschaftliche Bereiche - auch für die Orchesterlandschaft Fluch und Segen zugleich: So wurden neben verschiedenen bestehenden Schwachstellen auch ungeahnte Potenziale sichtbar. Eine entsprechende Bestandsaufnahme der damit verbundenen Lehren für die Zukunft des Orchesterbetriebs nimmt der Sammelband "The (fr)agile Orchestra. Empowerment Strategies for Orchestras" aus unterschiedlichen Perspektiven vor.
 
Die Publikation, welche 2021 in englischer Sprache im Schott Verlag erschien und von Gerald Mertens herausgegeben wurde, versammelt zehn Essays zum umfangreichen Themenkomplex der sich verändernden Orchesterlandschaft und den damit verbundenen Herausforderungen. Die Themengebiete erstrecken sich - mit besonderem Fokus der Pandemieauswirkungen - auf agile Arbeitsmethoden, neuartige kreative Ansätze in der Orchestermanagementarbeit, Strategien zur Publikumsentwicklung und last but not least auf neue wissenschaftliche Erkenntnisse zur Musikermedizin. Diese haben neben Mertens folgende Personen aus den unterschiedlichsten beruflichen Bereichen verfasst: Beat Fehlmann, Peter Gartiser, Lydia Grün, Nico Hutter, Irene Knava, Elena Kountidou, Sven Scherz-Schade, Claudia Spahn, Magnus Still. Das Buch besticht daher nicht zuletzt durch den fundierten Sachverstand dieser Co-Autor*innen.
 
Wie sich Orchester (künftig) verändern (können)
 
Wer vom Titel eine Einführung in die dedizierten Herausforderungen der Orchesterlandschaft  durch neue Arbeitsmethoden erwartet, wird möglicherweise partiell enttäuscht. Nur im ersten Essay geht der Herausgeber auf theoretische Perspektiven aus den modernen Arbeitswelten und deren Adaption auf klassische Berufsorchester ein; die übrigen Texte behandeln anderweitige Themengebiete. Agilität wird als Begriff definiert, der schnelles und leichtes Verändern und Anpassen ebenso wie das pragmatische Denken und Handeln in den Blick nimmt. Dabei werden theoretische Werte wie Prozesse und Werkzeuge für die Interaktionen zwischen handelnden Individuen, Softwareabläufe zur Dokumentation und die Kundenbindungen in den Blick genommen und definiert, die insbesondere "nach der Pandemie" - wann auch immer dieser Zeit erreicht werden wird - Grundlagen für neue Visionen sein können. Dies geschieht nicht nur aus der Sicht des Managements, sondern insbesondere aus dem Orchester heraus. 
 
Agilität ist insbesondere in der Industrie ein seit Jahren etablierter Prozess, der umfangreiche Reorganisationen erfordert und hier auf die Orchesterlandschaft exemplarisch angewandt wird. Hierbei kann sich das Orchester durch neue Sichtweisen für unternehmerische Handlungsansätze, Investitionen in die Beschäftigten, kreative Weiterentwicklung des Repertoires und den Aufbau neuer Partnerschaften innovativ auf den Weg in die Zukunft machen. Es werden dedizierte Handlungsanweisungen und teils theoretisch und wissenschaftlich formulierte Stichpunkte und Gliederungen an die Hand gegeben. Anhand diverser Beispiele wird aufgezeigt, wie sich auch in der Historie steter Wandel immer zum Erfolg gestalten ließ. Dabei ist der wesentlichste Aspekt, jedes Orchestermitglied sowie die angrenzenden Strukturen im Blick zu haben und auf die Reise mitzunehmen. Es gilt also, die Künstler*innen und das Schaffen der Kultur als oberste Prämisse zu setzen, kreative Ideen nicht durch bürokratische Barrieren auszubremsen und neben der Publikumsentwicklung den konkret aufgesetzten Plan durch externe Unterstützung und Beratung umzusetzen und einzuhalten.
 
Ansätze zur Publikumsentwicklung mit digitalen Werkzeugen
 
Im zweiten Aufsatz stellt Sven Scherz-Schade kreative Ansätze einzelner Kulturschaffender vor, die sie während den ersten beiden Pandemiejahren entwickelt und teilweise erfolgreich praktiziert haben. So wurden etwa "Coupon Konzerte" geschaffen, für die man Gutscheine für individuelle Kammermusiken an unterschiedlichen Orten erwerben konnte. Ferner wird am Beispiel eines bekannten deutschen Symphonieorchesters beschrieben, wie neuartige Konzertformate mit digitalen Komponenten zu nachweislich höheren Zuschauer*innenzahlen führten. Auch hier werden bekannte Muster wie Zielgruppenanalysen, Zuschauerentwicklungsmodelle und neue Konzertformate erwähnt, die Kulturmanager*innen bereits geläufig und daher bestens etabliert sein sollten. Das Essay schließt mit dem Blick auf künftige andersartige Krisen, wie etwa Klima- und Energiekrise, mit denen die Orchester aber auch die gesamte Gesellschaft konfrontiert sein werden. Internationale Spitzenorchester sind hierbei insbesondere im Fokus bezüglich ihrer teils ausgeprägten Reisetätigkeiten.
 
Im dritten Aufsatz schildert Elena Kountidou Konzepte, Strategien und konkrete Umsetzungsvorschläge für neue digitale Ansätze. Die Autorin plädiert, die Website der Orchester als zentralen Punkt für das gesammelte Wissen rund um alle Aktionen und Vorhaben des Orchesters zu verstehen. Zudem beschreibt sie Streaming und neue Technologien wie "Virtual Reality", beleuchtet die damit verbundenen Möglichkeiten aber nur kurz. Dadurch bleibt deren konkrete Bedeutung für die Orchester schemenhaft. Darüber hinaus gibt es in diesem Aufsatz leider weitere Mängel: Neben sprachlichen und grammatikalischen Schwächen werden Thesen wie "Digitalisierung ist der große Gewinner der Pandemie" postuliert, die wenig begründet und in dieser Allgemeinheit nicht korrekt sind. Aber auch Abkürzungen wie "SEO" werden nicht erklärt und zwischen den Zeilen wird indirekt Werbung für einen großen Telekommunikationsanbieter in Deutschland gemacht. Sehr gelungen ist zwar die Abgrenzung zwischen den digitalen und den realen Konzertsälen, dennoch lässt der Beitrag die Leser*innen abschließend mit vielen ausformulierten Fragestellungen zurück. Ohne externe Kulturberatung dürfte es für einige Kulturakteur*innen sehr herausfordernd sein, diese (für sich) zu beantworten. 
 
Inspirierende Ansätze zu neuen Zugängen für die Konzertbesucher*innen finden sich jedoch im vierten Beitrag von Lydia Grün. Hierbei steht im Zentrum allen Schaffens und Handelns die Maxime, dass ein Orchester nicht in einer Art "Blase" ohne jeglichen Kontakt nach außen lebt. Daher müssen die Klangkörper vielmehr bestrebt sein, für sich Kooperationspartner im inhaltlich und geografisch angrenzenden Umfeld zu etablieren, da nur dadurch die Rolle des Orchesters in der öffentlichen Wahrnehmung und in der Gesellschaft neu gedacht werden kann. Dieser kürzeste Aufsatz besticht durch eine präzise Fokussierung auf dieses wichtige Thema. Er schließt mit der Zusammenfassung, dass der durchaus riskante Weg mit ständigem Lernen einhergeht und den Blick schärft auf die Ambivalenz zwischen Entfernung und Annäherung für Orchester - räumlich wie inhaltlich an ihre Umgebungen.
Wie kann erfolgreiches Orchestermanagement gemessen werden
 
Der fünfte Aufsatz von Knava ist einer der stärksten Artikel in diesem Sammelband, da er bestmöglich strukturiert sieben konkrete Qualitätsmerkmale für das Review des Orchestermanagements bietet. Schaubilder illustrieren dies suggestiv und die Leser*innen erhalten abschließend eine Checkliste, um selbst eine Leistungssteigerung umzusetzen. Zwar wird studierten Kulturmanager*innen hiervon sehr vieles bekannt erscheinen, neu aufgemacht wird so jedoch ein kreativer Überblick ermöglicht. 
 
Fehlmann veranschaulicht am konkreten Beispiel der Deutschen Staatsphilharmonie Rheinland-Pfalz, wie dort seit seinem Amtsantritt als Intendant durch einen pragmatischen Führungsansatz neue Arbeitsmethoden und -umgebungen geschaffen werden können. Zusammenfassungen eines jeden Maßnahmenvorhabens erleichtern es den Leser*innen, die Zielerreichung jedes einzelnen Schrittes zu messen. Sehr hilfreich sind hier die Links zur Sekundärliteratur!
 
Still beschäftigt sich mit der Zuhörer*innenschaft im Hinblick auf die bestehenden älteren Abonnent*innen und die Gewinnung neuer Publika. Hierbei zeigt er auf, wie aktuelle Studien insbesondere in und nach den ersten Wellen der Coronapandemie erfolgreich durchgeführt werden konnten und welche "Produkte" mit welcher Zielsetzung und Zielgruppe wie adressiert werden sollten. Dargelegt wird in tabellarischer und damit sehr transparenter und eingängiger Form, dass beispielsweise Abonnements volle Konzerthäuser auch bei herausfordernden Programmen gewährleisten, die Zielgruppe dabei "55plus" ist und der etablierte Marketingweg erfolgreich beschritten werden kann. Gleichzeitig wird trennscharf gegenübergestellt, dass etwa Fundraising und Sponsoring auf gezielte Kooperationspartner und Zuhörerbereiche Einfluss nehmen können, wozu der Autor konkrete Mailingmaßnahmen empfiehlt. Der Schlüssel zum Erfolg liegt dabei im individuellen Austarieren je nach Kulturinstitution. Dazu schildert Still, wie mit verschiedenen Abonnementmodellen umgegangen werden kann und wie beispielsweise das Ochestre de la Suisse Romande in Genf zu Beginn der Pandemie seine Abozahlen trotz coronabedingter Spielpausen erfolgreich steigern konnte. Einer der Schlüsselfaktoren waren hierbei das ausführlich beschriebene Zielgruppenmarketing auch über die Lockdownphasen hinaus und die Rücksichtnahme auf teils geänderte Lebensverhältnisse in der Zuhörerschaft. Für die Zeit "nach der Pandemie" zeigt Still Maßnahmen auf, wie mit gezielten finanziellen Mitteln und dem Motto "proaktives versus reaktives Management" nachhaltig Erfolg erzielt werden kann. Dieser Ausblick ist gelungen, wenngleich gewagt, da Still als ähnlich schwierige Phase die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg als Vergleich wählt.
 
Nachhaltige und gesunde Orchester der Zukunft
 
Im achten Aufsatz beschäftigt sich der Herausgeber mit dem Thema Nachhaltigkeit des Orchesters. Dabei geht es um dessen Zusammenspiel mit der Umwelt im Allgemeinen und im speziellen mit der Region, in der es wirkt, aber auch mit seinem wirtschaftlichen und sozialen Umfeld sowie den überlappenden Themen der vorgenannten Bereiche. Auch hier zeigt sich, dass mit den bewährten Methoden der Visions- und Missionsentwicklung Strategien bestmöglich generiert, beschrieben und im Orchesterbetrieb auch im Sinne der Nachhaltigkeit umgesetzt werden kann. Insofern ist das methodische "Handwerkszeug" nicht unbekannt oder neu, aber die Einbettung in die Formulierung der angepeilten Ziele sehr nützlich dargestellt, die insbesondere die organisatorischen Anpassungen in den Blick nehmen. Allerdings zeigt sich offenbar auch in der Orchesterlandschaft, dass klare Visionen, Sicherstellung der Nachhaltigkeit und ein minimaler ökologischer Fußabdruck aus anderen Lebensbereichen auch hier unverändert Anwendung finden können.
 
Im vorletzten Aufsatz beleuchten Claudia Spahn und Nico Hutter die medizinisch gesundheitlichen Aspekte des Orchesterbetriebs. Die Autor*innen sind in der Musikermedizin und im psychologischen Umfeld tätig, wobei sie neue Arbeitsmethoden und -prozesse erarbeitet haben, die insbesondere durch den Einschnitt der Pandemie wirkungsvoll etabliert werden können. Denn diese Epoche hat wesentliche Denk- und Freiräume für neuartiges und unbekanntes Denken und Handeln eröffnet. Ebenso nimmt dieser Aufsatz im Kern ressourcenschonendes Denken und Handeln als Maxime in den Blick, die das Orchester als Unternehmen oder Träger bestmöglich unterstützen kann. Leider bleibt unklar, was das zu Grunde liegende "TAO-Projekt" ausgeschrieben bedeutet und welche Quintessenz gezogen werden kann. Erst aus dem Gesamtkontext des Artikels lässt sich erkennen, dass ein Werkzeug für individuelle Einschätzungen und Maßstäbe durch arbeitsbezogene Stressmomente qualifiziert genutzt wird. Mangels Strukturierung ist der Text teilweise schwierig zu lesen und auch die Grafiken lassen sich nicht unmittelbar erschließen. Gleichwohl sind wesentliche und durchaus hilfreiche Empfehlungen zu lesen, die sich auf die Konzentration der eigenen Ressourcen im Orchester fokussieren. Den Beziehungen untereinander sollte mehr Gewicht zuteilwerden als der Hang zur puren Perfektion.
 
Im letzten Essay beleuchtet Peter Gartiser in einem starken Aufsatz den Transformationsansatz für ein Orchester. Er macht deutlich, wie Treiber und beschleunigenden Momente, die sich durch die Pandemie ergeben haben, dafür geschickt und gezielt genutzt werden können. Denn erst durch diese nie dagewesene Situation waren alle gezwungen, bereits bekannte, aber nicht praktizierte Handlungsansätze in konkrete Maßnahmen umzusetzen. Die strukturierte Herangehensweise durch Entwicklung einer Strategie, einhergehender Zieldefinition und Festlegung der begleitenden Rahmenbedingungen sind absolut richtig und wichtig. Fachleute aus dem Kultur- und Orchestermanagement sollten damit sowie der Erarbeitung einer Mission als dem wesentlichen Baustein für den Prozess bereits vertraut sein. Der letzte Abschnitt beleuchtet schlaglichtartig den Umgang mit zu erwartendem Widerstand in der Organisation, bevor eine abschließende Checkliste für die Gestaltung des Wechsels einen guten Gesamtüberblick für den Fahrplan gibt. Im Vordergrund stehen dabei unter anderem die empathische Umsetzung und der enge Austausch mit den Mitarbeitenden und der konstruktive Dialog, der alle Argumente zulässt. Insgesamt sicher einer der hilfreichsten Artikel dieses Buches.
 
Fazit
 
Mertens legt als Herausgeber dieses Sammelbands eine umfassende und partiell sehr detaillierte Analyse der (bevorstehenden) Herausforderungen für die Orchesterlandschaft vor. Dabei machen er und seine Co-Autor*innen die Schwierigkeiten anhand praktischer Beispiele (realistische Zahlen und Fakten) deutlich, die sie zum Teil gekonnt mit wissenschaftlichen Ansätzen (Theorien, Modellen, Studienauszügen) verknüpfen und Zukunftsperspektiven sowie konkrete Anregungen und Handlungsleitfaden bieten. 
 
Leider lässt die Aneinanderreihung von zehn Aufsätzen keinen wirklichen roten Faden erkennen. Ebenso findet sich in manchen Passagen sehr individuelles oder zu allgemeines und etabliertes Fachwissen. Die zentralen Argumente werden aus vielen unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet und wiederholen sich dadurch mitunter. Manche Schaubilder dienen eher der Auflockerung zwischen Textpassagen, als dass sie zum Verständnis oder gar zur Theoriebildung beitragen. Die teilweise schlecht ins Englische übersetzen Texte weisen hinsichtlich Grammatik und Wortschatz ebenso redaktionelle Defizite auf.
 
Insgesamt tut dies der inhaltlichen Qualität des Buchs aber keinen Abbruch. Denn die meisten Autor*innen zeigen mit analytischer Deutlichkeit und fachlicher Präzision den Handlungsbedarf für einen Veränderungsprozess in der Orchesterlandschaft auf, was für die Leser*innen sehr bereichernd ist. Daher ist eignet sich der Sammelband als Nachschlagewerk für die mögliche Zukunft der Orchesterlandschaft sowie als Handbuch mit Checkliste für eigene Prozesse im Arbeitsalltag von Orchestermanager*innen.

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