08.11.2023
Buchdetails
WAR SCHÖN. KANN WEG …: Alter(n) in der Darstellenden Kunst
von Angie Hiesl, Roland Kaiser, Kunststiftung NRW
Verlag: Theater der Zeit
Seiten: 218
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Autor*in
Susanne Paesel
studierte Kunstgeschichte, Neue Deutsche Literatur und Medien sowie Management von Kultur- und Non-Profit-Organisationen. Sie arbeitet freiberuflich als Dozentin, Autorin, Kunstvermittlerin, Ausstellungs- und Seminarorganisatorin.
Buchrezension
War schön. Kann weg … Alter(n) in der Darstellenden Kunst
Alter kann eine reiche Quelle der künstlerischen Entfaltung sein. Wie es in der (freien) Kunstszene um die Wahrnehmung von Darsteller*innen mit fortschreitenden Lebensjahren bestellt ist, beleuchtet diese Bestandsaufnahme, hinter deren lakonisch anmutendem Titel sich eine vielschichtige Auseinandersetzung zum Thema Alter(n) verbirgt.
Anlässlich des 25-jährigen Jubiläums ihres Projektes "x-mal Mensch Stuhl", das die Bedeutung und gleichzeitige Unsichtbarkeit älterer Menschen in der Gesellschaft hervorhob, entwickelte das Künstler*innenpaar Angie Hiesl und Roland Kaiser die Idee, über dieses Thema im Rahmen einer Interviewreihe und eines Symposiums zu diskutieren. Die erarbeiteten Inhalte wurden in der Publikation aufgegriffen und durch zusätzliche Fachbeiträge erweitert. Der Band wurde 2022 im Verlag Theater der Zeit publiziert und gliedert sich in ein Vorwort der beiden Herausgeber*innen sowie fünf Hauptkapitel, die sich mit jeweils drei bis vier Texten dem Thema Alter(n) in der Darstellenden Kunst aus künstlerischer, wissenschaftlicher, kuratorischer bzw. kulturpolitischer Perspektive nähern. Programmatisch geht es um "die Un/Sichtbarkeit von Alter in der Kunst", "das Spannungsfeld von Innovation und Kontinuität", die "sozioökonomischen Realitäten" von Kulturschaffenden, um "Alter und Geschlecht" sowie "Handschrift, Werk Archiv".
Dabei durchziehen konkrete Fragestellungen alle fünf Kapitel der Publikation: Wie wirkt sich das Alter von Künstler*innen bzw. eines Werkes auf die Akzeptanz am Kunstmarkt aus? Wie ist es um die Lebenswirklichkeit und Alterssicherung der darstellenden Künstler*innen bestellt und mit welchen strukturellen Hindernissen und Diskriminierungen haben sie zu kämpfen? Wie könnten generationengerechte Lösungen und Förderkonzepte für ältere Darsteller*innen aussehen?
Zunächst näherten sich die Herausgeber*innen dem Thema, indem sie mit Kolleg*innen aus der Freien Theater-, Tanz- und Performance-Szene sechs Video-Interviews über deren Erfahrungen führten. Diese wurden in gekürzter Fassung in die Publikation aufgenommen. Prägnante Zitate der Interviewten strukturieren außerdem die Publikation, indem sie in quergedruckter weißer Schrift auf schwarzem Grund die einzelnen Kapitelbeiträge voneinander trennen. Langversionen der Interviews sowie eine Dokumentation des Symposiums sind auf der Webseite von Hiesl und Kaiser www.angiehiesl-rolandkaiser.de abrufbar.
Macht Alter(n) unsichtbar?
Wann haben Sie zuletzt ein Bühnen- oder Tanzstück mit älteren Darsteller*innen in positiv konnotierten Hauptrollen gesehen? Vermutlich werden Sie länger überlegen oder sogar passen müssen.
Besonders auf den Spielplänen der freien Kunstszene, in der Newcomer*innen und Innovation im Fokus stehen, ist kaum eine Auseinandersetzung mit dem als uncool empfundenen Thema Alter(n) zu finden. Nach wie vor wird die Sichtweise hier und in der breiten Gesellschaft vom gängigen Narrativ der kreativen, innovativen Jungen und der erfahrenen, aber festgelegten Alten geprägt. Den allgemeinen Tenor dieser Problematik fasst Franziska Werner im Band treffend zusammen, wenn sie davon spricht, dass ältere Darsteller*innen im Kunstkontext bestenfalls als "besonnene Hintergrundressource [dienen], aber nicht mehr als die, die kreativ sind, die Ideen haben oder etwas voranbringen" (S. 71).
Die künstlerische Leiterin der Sophiensæle Berlin reagierte auf diese Problematik im Herbst 2021 mit dem Festival "Coming of Age", das sie im Band vorstellt. Im Rahmen von Neuproduktionen, Gastspielen und Diskussionen wurde die Problematik der Unsichtbarkeit des Alterns in theatralen, sozialen und politischen Kontexten beleuchtet. Die Leiterin des Festivals betonte zudem, dass die Repräsentation des Alters nicht allein Sache der Kurator*innen und des Programms sei, sondern vielmehr eine Aufgabe, die nur gemeinsam mit verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen und der Politik verbessert werden könne.
Lebens- und Arbeitsrealitäten älterer Darsteller*innen
Erstaunlicherweise scheint vielen Verantwortlichen in politischen Gremien und öffentlichen Verwaltungen das Ausmaß der prekären Lebensrealitäten von Kunstschaffenden bei Krankheit, Elternschaft, in Phasen ohne Aufträge, Gastspiele oder Förderung und ganz besonders im Alter nicht ausreichend bekannt zu sein. Dieser Problematik widmet sich das im Band vorgestellte Forschungsprojekt Systemcheck des Bundesverbands Freie Darstellende Künste (BFDK), indem es die Arbeitssituation und die soziale Absicherung von Solo-Selbstständigen und Hybrid-Beschäftigten in den Darstellenden Künsten beleuchtet. Aus den gewonnen Erkenntnissen erarbeitet der Verband Handlungsempfehlungen, die bis Ende 2023 erscheinen sollen. Zentrale Anliegen sind dabei die "nachhaltige Verbesserung der wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen der Akteur*innen und die Entwicklung und Implementierung verbindlicher Mindeststandards." (S. 98)
Engagiertes Kulturmanagement als Bindeglied zwischen Künstler*innen, Publikum, Politik und Kulturwirtschaft kann hier helfen, gesamtgesellschaftliche Prozesse so zu gestalten, dass der Wert der kreativen künstlerischen Tätigkeit anerkannt wird und sich in einer angemessenen Honorierung und sozialen (Alters-)Absicherung widerspiegelt. Einen guten Ausgangspunkt bieten die hier vorgestellten Ansätze.
Vielversprechend scheinen langfristige Stipendienmodelle zu sein, die konträr zu der verbreiteten projektbezogenen Förderung stehen. Sie sollen die künstlerische Arbeit von Künstler*innen begleiten und auch im fortgeschrittenen Alter absichern. Der Dachverband Tanz Deutschland DTD will beispielsweise im Dialog mit der Kulturpolitik ein- und mehrjährige Stipendien-Förderungen als Teil der Tanzförderung des Bundes umsetzen, wie im Band beschrieben wird. Das würde laut Michael Freundt, Geschäftsführer des DTD, Tanzschaffende in die Lage versetzen, "Phasen ihrer Karriere selbstbestimmt zu managen - (...) (auch) die Transformation künstlerischer Strukturen im Alter" (S. 115). Neben Förderungen sind es seiner Meinung nach vor allem (lokale) Netzwerke, (altersdiverse) Kooperationen und Koproduktionen sowie Landesverbände, die die künstlerische Arbeit stärken.
Auch Cilgia Gadola, Leiterin von Systemcheck, sieht, dass innerhalb der Darstellenden Künste bereits seit Jahren selbstverantwortlich versucht wird, die prekäre Situation der Künstler*innen "mit innovativen Arbeits- und Lebensmodellen zu verbessern - partizipativ, kollaborativ, hybrid. Vielfach sind dadurch Modelle wie Genossenschaften oder Kollektivformen entstanden und weiterentwickelt worden" (S. 97-98).
Was bleibt vom künstlerischen Werk?
Neben Fragen der Altersabsicherung und nach weiterer künstlerischer Aktivität rückt mit fortschreitendem Lebensalter oft der Rückblick auf das eigene Lebenswerk in den Fokus und der Wunsch mag entstehen, der Nachwelt etwas von dem erworbenen Erfahrungs- und Schaffensschatz zu hinterlassen. Neben konkreten Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen für alternde Künstler*innen fragten Angie Hiesl und Roland Kaiser deshalb bei Künstler*innen nach der Bedeutung der Archivierung ihrer Werke. Die Antworten spiegeln sehr unterschiedliche Positionen hierzu wider.
So lehnt die Choreografin Helene Waldmann das "Recycling von ephemeren Kunstwerken" ab, da Tanzstücke für eine spezifische Zeit und ein bestimmtes Publikum entstehen. Sie überlässt stattdessen das Archivieren ihrer Aufführungen dem Publikum. Die Besucher*innen speichern je nach Blickwinkel und Erfahrung die für sie wichtigen Momente eines dargebotenen Tanzstückes dauerhaft als "Schnipsel, kleine Szenen oder Details" (S. 174) ab. Waldmann resümiert: "Dieses Verteilen eines Stückes auf so viele Perspektiven hat zur wunderbaren Folge, dass mein Archiv in Hirne in ganz Europa, Asien, Afrika, Nord- und Südamerika verteilt wurde - wo immer uns Produktionen und Tourneen hingeführt haben" (S. 174).
Gerda König, seit 25 Jahren künstlerische Leiterin der Kölner DIN A 13 tanzcompany, hat hingegen von Anfang an alle Stücke archiviert und nutzt die Sammlung zur eigenen Reflexion darüber, "wo man heute steht und wie die Entwicklung war" (S. 61). Für sie stellt eine posthume Aufführung kein Problem dar, sie würde dies vielmehr begrüßen.
Der Theatermacher Constantin Hochkeppel hat sich bisher über das Archivieren seiner Arbeiten keine Gedanken gemacht. Er fände es spannender, den jeweiligen Arbeitsprozess zu archivieren, "um das als Blaupause nehmen zu können, um das anderen Künstler*innen zugänglich zu machen" (S. 91).
Bei allen gesammelten Archivstücken stellt sich früher oder später die Frage, was langfristig mit ihnen geschieht und wie man sie späteren Generationen zugänglich machen kann. Es gibt zwar in den letzten Jahren vermehrt museale Ausstellungen zur Geschichte der Performancekunst, bisher fehlen aber selbst in großen Häusern sowohl personelle und finanzielle Ressourcen als auch "konzeptionelle Vorstellungen über die Archivbildung zu künstlerischen und kuratorischen Prozessen" (S. 200), wie Barbara Büscher, Professorin an der Hochschule für Musik und Theater Leipzig, ausführt.
Die Publikation umreißt das sehr komplexe Thema des angemessenen Umgangs mit künstlerischem Erbe nur schlaglichtartig, macht aber bewusst, dass hier Diskussions- und Handlungsbedarf besteht. Es könnte durchaus ein zukunftsträchtiges Arbeitsfeld von Kulturmanager*innen sein, zusammen mit Ausstellungshäusern "neue Strategien des Aufbewahrens, der Präsentation und nicht zuletzt eine Neubestimmung des Werkbegriffs" (S. 202) zu entwickeln.
Fazit
Der vorliegende Band bietet aufgrund der gut ausgewählten Texte einen facettenreichen und fachlich fundierten Einblick in die soziale und ökonomische Lebenswirklichkeit älterer Darsteller*innen in unserer Gesellschaft und im Kulturbetrieb. Die Leser*innen wird dafür sensibilisiert, wie schwer es für ältere Darsteller*innen in der Regel ist, von und mit ihrer Kunst leben zu können. Vor allem fehlt es an geeigneten Rollenangeboten sowie gesellschaftlicher Wertschätzung, die sich in einer angemessenen (Alters-)Absicherung und passgenauen Förderung widerspiegeln sollte. Die meist schon in jungen Jahren prekäre Lebenssituation von Künstler*innen spitz sich daher im Alter oft dramatisch zu.
Die Stärke dieses Buches liegt neben der reinen Bestandsaufnahme der Lebens- und Arbeitssituation von älteren Darsteller*innen vor allem in der Vielfalt der vorgestellten Aktivitäten und Lösungsansätze aus dem Umfeld des Kulturbetriebes. Die Beiträge stellen das Thema "Alter(n) in der Kunst" konsequent in den Fokus und beleuchten es diskursiv. So gelingt es der Publikation ganz im Sinne der Herausgeber*innen, "den Diskurs über Kunst und Alter(n) noch weiter anzuregen" (S. 7) und damit Impulse für freie Kulturszene, Politik, Wissenschaft, Gesellschaft und Kulturmanagement gleichermaßen zu geben. Die vorgestellten, bereits erfolgreich auf den Weg gebrachten Projekte lassen hoffen, dass sich unser aller Blick auf das Thema Alter(n) sowie die Lebens- und Arbeitssituation älterer Künstler*innen in einem positiven Wandel befinden, der durch eine angepasste, fördernde Kulturpolitik und abgestimmte Kulturmanagementinstrumente Unterstützung findet.
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