09.09.2020

Buchdetails

Macht und Struktur im Theater: Asymmetrien der Macht
von Thomas Schmidt
Verlag: Springer VS
Seiten: 464
 

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Autor*in

Julia Jakob
studierte Musikwissenschaft und Kulturmanagement in Weimar. Praktische Erfahrungen im Kulturbetrieb sammelte sie bei unterschiedlichen Festivals und in verschiedenen Veranstaltungsbüros sowie als Agentin bei weim|art e. V. Seit 2021 ist sie die Chefredakteurin des Kultur Management Network Magazins und stellvertretende Leiterin der Redaktion.
Buchrezension

Macht und Struktur im Theater: Asymmetrien der Macht

Mitarbeiter*innen ohrfeigen, sie wegen Fehlern anbrüllen, von ihnen sexuelle Gefälligkeiten verlangen oder ihnen Nacktfotos schicken. Wenn der künstlerische Output stimmt, scheint solches Fehlverhalten an einigen öffentlichen Theatern durchaus "okay" zu sein, wie eine neue Studie zeigt.
 
Stellen Sie sich vor, Sie sind Leiter*in einer Sparte an einem öffentlichen Theater. Sie leisten hervorragende künstlerische Arbeit und sind auf dem besten Weg, eine Koryphäe Ihres Fachs zu werden. Dabei arbeiten Sie auch mit Künstler*innen zusammen, die mitunter auf Ihre Gunst angewiesen sind, um weiterhin engagiert zu werden. Doch eines Tages schreibt die Presse etwas Unerfreuliches: Machtmissbrauchsfälle sollen an Ihrem Theater Usus sein. Dabei berichten mehrere Künstler*innen von privaten Chatverläufen mit einer Führungskraft, die anzügliche Bemerkungen gemacht, private Treffen vorgeschlagen und ungefragt Nacktfotos versandt haben soll. Sehr unangenehm - zumal Sie sich ertappt fühlen, denn Sie sind diese Führungskraft, deren Name im Artikel nicht genannt wird. Zu allem Überfluss taucht aber auch noch auf einem Social Media-Account ein Beitrag mit diesen Anschuldigungen in Zusammenhang mit Ihrem Namen auf... Upsi! Zum Glück arbeiten Sie in einem Bereich mit derart veralteten und überholten Strukturen, sodass Sie erstens kein Einzelfall sind, zweitens immerhin nicht der Kollege, gegen den im selben Artikel Vergewaltigungsvorwürfe laut wurden, und drittens wahrscheinlich mit einem blauen Auge davon kommen werden, wie schon die paar Male zuvor und wie so viele Theaterschaffende in Führungspositionen vor Ihnen - immerhin machen Sie tolle Kunst, also was soll‘s.**

Wäre da nicht der Umstand, dass wir das Jahr 2020 schreiben und diese Strukturen seit einigen Jahren endlich bröckeln. Denn solche Vorfälle sind keine Kavaliersdelikte, auch kein zwangsläufiger und akzeptabler Nebeneffekt des Kunstschaffens, sondern Machtübergriffe, die vor allem die Inkompetenz der Ausübenden zum Vorschein bringen. Dank #MeeToo haben immer mehr Opfer sexueller, körperlicher oder psychischer Gewalt im Kulturbereich nun den Mut, die Täter*innen anzuzeigen und an die Öffentlichkeit zu gehen. Das jüngste Beispiel dafür liefern die Schlagzeilen um das Badische Staatstheater Karlsruhe.
Zudem gibt es immer mehr Theaterschaffende und Forscher*innen, die nicht länger wegschauend schweigen, sondern etwas ändern wollen und auf das Klima der Angst aufmerksam machen. Dazu gehört auch Thomas Schmidt, der den Theaterbetrieb sowohl von innen kennt, als auch von außen beforscht. Seit Jahren setzt er sich für eine Reform des öffentlichen Theatersystems ein, unter anderem in der 2019 unter seiner Leitung bei Springer erschienenen Publikation "Macht und Struktur im Theater" der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt a. M. und des ensemble-netzwerks. Sie beruht auf der Studie "Kunst und Macht im Theater". Diese ist mit einer Beteiligung von 1.966 Theaterschaffenden, davon über 70 % davon künstlerische Mitarbeiter*innen, die bisher umfangreichste zu diesem Themenfeld. Die äußerst desillusionierenden Ergebnisse bettet Schmidt in ein eine allgemeine Charakterisierung des deutschen Theatersystems und zeigt, warum dessen Strukturen so anfällig für den Missbrauch von Macht sind. Zudem gibt er einen Überblick zu soziologischen Machttheorien und schlägt Maßnahmen zur Verbesserung vor.

Schmidt knüpft mit diesem Buch an seine Publikationen "Elemente des deutschen Theatersystems" (Springer VS, 2018) und "Theater, Krise und Reform" (Springer VS, 2016) an und beruft sich auf darin vorgestellte Modelle und Ergebnisse. Zahlreiche Abbildungen zu den ausgewerteten Daten sowie zusammenfassende und hervorgehobene Einschübe machen das komplexe Thema dabei greifbarer und verständlicher. Schmidts flüssiger Schreibstil, die Transparenz zur Herangehensweise und das Zitieren anonymisierter Antworten tragen dazu ebenfalls bei. Wünschenswert wäre jedoch ein gründlicheres Lektorat gewesen, wodurch gedruckte Tippfehler, unpassende Layout-Umbrüche in den Abbildungen sowie Wiederholungen hätten reduziert werden können. Das bleibt aber der einzige Wehrmutstropfen.

Keine Einzelfälle

Wer denkt, die Vorfälle am Badischen Staatstheater in Karlsruhe seien Einzelfälle in der deutschen Theaterlandschaft, wird von Schmidts Ergebnissen einer Langzeituntersuchung zu Theaterkrisen zwischen 2008 und 2019 eines Besseren belehrt. Hier wird deutlich, dass "allein 50 (der Fälle) (...) durch Managementfehler, Machtmissbrauch oder Begünstigungen ausgelöst (wurden). (...) 36 der 50 Krisen wurden aufgrund von Strukturfehlern verursacht, (ausgelöst) durch das intendantenzentrierte Modell und eine zu steile Hierarchie (...)" (S. 435). Er räumt dabei ein, dass diese Langzeituntersuchung nur öffentlich gewordene Krisen erfasst habe.

Die Dunkelziffer weiterer Fälle scheint also deutlich größer zu sein. Das machen auch die Studienergebnisse zu aktuellen Fällen von Machtmissbrauch deutlich (Abb. 1).
 


Demnach haben über 50%, bei Frauen fast 60% der Teilnehmer*innen an ihrem aktuellen Arbeitsplatz Missbrauch in jeglicher Form erlebt. Etwa jede Zweite ist mehrfach betroffen. Schmidt kommt dabei zu dem alarmierenden Schluss, dass "abzüglich der Sommerpausen - (in den vergangenen zwei Jahren) jedes Jahr über 500 Übergriffe und jeden Tag etwa 1,7 Übergriffe in der Theaterlandschaft stattgefunden (haben) (...)" (S. 179). Zudem konstatiert er eine besonders besorgniserregende Situation in den öffentlich finanzierten Theatern.

Dem gegenüber stellt Schmidt eine Auswertung der persönlich erfahrenen Formen von Missbrauch im Laufe der Karriere (Abb. 2).
 


Diese braucht es, um die Aktualität der Lage möglichst präzise abbilden und einordnen zu können. So gaben 55 % der Befragten an, übergriffiges Verhalten während ihrer Karriere erlebt zu haben. Eine Ergebnisstruktur, die sich in allen Einzelrubriken wiederfindet. Dabei wird nicht nur deutlich, wie fest verankert diese Missstände im Theatersystem sind, sondern vor allem, wie extrem Frauen und Künstler*innen davon betroffen sind. Um es noch klarer zu machen: "8,6 % aller weiblichen Teilnehmer*innen kamen mit sexuellem, 40,7 % mit verbalem und 47,2 % mit psychischem Missbrauch in Berührung." (S. 183)

Ursachen für den Machtmissbrauch

Liest man diese Ergebnisse, mag der Eindruck entstehen, dass am Theater vorrangig machtbesessene Spinner*innen arbeiten. Doch dies an einzelnen Personen fest zu machen, ist zu kurz gedacht, wenngleich sie natürlich wesentlicher Teil der Kausalkette sind. So belegt die Studie, dass "es (...) die asymmetrischen Strukturen der Theater und die darauf fußenden, weit reichenden Machtbefugnisse eines Intendanten (sind), die in einigen Theatern dazu führen, dass die eigene Person und das eigene Handeln als Leiter eines Theaters als so allmächtig und unantastbar betrachtet werden, dass es zu gravierenden Fehlern in der Ausübung des Amtes und im Umgang mit den Mitarbeiter*innen kommt" (S. 7).

Damit legt Schmidt seinen zentralen Kritikpunkt dar: das intendantenzentrierte Theater-Modell, das eine Alleinherrschaft der Intendanz begünstigt. Dabei macht ein Blick auf den Zuständigkeitsbereich deutlich, dass die Fülle an damit verbundenen Aufgaben niemals von einer einzelnen Person kompetent erfüllt werden können: "Ein Intendant steckt heute sein Feld ab zwischen repräsentativen (Vertretung des Theaters nach außen), strategischen (Zukunftssicherung) und operativen Aufgaben (Personal, Finanzen, Bau und Erneuerung, Vertragsverhandlungen, Sitzungen) und sollte sich doch eigentlich auf die programmatische und künstlerische Entwicklung des Theaters konzentrieren." (S. 49) Da es bisher nur eine mangelnde Ausbildung für Intendant*innen gibt und auf entsprechende Kompetenzen bei der Besetzung kaum geachtet wird, ist es aktuell vor allem der künstlerische Weg, also das in der Kulturpolitik vorherrschende "Generalitäts- und Genialitätsprinzip", das Personen dafür qualifiziert, Häuser mit 400 Mitarbeiter*innen zu leiten. Insgesamt lotet Schmidt für die strukturelle Macht im Theater acht Grundelemente aus: Allein-Intendanz, strukturelle Verriegelung, niedriges Gagenniveau, Tarifvielfalt, Verhinderung sozialer Planung, existenzielle Unsicherheit, gesplittetes Ensemble und fehlende Partizipation. Zusammen ergeben sie einen Zyklus betrüblicher Ereignisse.

Weiterhin wird in den Ergebnissen der Studie zu den sozialen Bedingungen und der Arbeitssituation der Theaterschaffenden eine weitere Korrelation deutlich: Opfer von Machtmissbrauch sind in den meisten Fällen die besonders prekär Beschäftigten: junge Künstlerinnen und Mitarbeiterinnen. Schmidt spricht dabei von einer "doppelten Ausbeute" (S. 285), die die hohe Asymmetrie der Strukturen und die herrschende Ungerechtigkeit verdeutlicht: "Diejenigen, die am schlechtesten verdienen und am wenigsten Macht besitzen, müssen am meisten arbeiten und ihre Existenz durch Nebenjobs sichern." (S. 287)

Dass eine Reform des Theatersystems längst überfällig ist, macht Schmidt mit einem weiteren Ergebnis deutlich: "Nur 0,4 % der Teilnehmer*innen schenken den Theatern in ihrer derzeitigen strukturellen Verfassung ihr Vertrauen und glauben daran, dass die Strukturen des Theaters Machtmissbrauch nicht begünstigen und alles gerecht zugeht. Das sind lediglich acht von 1966 Teilnehmer*innen." (S. 264) Ob diese acht Personen das Glück haben, an Häusern mit einer zeitgemäßen Struktur zu arbeiten?

Maßnahmen zur Eindämmung

Schmidt legt jedoch nicht nur den Finger in offene Wunden und rüttelt mit zahlreichen, alarmierenden Beispielen wach. Er erarbeitet auch konstruktive Vorschläge zu Management- und strukturellen Maßnahmen, um Machtausübungen einzudämmen, ihren Missbrauch zu sanktionieren und unmöglich zu machen. So schlägt er vor, dass Intendantenmodell durch Teamlösungen mit flachen Hierarchien und einer Dezentralisierung, wie beim Direktoriums- oder Matrixmodell, zu ersetzen, wobei er letzteres als reformorientierter erachtet.

Als zukünftiges Management-Modell schlägt er das Ethische Management vor, in welchem ein für alle Theater geltender Verhaltenskodex verbindlich ist. So könnte sich der Theaterbetrieb weg von einer "folkloristische(n) und sexistische(n), frauen- und fremdenfeindliche(n) Organisationskultur" (S. 273) bewegen, die ein Klima der Angst hervorbringt. Damit verbunden ist auch der Paradigmenwechsel, für den Schmidt sich ausspricht: Die Zufriedenheit und das kreative Potenzial der Mitarbeiter*innen sollen in den Fokus rücken und die Häuser motiviert und kompetent geführt werden.

Fazit

Die Publikation ist keine leichte Kost und macht nicht nur sehr nachdenklich, sondern löst auch einen Weltschmerz aus, der zeitweise den Glauben an das Gute ins Wanken bringt. Sie ist dennoch - oder gerade deswegen - für Theaterschaffende und Kulturpolitiker*innen relevant und lesenswert. Denn Schmidt und alle daran Beteiligten leisten damit einen wichtigen Beitrag für die Zukunft des deutschsprachigen Theatersystems. Gleichzeitig lassen Schmidts durchdachte und konstruktive Vorschläge darauf hoffen, dass "das Böse" manchmal bloß stärker ist, "das Gute" jedoch öfter vorkommt und sich letztlich bewährt und durchsetzt (frei nach Rutger Bregman, "Im Grunde gut").  

Die Publikation allein kann jedoch keine umfassenden Änderungen hervorbringen, wenn sich der interne, politische und öffentliche Druck auf die Häuser nicht erhöht. Dafür bieten Schmidts Ausführungen sowie die Ergebnisse der Studie eine hervorragende Grundlage. Die aktuelle öffentliche Debatte um das Badische Staatstheater ist ein Beispiel dafür, dass ein Umdenken sowohl bei den Theaterschaffenden selbst als auch in der Gesellschaft stattfindet.  

Wer nach dem Lesen des Buches dennoch an den bestehenden Strukturen festhalten will oder die damit verbundenen Krisen leugnet oder entschuldigt, sollte sich Folgendes vor Augen führen: Wer Macht missbraucht oder solches Verhalten toleriert bzw. wissentlich darüber schweigt, schadet auf lange Sicht sich selbst und auch dem kompletten Ansehen des Hauses und damit nicht zuletzt - und das sind die wohl schlimmsten Folgen - der Gesundheit der Kolleg*innen und Mitarbeiter*innen. "Menschen (also), die das Theater lieben, die ihm ihre Ausbildung und ihr Leben, ihre Träume und ihre ganze Kraft gewidmet haben." (S. 1) Und wenn Ihnen das noch nicht reicht: Stellen Sie noch einmal das eingangs erwähnte Beispiel vor. Vielleicht sind Sie beim nächsten Mal die Person, über die nicht mehr geschwiegen wird.


** Das Szenario ist frei erfunden. Ähnlichkeiten zu öffentlich gewordenen Machtmissbrauchsfällen sind jedoch nicht ausgeschlossen.

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