03.11.2022

Buchdetails

Zeitgeschichte im Museum: Das 20. und 21. Jahrhundert ausstellen und vermitteln
von Rainer Wenrich, Josef Kirmeier, Henrike Bäuerlein
Verlag: kopaed
Seiten: 208
 

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Autor*in

Jasmin Meinold
studierte Kunstwissenschaft und Geschichte in Braunschweig. Sie arbeitet als Projektmanagerin, Kuratorin und Kunstvermittlerin, und war für Museen und Kunstvereine in ganz Deutschland tätig. Mit Fine Arts Institute Leipzig (FAIL) erforscht sie Kunst als sozial engagierte Praxis in nicht-traditionellen Kunsträumen wie dem Dorf, dem Gefängnis und dem Einkaufszentrum.
Buchrezension

Zeitgeschichte im Museum. Das 20. und 21. Jahrhundert ausstellen und vermitteln

Obwohl bzw. weil Zeitgeschichte bzw. jüngere Geschichte für viele Menschen einen direkten Bezug hat, ist es für Museen schwierig, Zeitgeschichte auszustellen und neue Besucher*innengruppen anzusprechen. Der Sammelband präsentiert deshalb Ansätze aus der pädagogischen, kuratorischen oder forschenden Praxis und ordnet diese in kulturpolitische bzw. institutionskritische Diskurse ein.
 
Konzept und Inhalt
 
Der Band "Zeitgeschichte im Museum" - 2021 herausgegeben von Reiner Wenrich, Josef Kirmeier, Henrike Bäuerlein und Hannes Obermair im kopaed Verlag - geht zurück auf die Tagung der Bayrischen Museumsakademie "Das 20. Jahrhundert ausstellen. Beispiele, Vergleiche, Anregungen" im Juni 2019, von der ein Großteil der Beiträge stammt. Sechzehn Autor:innen verhandeln folgende drei Schwerpunkte in insgesamt zwölf Texten:
 
  • Welche Funktion/Rolle können Museen für Zeitgeschichte übernehmen?
  • Wie können Museen das 20. und 21. Jahrhundert ausstellen?
  • Können Museen durch die Darstellung von Zeitgeschichte neue Besucher:innen erreichen? Wie kann man diese Themen einem breiten Publikum zugänglich machen?
Warum gehen Menschen (nicht) ins Museum? 
 
In der Kulturpolitik herrscht zwar der Anspruch, "Kultur für Alle" zugänglich zu machen und Angebot zu schaffen, die ein breites Publikum ansprechen. Studien zeigen aber immer wieder, dass nur ein sehr kleiner Teil der Bevölkerung die Angebote öffentlicher Kultureinrichtungen wahrnimmt und ein noch kleinerer sie regelmäßig aufsucht (5-15 %). Warum interessieren sich viele Menschen nicht für Museum oder Theater und ihre Angebote? Welche sichtbaren und unsichtbaren Barrieren prägen diese Institutionen? Dies versucht die "Nicht-Besucher:innen"-Forschung seit Jahren zu ergründen und Antworten auf die Diskrepanz zwischen politischer Agenda und Realität zu finden. In seinem Beitrag benennt Thomas Renz verschiedene Faktoren, die auch für zeithistorische Museen und Ausstellungen gelten, von physischer Zugänglichkeit über Lage und Verkehrsanbindung, ökonomischen und zeitlichen Ressourcen, Bildungsstand, (fehlender) Rezeptionserfahrung und unterschiedlichen Motivationen für einen Besuch (soziale Teilhabe/ Status, ...) bis hin zu (mangelnder) zielgruppengerechter Ansprache, die vielmals in der Gestaltung von Programmen, Veranstaltungen und Marketing zu wenig Beachtung finden.
 
Hinsichtlich der Debatten um die gesellschaftliche Relevanz von Kultureinrichtungen und ihre Besucher:innenzahlen scheint ein kritischer Blick auf den eigenen Kulturbegriff und darauf, wie sich dieser in der Praxis widerspiegelt, nicht nur strategisch sinnvoll, sondern auch Teil des gesellschaftlichen Auftrages. Die genannten Faktoren zum Nicht-Besuch von Museen mögen nicht allen Museumspraktiker:innen geläufig sein bzw. in der Konzeption von Programmen/ Ausstellungen nicht immer berücksichtigt werden. Daher bietet der Beitrag von Renz einen guten Einstieg, auch als Vorspann zur Lektüre der weiteren Texte.
 
Ergänzen lässt sich hier noch die fehlende Repräsentanz der Lebensrealität eines wesentlichen Teils der Bevölkerung, wie Susanne Rieper in ihrem Beitrag über künstlerische Migrationsforschung im Museum ausführt. Programme und Ausstellungen zu zeithistorischen Themen spiegeln die Lebensgeschichten vieler Menschen sowie deren Perspektiven auf historische Ereignisse häufig nicht wider und produzieren auf diese Weise gesellschaftlichen Ausschluss.
 
Wie lassen sich also Museen zu Orten gestalten, die für mehr Menschen attraktiv sind und von diesen genutzt werden?
 
Von Bibliotheken lernen?
 
Am Beispiel öffentlicher Bibliotheken zeigt Christine Ott Strategien auf, wie dies vielleicht gelingen kann und Museen ihre Zugänglichkeit erhöhen könnten. Der Blick auf die aktuellen Entwicklungen in der Bibliothekslandschaft zeigt, dass diese ihr Selbstverständnis als Archive und Literaturorte in den letzten Jahren im Sinne eines gesellschaftlichen Auftrags stark erweitert haben. Neben den klassischen Aufgaben werden Bibliotheken zu Freizeitorten, Diskussionsforen und Wissenslaboratorien, die durch Nutzer:innen und lokale Partner:innen vielfältig benutzt und mitgestaltet werden können. Ziel dieser Transformation ist es, Räume sozialer und kultureller Teilhabe für Menschen mit unterschiedlichsten Ressourcen und Interessen zu schaffen. Dazu gehört auch die Reflexion und der Abbau des "Bildungsstättenhabitus" - etwas, das auch vielen Museen anhaftet.
 
Zu den Konzepten, die ausschlaggebend für diesen Transformationsprozess sind zählt u.a. das des "Dritten Ortes" (englisch third space). Es beschreibt einen Raum nachbarschaftlicher Gemeinschaft jenseits von Familie und Arbeit, der leicht zu erreichen ist, vielfältige und offene Angebote unterbreitet und dazu beitragen soll, soziale Unterschiede abzuschwächen. Ideen von Flexibilität, Erweiterungsfähigkeit und Veränderbarkeit prägen z.B. die Raumgestaltung und Architektur. Dies bildet einen starken Kontrast zu vielen historischen Museen und deren eher passiven Angeboten zur Wissensvermittlung, bei denen Gemeinschaft und Vernetzung meist keinen festen Raum haben.
 
Im Museum - Wessen Geschichte? 
 
Das Kapitel "Das 20. und 21. Jahrhundert ausstellen. Relevanz erzeugen" stellt drei Museumsprojekte aus Südtirol, Österreich und Italien vor, die Zeitgeschichte ins Zentrum ihrer Ausstellungen stellen. Hierbei ist neben Architektur und Raumkonzept, digitalen Vermittlungsangeboten, dem tatsächlichen Sammlungsbestand und den Zielgruppen vor allem das zugrunde liegende Geschichtsverständnis ausschlagegebend für die Selbstdefinition und Idee, was das Museum leisten kann und soll. Aus den drei Beiträgen lässt sich herauslesen, dass dieses neben Debatten der Museologie und Public History auch durch nationale Diskurse um Geschichte und Identität geprägt ist bzw. darauf reagiert.
 
Wessen Geschichte wird erzählt? Wer spricht? Wer wird angesprochen? An welchen gewaltvollen Strukturen sind Institutionen, die Geschichte erzählen, beteiligt? Diese Fragen sind ausschlaggebend für die Konzeption der drei Museen.
 
Das Haus der Geschichte Österreich (hdgö) begreift sich als Geschichtslabor, als "Diskussionsforum und Prozess" (S.79). Geschichte wird dabei verstanden als "eine immer in der Gegenwart geführte Auseinandersetzung" (S.93). Folglich müssen (zeit-)historische Museen als Prozesse begriffen werden, an denen möglichst viele Menschen teilhaben sollen, und nicht als fertige Produkte. Das geschieht im Fall des hdgö z.B. über partizipative, erweiterbare Webausstellungen oder das sogenannte Rapid Response Collecting, bei dem Menschen eingeladen sind, persönliche Objekte und Geschichten zu bestimmten Themen zur Verfügung zu stellen. Der Beitrag von Stefan Benedik, Eva Meran und Monika Sommer reflektiert außerdem die Gründung des Museums, seinen historisch bedeutsamen Standort und die Debatte um die Mitverantwortung Österreichs an den NS-Verbrechen, die maßgeblich für das Verständnis des Hauses als Demokratieort sind.
 
Hannes Obermaier beschreibt die geplante neue Dauerausstellung zur Geschichte Südtirols in der Franzensfeste. Mit einer Kartografie der Erinnerung sollen multiperspektivische Bezüge zu Vergangenheit und Gegenwart geknüpft werde. Es gilt außerdem, die Architektur des vormals militärischen Ortes als gebautes Narrativ von Grenze und Macht und ästhetisch gestalteten Raum zu erschließen und in den Ausstellungen und Angeboten zu reflektieren. Museum ist dabei "weniger identitätsstiftende Abbildung des Vergangenen und Gegenwärtigen" (S.75), sondern zeigt das Material von Erinnerung als eben solches, das unterschiedlich ausgelegt und genutzt werden kann. Im Angesicht der Instrumentalisierung der Diskurse um Regionalität und Heimat von patriotischen und neonationalen Seiten müssen Museen zu Handlungsräumen und Konfliktzonen werden, die diesen nicht mit einfachen Gegenidentitäten antworten, sondern Komplexität zulassen.
 
Livio Karrer beschreibt das Museo9, Museum des 20. Jahrhunderts, in Venedigs Stadtteil Mestre. Das Museum bildet ein eigenes Quartier mit unterschiedlichen Nutzungen und richtet sich explizit an die Generation Z. Es hat den Anspruch, national-identitätsstiftend wirken zu können, und möchte im Angesicht von sinkendem Geschichtsbewusstsein und mangelnder Aufbereitung in den Schulen zur Entwicklung eines größeren kritischen Bewusstseins für die jüngere Vergangenheit beitragen. Die Dauerausstellung basiert auf einem Mixed-Media-Modell, in dem Fotografien, Video, grafisches Material, Audiodateien und Musik in über 60 Installationen zusammengefasst werden, die nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch unterhaltend wirken sollen. Sie geben Einblick in die "Biografie eines Staates", in Entwicklungen, Zäsuren und Lebensrealitäten der Italiener:innen im Verlaufe des 20. Jahrhunderts, und sollen so Anknüpfungspunkte zur eigenen Familiengeschichte bieten bzw. intergenerational wirken. Ein weiterer Fokus wurde auf einfache, zielgruppengerechte Sprache sowie einen zeitgemäßen Kommunikationsstil basierend auf Bildern gelegt.
 
Teilhabe, Mitgestaltung, kritische Praxis
 
Im letzten Schwerpunkt widmen sich sieben Beiträge der Frage, wie Museen mit ihren historischen Inhalten Menschen erreichen, wie sie durchlässiger für Vielfalt werden können, wie Mitgestaltung ermöglicht werden kann und wie Vermittlungsstrategien helfen, bestimmte Zielgruppen anzusprechen, Hemmschwellen abzubauen und ins Museum einzuladen. Die Texte zeigen, dass im Zentrum der Auseinandersetzung immer der persönliche Bezug zu Themen und Objekten sowie die Emotionen der Besuchenden stehen müssen. Besonders Zeitgeschichte kann hier Anknüpfungspunkte bieten, wenn sich Verbindungen zur eigenen Lebensgeschichte herstellen lassen. Die Autor:innen berichten z.T. von konkreten Konzepten, deren Durchführungen und eigenen Lernerfahrungen, und geben Einblick in Kommunikationsabläufe und Arbeitsschritte, die diese Formate erfordern. Mit künstlerischen Mitteln erweitert sich zudem die Möglichkeit, mit Geschichte und ihrer Produktion umzugehen, und das Museum zu einem multiperspektivischen Raum zu machen.
 
Besonders anschaulich sind dabei die Beiträge von Verena Malfertheiner/Südtirol zu einer partizipativen Reihe für Schulklassen, die mit theaterpädagogisch-performativen Elementen Geschichte als Geschichte(n) erfahrbar macht, sowie von Susanne Gesser und Nina Gorgus zur Neuausrichtung des Historischen Museums Frankfurt als Forum, das explizit auf Partizipation aufbaut. Neben einer Dauerausstellung gibt es dort seit 2011 das "Stadtlabor", bei dem Kurator:innen gemeinsam mit Menschen aus Frankfurt ihre Stadt erforschen und Ausstellungen an verschiedenen Orten erarbeiten. Es geht darum, persönliche Expertise, Erfahrungswissen und unterschiedlichen Perspektiven sichtbar zu machen, miteinander zu verhandeln und die Deutungshoheit der Institution zugunsten einer Vielstimmigkeit aufzulösen. Durch diese starke Community-Orientierung und Beziehungsarbeit wird das Museum zu einem Ort, der für mehr Menschen Relevanz hat und Identifikation zulässt. 
 
Fazit
 
Eine beständige kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Institution ist elementar für eine zeitgemäße museale Praxis. Wenn Museen Orte gesellschaftlicher Relevanz sein wollen, müssen sie Räume gesellschaftlicher Teilhabe werden. Der Wunsch nach einem diverseren Publikum bedeutet dabei auch, Heterogenität in der Institution selbst zu fördern und diversere Teams mit unterschiedlichen Erfahrungen (nicht nur weiße, bürgerliche, nicht-behinderte Akademiker:innen) einzustellen. Das Investment von Ressourcen, finanziell und personell, in Bereichen wie Vermittlung und Kommunikation (mit akzeptablen Arbeitsbedingungen) kann dazu führen, dass Geschichte als soziale Praxis multiperspektivischer und inklusiver erzählt und dass die Institution Museum durchlässiger und authentischer als Ort der Repräsentation und Information für mehr Menschen relevant werden kann. Diesen Anspruch und wie der Weg dahin - ganz praktisch - aussehen kann, zeigen die Beiträge im Sammelband auf vielfältige Weise auf. 
 
Besucher:innen nicht nur als Rezipient:innen/Konsument:innen, sondern als Expert:innen mit eigenem Wissen zu sehen und Partizipierende ernst zu nehmen, ist dabei ein zentraler Punkt. In dieser Rolle können sie nicht nur im Kontext von (Zeit-)Geschichte wertvolle Beiträge liefern, Diskussionen und Ausstellungen und gesellschaftliche Räume mitgestalten. Auch für andere Museen ist es relevant, sich mit der Frage zu beschäftigen, wessen Geschichte(n) sie wie erzählen, welche Rassismen, Sexismen und politischen Weltbilder anhand von Sammlungsobjekte miterzählt werden und wie diese in ihren Besitz gelangten. Viele Überlegungen des Buches lassen sich daher auf verschiedenste Häuser übertragen.
 
Generell lässt sich sagen: Der Sammelband spricht aus der Praxis und richtet sich an Museumspraktiker:innen unterschiedlicher Gebiete (Kuration, Management, Vermittlung). Inwiefern die Beiträge dabei neue Erkenntnisse bieten, hängt sehr vom eigenen Wissensstand ab. Bereichernd ist in jedem Fall der Einblick in die Praxis der Autor:innen, die auch Schwierigkeiten und Probleme ihrer Arbeit benennen sowie umfangreiche Literatur-Referenzen liefern.

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