12.01.2023
Buchdetails
Zukunft(s)orchester: Perspektiven für Musikerausbildung und Orchesterpraxis (Edition das Orchester)
von Frauke Adrians, Silke Aichhorn, Christoph Altstaedt et al.
Seiten: 96
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Autor*in
Ophelia Euler
arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin an der HfM Dresden und hat dort im Mai 2022 eine Promotion im Bereich Musikpädagogik begonnen. Zudem ist sie an einer Berufsschule für Sozialwesen in der Ausbildung von Erzieher:innen und Sozialassistent:innen tät. Zuvor arbeitete sie bei der Industrie - und Handelskammer in Chemnitz im Bereich der Erwachsenenbildung/ Weiterbildung. Nachdem ihrem künstlerisches Studium (HfMT Köln, HMT Leipzig, Royal Academy of Music London) war sie als freiberufliche Orchestermusikerin tätig und arbeitete an Musikschulen in Sachsen. Währenddessen absolvierte sie ein weiteres Studium der allgemeinen Pädagogik an der TU Chemnitz.
Buchrezension
Zukunft(s)orchester. Perspektiven für Musikerausbildung und Orchesterpraxis
Was zeichnen Berufsorchester heutzutage aus? In welche Richtungen bewegen sich diese angesichts der aktuellen gesellschaftlichen Krisen und des gesellschaftlichen Wandels? Wie kann die Zukunft der Musiker:innenausbildung gesichert und an diesen Wandlungsprozessen angepasst werden? Diese Fragen werden in 15 Beiträgen des Sammelbandes "Zukunft(s)orchester. Perspektiven für die Musikerausbildung und Orchesterpraxis" diskutiert.
Der Sammelband, erschienen 2022 im Schott Verlag, knüpft an die Fachkonferenz "Zukunft(s)orchester" an, die im Oktober 2020 an der Hochschule für Musik Dresden stattfand. Die Autor:innen um die Herausgeberin Frauke Adrians sind Musikwissenschaftler, Dirigent:innen, Dozierende sowie Persönlichkeiten aus verschiedenen Arbeitsbereichen in Berufsorchestern. Sie alle beleuchten in ihren Beiträgen unterschiedliche Aspekte der Ausbildung von Musiker:innen an Musikhochschulen sowie die Praxis in Berufsorchestern und in Freiberuflichkeit. Sie machen damit die gegenwärtige Praxis verständlich(er) und liefern Imspulse, um Ausbildung und Beruf zu reflektieren.
Gegenwart mit Geschichte reflektieren
Die Publikation beginnt mit musikwissenschaftlichen Perspektiven zu den Zusammenhängen von Klangtraditionen, des Konzertwesens und einer Reflektion des Begriffs "Orchesters". Wie die Traditionen hinsichtlich des Wandels in Orchestern nachwirken, beschreibt Ekkehard Klemm in seinem Beitrag. In diesem geht er auf die Einheit von komponierendem und ausübendem Musicus als ein Kennzeichnen des kreativen Schaffens von Musiker:innen in der Barockzeit ein. Entgegen einem Spezialistentum könnte zukünftig die Vielseitigkeit von Künstler:innen (wieder) von größerer Bedeutung sein und diese bereits in der Ausbildung vermittelt werden. Nach Klemm könnte ein Ansatz eine "(…) umfassende musikalische, philosophische und theoretische Bildung" sein. Darüber hinaus legen Matthias Herrmann, Stefan Keym und Michael Heinemann et. al. regionale Traditionen in Leipzig und Dresden dar, die bis heute im Leipziger Konzertwesen und der Entwicklung von Musizierpraktiken in Dresden nachwirken. Hinsichtlich dessen sind die zu erwartenden Ergebnisse aus dem ESF-Forschungsprojekt "der Klang der Staatskapelle Dresden" bedeutsam und Antworten auf folgende Fragen können mit Blick auf die Verbindung von Tradition und Zukunft aufschlussreich sein: Können spezifische Klangtraditionen nachgewiesen werden? Wie sind diese entstanden und was trägt zu deren Entwicklung bei?
Diese Einführung gewährleistet eine Reflektion des gegenwärtigen Zustands aus der historischen Perspektive heraus. Wie kann auf Grundlage dieses Wissens die Zukunft gestaltet werden?
Wie gestalten sich Wege ins Orchester? Ein Blick auf Studium und Aufnahmeverfahren
Ein weiterer Themenkomplex widmet sich dem "Weg ins Orchester". Hier betrachten die Autor:innen die institutionelle Ausbildung von Musiker:innen im Zusammenhang mit Aufnahmeverfahren und gehen auf Reformen des Orchester- bzw. Probespielsystems ein. Der Weg ins Orchester ist in der Orchesterwelt auch über den Sammelband hinaus ein brisantes Thema, das in unterschiedlichen Publikationen immer wieder diskutiert wird (z.B. Bellmann 2020; Bishop & Tröndle 2017).
So ging Hendrik Müller, der nicht Autor des Sammelbands ist, bereits 2017 auf die langfristige Entwicklungsfähigkeit im Sinne von Lebenslangem Lernen von Musiker:innen ein, die als ein übergeordnetes Ausbildungsziel gesehen werden könne (Müller 2017, S. 24). Nach Müller gehöre dazu auch, Exploration zu vermitteln, Räume zu schaffen, in denen Neues und Innovatives im Rahmen der Ausbildung entstehen könne (Müller 2018, S. 163). Welche Rahmenbedingungen und Voraussetzungen müssen also in der Musiker:innenausbildung geschaffen werden, damit eine solche Entwicklungsfähigkeit ermöglicht und gefördert werden kann?
Entwicklungsfähigkeit steht auch in Verbindung mit Mobilität und Flexibilität, weshalb Christoph Altstaedt in seinem Beitrag anmerkt, das Aufnahmeritual "Probespiel" und die oftmals als wenig partizipativen wahrgenommenen Strukturen in Orchestern diesbezüglich zu überdenken (Altstaedt S. 48, 50). Hinsichtlich dessen weist Altstaedt beispielsweise auf einen temporären Austausch zwischen Orchestern sowie auf Ermöglichung von flexibleren und offeneren Strukturen hin.
Weitere zukunftsweisende Aspekte für die Ausbildung und Praxis in Berufsorchestern betreffen folgende Punkte: So sieht Bettina Binder nicht nur allein die Leistung im Instrumentalspiel als herausragendes Merkmal von Zukunftsfähigkeit von Musiker:innen, das noch immer im Zentrum von Auswahlverfahren steht und damit nicht die ganzheitliche Betrachtung einer Person. Auf diesen Missstand wird bereits in einer Studie aus dem Jahr 2017 von Esther Bishop und Martin Tröndle hingewiesen und dass es stattdessen Fähigkeiten der Absolvent:innen zu stärken gilt, die über das Instrumentalspiel hinausreichen (Bishop & Tröndle 2017). Dazu gehören etwa individuelles, gesellschaftliches Engagement (Lampson S. 43ff.; Binder S. 79ff.), musikalisch- künstlerische Innovationen (ebd.) und das Lebenslange Lernen (Altstaedt S. 50, 79). Denn: Immer weniger Absolvent:innen von Musikhochschulen landen in einer Festanstellung in Berufsorchestern (Bishop & Tröndle 2017).
Weiterhin machen verschiedene Beiträge darauf aufmerksam, dass eine zukunftsorientierte Ausbildung u.a. Offenheit und Innovationsfähigkeit sowie ein Bewusstsein für die eigene gesellschaftliche Rolle umfassen muss (Dohms, Altstaedt, Klemm, Hirschmann, Binder & Axt). In der aktuellen Ausbildung könnte möglicherweise die Auseinandersetzung mit Zukunftsthemen und ein weiter Blick über das eigene künstlerische Feld hinaus ein wichtiger Bestandteil sein.
Strukturelle Gegebenheiten und Veränderungen
Die Förderung von Freiberuflichkeit und daraus hervorgehenden Innovationen sowie die Auseinandersetzung mit (partizipativen) Organisationsstrukturen in Berufsorchestern werden in den Beiträgen von Lennart Dohms, Silke Aichhorn, Barbara Fasching, Jörg-Michael Scheelhaase und Michael Becker dargelegt. Dohms weist hierbei auf die hohe Innovationskraft der freien Szene hin und erörtert die Möglichkeiten der nachhaltigen Förderung sowie gesellschaftlichen Verankerung dieses kreativen Potenzials. Auch mit Blick auf die Studienergebnisse von Bishop und Tröndle wird die Relevanz der nachhaltigen gesellschaftlichen Verankerung der freien Szene deutlich, die bereits in der Hochschulausbildung beginnt: Wie präsent sind hier vielfältige Rollenvorbilder aus der freien Szene?
Weitere Fragen zur Zukunft der Orchesterpraxis ergeben sich mit Blick auf Gleichstellung, Macht und Hierarchien. Wie sieht die Geschlechtergerechtigkeit in Berufsorchestern aus? Welche Strukturen müssten gegeben sein, um Gleichstellung zu gewährleisten? Wie und wodurch kann Partizipation gelingen und welche Rolle spielt dabei machtsensibles Verhalten? Ekkehard Klemm weist in seinem Beitrag auf die Wichtigkeit der Auseinandersetzung mit Gleichstellung und Diversität hin. Diese solle nach Klemm in der Tat eingefordert werden. Orchester könnten "Modelle gelingender Demokratie" sein, so Klemm. Eine Studie des Deutschen Musikrats aus 2021 belegt die Aktualität der Thematik: Bei 9.884 Musiker:innen in Berufsorchestern wurden 60,4 Prozent Männer und 39,5 Prozent Frauen erfasst (Deutscher Musikrat 2021, S. 6). Männer und Frauen sind demnach in den Orchestern disproportional verteilt.
Aus dem Bewusstsein der eigenen gesellschaftlichen Rolle heraus, appelliert Oksana Lyniv, gegenwärtig Musikdirektorin des Teatro Comunale in Bologna, in ihrem Beitrag gegen den Krieg in der Ukraine. Dieser Appell zeigt die Stimme einer Künstlerin, die als "Artistic Citizen" Einfluss nimmt. Gemeinsam mit Musiker:innen des Jugendorchesters der Ukraine ruft Lyniv zur Unterstützung zum Frieden auf.
Bedeutung von Jugendorchestern und Orchesterakademien für die Zukunft von Berufsorchestern
Die Publikation schließt mit einem Blick auf das Bildungspotenzial von Jugendorchestern und Orchesterakademien. Die vielfältigen Ausbildungsinhalte (neben künstlerischen Inhalten z.B. Medientraining, Mentalcoaching und Probespieltrainings) professionell aufgestellter Orchesterakademien können nach Bettina Binder und Marcus Rudolf Axt einen wesentlichen Beitrag zur zukunftsträchtigen Bildung des Nachwuchses leisten. Die Vermittlung von Soft Skills (Axt S. 86) erhalten neben der Vermittlung musikalischer Inhalte einen wichtigen Stellenwert. Ebenso werden in dieser Publikation Innovationsfähigkeit und Individualität immer wieder als eine wichtige Ressource von Musiker:innen für die Zukunft gesehen. Dies kann im Gegensatz zum Aufnahmeverfahren Probespiel stehen, das in seiner Konzeption und Durchführung oftmals zu einer Aufrechterhaltung von Musiziernormen führt. Denn die Art und Weise, wie Nachwuchsmusiker:innen innerhalb des Orchesters ausgebildet werden, nimmt Einfluss auf die Orchesterpraxis und kann darüber hinaus kreative Potenziale entfalten und einen lebendigen Austausch unter Mitarbeitenden ermöglichen. Dies setzt allerdings entsprechende finanzielle und personelle Ressourcen voraus. Ebenso ist diese Ausbildungspraxis bisher noch wenig erforscht, was jedoch zukünftig wichtig wäre, um Perspektiven und den Nutzen dessen zu reflektieren.
Nachdem Ekkehard Klemm bereits mit seinen "Thesen zu Tradition und Wandel der Orchester" die Publikation eröffnet hat, ist an deren Ende sein Blick auf die Zukunft der Orchesterentwicklung gerichtet, die im Rahmen des Dresdner Instituts für Ensemble- und Orchesterentwicklung weiterentwickelt werden soll. Dazu gehöre u.a. die Zusammenarbeit und Vernetzung mit Orchesterakademien und freien Ensembles, eine intensive Nachwuchsarbeit und Durchführung von Projekten Neuer Musik und weitere inhaltliche Verankerung der Musikermedizin in diesem Feld.
Fazit und Ausblick
"Zukunft(s)orchester" gibt in kurzen Beiträgen einen vielfältigen und gebündelten Einblick zu Praxis und Ausbildung in diesem Feld. Der Band gewährleistet eine Auseinandersetzung mit Themen rund um die Zukunft von Berufsorchestern und angehenden Musiker:innen.
Die Veröffentlichung richtet sich daher an Interessierte, die im Kontext Berufsorchester und Musikhochschule tätig sind. Trotz der Einblicke aus verschiedenen Blickwinkeln heraus wären Beiträge aus der Perspektive von Orchestermusiker:innen, um die es in diesem Sammelband geht, und der Musikvermittlung als Bindeglied zwischen Publikum und Künstler:innen bereichernd gewesen. Möglicherweise hätte zudem der Blick auf die große Diversität innerhalb der Orchesterlandschaft in Deutschland gerichtet werden können. Denn die Berufswirklichkeiten von großen zu kleiner besetzeren Orchestern fallen höchst unterschiedlich aus. Weitere Themen, wie Gleichstellung, Teilhabe und Lebenslanges Lernen werden in einzelnen Beiträgen angesprochen, hätten jedoch aufgrund ihrer Komplexität und Relevanz für die Zukunft von und in Berufsorchestern in eigenen Beiträgen abgebildet werden können.
Aus den Beiträgen dieses Sammelbandes geht hervor: Orchester greifen in ihrer Arbeit immer mehr gesellschaftliche Themen auf und reagieren damit auch auf Veränderungen unserer Zeit. Dies wird gegenwärtig ersichtlich u.a. in Initiativen wie "Orchester des Wandels". Diese Entwicklungen gehen einher mit einem erweiterten bzw. reformierten Verständnis von künstlerischen Darstellungen und künstlerischem Handeln. Ein solches verändertes Verständnis sollte bereits im Studium präsent sein und sich in der Praxis der Ausbildung widerspiegeln.
Aufgrund des sich weitenden Feldes der künstlerischen Praxis wird die Auseinandersetzung mit angrenzenden Bereichen und Einbeziehung weiterer Perspektiven zukünftig eine wichtige Rolle spielen. Dies führt zur Auseinandersetzung mit weiteren neuen Kunstformen (Musizieren und Digitalität), die in einer Weiterentwicklung von Konzertformaten, Musizierformen, Organisationsstrukturen, Aufnahmeritualen an Hochschulen und in Berufsorchestern münden können. Darüber hinaus fließen Aspekte des sozialen Zusammenhaltes und Teilhabe, von Kommunikation, Gleichstellung, von Macht und Hierarchien (u.a. Klemm; Fasching & Scheelhaase & Becker; Dohms; Lampson) in diesen Prozess der Weiterentwicklung hinein. Diese Aspekte könnten in weiteren Forschungsvorhaben untersucht und in weiteren Publikationen diskutiert werden.
Weitere Literatur
- BELLMANN, KATHRIN (2020): Das Probespiel im Orchester als Personaleignungsdiagnostik. Problemstellungen und Lösungsansätze. Empirische Studien zur Performance und Bewertung von vorbereitetem Repertorie und Vomblattpiel innerhalb des Auswahlverfahrens professioneller Orchestermusikerinnen und -musiker, Münster: LIT Verlag.BISHOP, ESTHER; TRÖNDLE, MARTIN (2017): Tertiary musical performance education. An ar-tistic education for life or an out-dated concept of musicianship? In: Music & Practice Vol.3, 10.32063/0302.
- DEUTSCHER MUSIKRAT (Hrsg.) (2021): Geschlechterverteilung in deutschen Berufsorchestern. Ergebnisse einer Vollerhebung bei den 129 öffentlich finanzierten Orchestern, Bonn: Deutscher Musikrat.
- MÜLLER, HENDRIK (2017): Identität und Gelingen. Personale, soziale und ökonomische Perspektiven für Berufsmusiker in Praxis und Ausbildung, Baden-Baden: Nomos Verlag, S. 24f.
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