30.06.2021
Buchdetails
Beiträge zur Jahrestagung der Gesellschaft für Musikforschung in Kassel 2017: Das Populäre in der Musik und das Musikverlagswesen (Systematische Musikwissenschaft)
von Annette van Dyck-Hemming, Jan Hemming
Verlag: Springer VS
Seiten: 420
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Autor*in
Martina Kalser-Gruber
studierte Musikwissenschaft an der Universität Wien und sammelte erste Berufserfahrungen im Kulturmanagement, ehe sie 2014 als wissenschaftliche Mitarbeiterin an das Department für Kunst- und Kulturwissenschaften der Donau-Universität Krems wechselte. Seit 2020 betreut sie am Archiv der Zeitgenossen Bestände der zeitgenössischen Komponisten Friedrich Cerha, Kurt Schwertsik und HK Gruber. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Kommunikation, Leadership und Reputationsmanagement in der Kreativwirtschaft sowie zeitgenössische Musik.
Buchrezension
Das Populäre in der Musik und das Musikverlagswesen
"Einmal alles bitte!" könnte der Untertitel zum Sammelband "Das Populäre in der Musik und das Musikverlagswesen" heißen, umreißt er doch das breite Spektrum der Musikwissenschaft. Dabei dokumentiert er die Ergebnisse einer wissenschaftlichen Konferenz und macht diese für eine breite Öffentlichkeit über zeitliche und örtliche Grenzen hinaus zugänglich.
Ein Panoptikum an Perspektiven und Methoden
Wer unter den "Beiträgen zur Jahrestagung der Gesellschaft für Musikforschung in Kassel 2017” theoretische oder musikhistorische Texte ohne viel Gegenwartsbezug erwartet, wird überrascht sein vom Sammelband, der 2019 bei Springer VS erschien und von Annette van Dyck-Hemming und Jan Hemming herausgegeben wurde. Wie bereits bei der Tagung in Kassel - Sitz der VG Musikedition und einiger Musikverlage - demonstrieren die Beiträge der Tagung "Musikverlagswesen: gestern - heute - morgen” und "Das Populäre in der Musik”, mit welcher Leichtigkeit divergierend anmutende Thematiken und Phänomene der sogenannten populären Musik Hand in Hand gehen können. Dabei sprengen die Autor*innen die Grenzen zwischen historischer, systematischer und vergleichender Musikwissenschaft und verschließen sich vor allem auch dem neuen Feld der Musikwirtschaftsforschung nicht (mehr).
Musikverlage gestern, heute und morgen
Die zugegeben sehr kurz gehaltenen Texte zum Musikverlagswesen bieten nicht nur historische Grundlagen zum Entstehen der Musikverlage, wie dem renommierten Verlag Bärenreiter oder dem Einsatz der Musikverleger*innen bei der Entwicklung des Urheberrechts. Somit schlagen sie eine Brücke zwischen musiktheoretischen und wirtschaftlichen Themen, die bis in die Gegenwart von ungebrochener Relevanz sind. Dabei demonstrieren Daniel Ender aber auch Axel Beer, bekannt für seine Studien zum Musikverlagswesen, die Aufgaben der Musikverleger*innen: Diese galten durch ihre Kenntnis von Markt und Kundenvorlieben ein wertvoller und zumeist hochgeschätzte Partner von Komponisten. Beer beschäftigt sich aber eben nicht nur mit den historischen Begebenheiten, sondern hinterfragt auch gegenwärtige Tendenzen wie Digitalisierung oder moderne Distribution und meint dazu: "Bevor man einen Blick in die Zukunft wagt und mutige Prognosen formuliert, bedarf es der Aufarbeitung und Kenntnis historischer Grundlagen - wenigstens das Wissen um ihre Existenz ist unabdingbar, um nicht in den Strudel technikgläubiger Begeisterung oder aber umgekehrt düsterer Visionen zu geraten" (S. 11).
Thomas Tietze und Christian Krauß erläutern darüber hinaus in ihrem Beitrag zum "Urheberschutz für Wissenschaftliche Erstausgaben" rechtliche Grundprinzipien und diskutieren diese besonders nutzerfreundlich. So wird nach der Legaldefinition von Wissenschaftlichen Ausgaben (§70 UrhG) ausführlich erläutert, welche Leistungen für eine schützenswerte Ausgabe erbracht sein müssen (S. 22ff) oder welche Kriterien für die Berechnung von Tarifen herangezogen werden. Die beiden Autoren geben in aller Kürze eine kurzweilige Einführung in die Materie, bringen Informationen zu Verlagspraxis sowie weiterführenden Quellen und nennen die für die Einhaltung und Umsetzung des Urheberrechts wesentlichen Kontaktstellen.
Karl Traugott Goldbach beschreibt anhand der Spohr-Briefedition die Möglichkeiten der digitalen Technik, die anders als Bucheditionen die Darstellung nicht auf wenige Briefe beschränkt. Dabei zeigt er, welche Vorteile digitale Synergien zwischen Verlag und Bibliothek schaffen, da beispielsweise nicht nur verlagsneue Bücher als Digitalisat vorliegen, sondern vor allem auch Faksimiles von historischen Drucken aus Bibliotheken und Universitätsbibliotheken wie Harvard, Stanford oder Oxford zugänglich sind und somit neue Erkenntnisse für die Arbeit an Editionen bringen.
Weiters werden auch Open Access-Modelle in dieser Anthologie dargestellt und hernach sofort kritisch hinterfragt. So bildet Tobias Pohlmann die aktuelle "Situation an Universitätsbibiliotheken" ab. Dabei demonstriert er, wie sich fachspezifische Gepflogenheiten von jenen der Naturwissenschaften differenzieren, die Musikwissenschaft nach wie mehr Monografien als Artikel für E-Journals hervorbringt und Open Access-Modelle in der eher konservativen Musikwissenschaft bislang eben doch auf verhaltene Akzeptanz stoßen. Diese sowie weitere Studien eignen sich daher zum Einstieg in das Metier und laden zum vertiefenden Studium ein.
Das Populäre in der Musik
Im zweiten Schwerpunkt nähern sich dem "Populären in der Musik" gleichermaßen Musikethnolog*innen, -historiker*innen, -pädagog*innen wie Vertreter*innen der Systematischen Musikwissenschaft oder der Kultur- und Medienwissenschaften. Ungeahnt philosophisch die Herangehensweise von Fernand Hörner, der die Medialität des Songs hinterfragt und thematisiert, dass Noten und Sprache nur unzureichende Hilfsmittel sein können, um Songs zu beschreiben, denn "Klang kann man nicht in Worte fassen" (S. 103). Aussagekräftig erweisen sich außerdem die Untersuchungsergebnisse der beiden Musikpädagoginnen Brigitte Vedder und Claudia Breitfeld. Vedder untersuchte in einer qualitativen Erhebung Schulmusikbücher ab den 1970er Jahren daraufhin, wie sich der Musikunterricht in Deutschland auf einen gewissen "Kanon" von Werken beschränkt und präsentiert im Ergebnis eine "Hitparade" (S. 132) von Schubert, Bach und Haydn sowie eine didaktische Verschiebung hin zu Themen wie Lebensläufen, Stimmqualitäten oder Marketing. Zudem beschreibt Breitfeld das Phänomen Klassischer Musik in Kinderfilmen und demonstriert anhand von Barbiefilmen, wie Beethoven-Sinfonien in komprimierten (durchaus nivellierten) Varianten als Filmmusik auch in bildungsfernen Gesellschaftsschichten populär werden.
Wie breit das Spektrum der Populären Musik ist, zeigen die Abhandlungen zu Genres wie Techno, Heavy Metal oder dem venezianischen Musiktheater. Auf erfrischende Weise werden hier die unterschiedlichsten Forschungsmethoden nebeneinander präsentiert und regen zum Überdenken der bisher genutzten Methoden an. So werden die musikalischen Strukturen des Techno beispielsweise mithilfe eher im Bereich der Avantgardemusik angesiedelten Sonogrammprogrammen grafisch sichtbar, Metal-Riffs hingegen zunächst harmonisch analysiert, in der Folge aufführungspraktischen Analysen unterzogen und einer philosophischen Auseinandersetzung zugeführt.
Wege und Beziehungen in Musikwissenschaft und Musikwirtschaft
Ebenso werden unterschiedliche Ausbildungswege thematisiert. So diskutiert Dorothea Hofmann die vielfach kritisch beäugte Künstlerische Promotion, präsentiert Pro und Contra, die sich vielfach in die unterschiedlichen Herangehensweisen von Theorie und Praxis äußern: "Die Empirie der Wissenschaft steht konträr zur Subjektivität der Kunst" (S. 212f). Schließlich plädiert sie für ein dialogisches Verhältnis zwischen Wissenschaft und Kunst und einem Hybrid von "intensiver wissenschaftlicher und höchster instrumentaler Qualifikation" (S. 213f). Wo und wie man sich für den Bereich Musikwirtschaft in Deutschland ausbilden kann, untersucht Martin Lücke. Im Rahmen einer empirischen Studie vergleicht er Dauer, Abschlussmodalitäten und inhaltliche Schwerpunkte von staatlichen sowie privaten Anbietern und bietet damit gleichermaßen ein Service für Studieninteressierte wie potentielle Arbeitgeber*innen.
Einen anderen Weg begeht Beate Flath, die sich mit dem Beziehungsgefüge von Musik- und Wirtschaftskulturen befasst und als eindrucksvolles Beispiel die Veranstaltungsform Festival bringt. Dieses ist imstande, einer Region sowohl in monetärer Form - z.B. durch steigende Umsätze in der Gastronomie - als auch in nicht-monetärer Weise zur Verbesserung des Images beizutragen.
Musik und Politik
Ein ebenso interessantes Thema stellt die Verbindung zwischen Musik und Politik dar. Hendrik Neubauer widmet sich in "Musik in der politischen Werbung”, wie bewusst eingesetzte Musik die Rezeption im Wahlkampf lenken und als unterstützende Marketingmaßnahme fungieren soll. Ausschlaggebend dafür sei vor allem der emotionale Gehalt von Musik, der die Botschaften von jenen der anderen zusätzlich zu differenzieren vermag. Zu unterscheide sind genuin politisch intendierte Musik oder solche, die von der Politik entdeckt und für deren Zwecke "missbraucht" wird, wie Neubauer anhand des Liedes "Tage wie diese" von den Toten Hosen vorführt. Dieses wurde im Rahmen einer Wahlsiegverkündung der CDU / CSU 2013 verwendet und somit instrumentalisiert (S. 290f). Mit Musik, die in politischen Kontexten verwendet wird, stehen allerdings auch die Musiker*innen (Komponist*innen, Interpret*innen) im Mittelpunkt der Wahrnehmung. Dies kann sich einerseits unmittelbar auf das Image der Musiker*innen auswirken und sie andererseits (auch ungewollt) zur "Werteverantwortung" (S. 291) ziehen.
Musik und Medien
Ein weiteres Thema stellen Medien dar. Karin Martinsen führt anhand von Tonaufnahmen von Thomas Alva Edison vor, wie tontechnische Voraussetzungen die musikalische Praxis von Sänger*innen tiefgreifend verändert haben. Um sich den Gegebenheiten vor dem Aufnahmegerät anzupassen, trainierten diese sich nämlich eine "Medienstimme" (S. 305) an, die bald auch außerhalb des Tonstudios und auf der Bühne ihren sängerischen Habitus prägen sollte.
Dass Opernstars mit ihrer hohen Reputation auch dem Medium Stummfilm von Nutzen sein und vice versa auch das neue Medium positive Effekte für die Opernsänger*innen haben konnte, zeigt die Studie von Tilo Hähnel und Philipp Kreisig. Die beiden demonstrieren anhand mehrerer Beispiele, wie die öffentliche Wahrnehmung von bekannten Sänger*innen dazu führte, dass sie in Stummfilmen genau dieser Wahrnehmung entsprechende Rollen übernommen haben. So wurde einerseits die positive Reputation der Opernstars auf den Stummfilm übertragen, andererseits auch deren Persönlichkeit in die Marketingstrategie übernommen. Die Opernsänger*innen wurden zu Filmstars und bescherten somit wiederum dem Genre Oper einen modernen, "glamourösen" Charakter.
In diesem Themenkreis wird außerdem auf die immer besser erforschte Genderthematik hingewiesen: In der Zusammenschau mehrerer empirischer Studien zeigt Andreas Möllenkamp, "wie sich männliche Ein- und Zuschreibungen bei Musiksoftware auf den Ebenen der Entwicklung und des Designs der medialen Vermittlung sowie der Aneignung reproduzieren” (S. 333). So verweist er beispielsweise auf die Studie von Ada Patric Bell. Anhand der Software GarageBand von Apple, in der ausschließlich männliche Schlagzeuger präsentiert werden, zeigt er, wie sich Klische- und Rollenbilder auch im Design wiederfinden. Weiters präsentiert er Studien, die beweisen, dass die Branche mehrheitlich männlich besetzt ist, und konfrontiert Leser*innen mit einem Dilemma, das nur durch das bewusste Ausbrechen aus dem klischeehaften circulus vitiosus (vermehrte Besetzung von nicht männlichen Fachkräften, Veränderung des Designs) gelöst werden könnte.
Fazit
Fest steht: Dieser Sammelband öffnet den Blick für nie geahnte Synergien innerhalb einer Disziplin und zeigt - in Beiträgen unterschiedlicher Güte - wie verschiedene Forschungsmethoden der Musikwissenschaft und der Musikwirtschaft aufeinanderprallen und sich idealerweise gegenseitig "befruchten”.
Somit bietet der Sammelband eine Vielzahl von Perspektiven: Nicht nur für Kolleg*innen aus der eigenen Disziplin und ausübende Musiker*innen der unterschiedlichsten Genres, sondern ebenso für Historiker*innen, Kulturwissenschafter*innen und Medienwissenschafter*innen, die allesamt unzählige Anknüpfungspunkte fänden. Insbesondere die Resorts Musik und Medien sowie Musik und Politik richten sich gleichermaßen an Spezialist*innen der erwähnten Wissenschaftsdisziplinen wie an Praktiker*innen aus der Medien- und Werbebranche oder auch in politischen Institutionen. Besonders ans Herz zu legen sei dieser Sammelband folglich all jenen, die eine Karriere im weiten Feld der Musik anstreben: Sei es als Musiker*in, Komponist*in, Manager*in, Verleger*in, Bibliothekar*in und dergleichen, und vor allem die mannigfaltigen Forschungsbereiche der Musikwissenschaft kennenlernen möchten.
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