25.03.2024

Themenreihe Besucherforschung

Autor*in

Vera Allmanritter
ist Politikwissenschaftlerin und Kulturmanagerin. Sie leitet das Institut für Kulturelle Teilhabeforschung (IKTf) Berlin und ist Honorarprofessorin für Kultur und Management an der Fachhochschule Potsdam. Zuvor war sie freiberuflich und als Mitarbeiterin an verschiedenen Hochschulen, Stiftungen und Kultureinrichtungen tätig. Sie ist Co-Sprecherin der Arbeitsgruppe "Methoden der empirischen (Kulturbesucher*innen-)Forschung". 
Das Kulturpublikum der Zukunft

Wie können Kultureinrichtungen Orte der Bevölkerung werden?

Nach der Pandemie besuchen viele Menschen Kultureinrichtungen seltener als davor. Aus soziodemografischen und Lebensstil-Daten lassen sich Möglichkeiten ableiten, um dieses nachpandemische Verhalten von (nicht-)Besucher*innen besser zu verstehen und die Kulturarbeit auf ihre Bedürfnisse auszurichten.

Themenreihe Besucherforschung

Dies ist der leicht angepasste zweite Teil der Antrittsvorlesung von Vera Allmanritter, Leiterin des Instituts für Kulturelle Teilhabeforschung (IKTf), als Honorarprofessorin für Kultur und Management an der Fachhochschule Potsdam, gehalten am 24. Januar 2024. Das vollständige Video der Antrittsvorlesung ist hier zu finden: https://vimeo.com/907387644
 
Seit der Pandemie ist die Besuchsfrequenz bei allen Lebensstilgruppen gesunken. In den Berliner Bevölkerungsbefragung 2023 gaben 30 % bis 60 % aller neun Lebensstile an, dass sie nach der Pandemie seltener in die Kultureinrichtungen gehen als davor. Die höchsten Rückgänge sieht man bei denjenigen, die die Häuser ohnehin nur selten besucht haben. Zugleich sind aber auch die Gelegenheitsbesucher*innen und die Kernbesucher*innen stark eingebrochen. Es gibt also nicht nur eine Überalterung im Publikum und kein Nachwuchspublikum, sondern das Stammpublikum geht auch nicht mehr so häufig zu Kulturangeboten. Das ist sind für die Auslastungszahlen am problematischsten, weil das Stammpublikum die Häuser durch Mehrfachbesuche bisher regelmäßig gefüllt hat. Es mag ein wenig zynisch klingen, aber wenn Selten- bis Nie-Besucher*innen weniger kommen, ist das hinsichtlich dieser Zahlen weniger problematisch, denn sie sind in den Auslastungszahlen ohnehin nicht so stark vertreten. Das ist für kulturelle Teilhabe aber äußerst schlecht, denn genau diese Menschen möchte man für die Angebote ja ebenfalls begeistern.
 
 
Die Gründe für diese Entwicklung können wir ebenfalls aus der Berliner Bevölkerungsbefragung ableiten. Normalerweise ergeben solche Studien bei der Frage: "Warum gehen Sie nicht so häufig, wie Sie möchten?" drei Punkte: keine Zeit, kein Geld, nichts Interessantes. Nun haben diese drei Gründe deutlich an Relevanz verloren. Stattdessen sieht man Entwöhnungseffekte. Die Menschen verbringen ihre Freizeit anders, sind mehr zu Hause. Dadurch entsteht ein "Kreislauf des Grauens": Wenn ich weniger weggehe, bekomme ich weniger mit, und wenn ich weniger mitbekomme, gehe ich weniger weg. Das gilt ebenfalls für meine Freund*innen, sie aktivieren mich seltener zu Besuchen und ich sie auch nicht. Dadurch werden es immer weniger Besucher*innen. Zudem sinkt die Bereitschaft, für ein Kulturereignis Aufwand zu betreiben. Aussagen wie "Es herrscht ein Mangel an interessanten Angeboten in der Umgebung" bekamen 2023 deutlich mehr Zustimmung als noch 2019. Vermutlich hat sich das Kulturangebot von der Breite her zwischen 2019 und 2023 aber nicht so maßgeblich geändert, sondern die Menschen informieren sich weniger. Zudem meiden die Leute aus Gewohnheit noch immer Orte mit vielen Menschen. Das ist für Großveranstaltungen natürlich problematisch.
 
 
Gleichzeitig haben zwei Faktoren maßgeblich an Bedeutung gewonnen. Erstens wollen sich die Menschen stärker bei den Kulturangeboten oder der Programmgestaltung einbringen können. Zweitens finden sie die Angebote nicht herkunftskulturell divers genug. Das sagen einerseits insbesondere die Menschen über 70 Jahren, was spannend ist, weil viele Kultureinrichtungen meinen, sie könnten ihrem älteren Publikum Partizipation oder Diversitätsthemen nicht zumuten. Andererseits empfinden das vor allem die Jüngeren so. Das ist weniger erstaunlich, denn diese Menschen sind Mitbestimmung durch Online-Communities in ihrem Alltag gewohnt. Zudem sind gerade in Großstädten Menschen mit Migrationshintergrund im Alter von 15 bis 29 keine Minderheit, sondern oft die Mehrheit. Insofern ist es nicht erstaunlich, dass das wenig diverse Kulturangebot hier zu mangelndem Interesse führt. 
 
 
Der gesellschaftliche Rückhalt für Kulturangebote wird also wahrscheinlich sinken, wenn alles so bleibt, wie es ist. Es ist keineswegs sicher, dass weiterhin viele Menschen öffentliche Kulturangebote wichtig finden und öffentlich gefördert wissen wollen, gerade wenn andere Dinge gekürzt werden müssen. Das gilt vor allem für die heute noch unter 30-Jährigen, die sich nicht repräsentiert fühlen, Kultur zu steif finden und lieber lockere Veranstaltungen mit Essen und Trinken hätten. Aber auch das Stammpublikum der über 50-Jährigen und über 70-Jährigen ist unzufrieden. Außerdem stellt sich die Frage, was bei einem möglicherweise weiteren Rechtsruck der Bevölkerung und der Politik passiert. Menschen rechts der Mitte sind nicht unbedingt der Meinung, dass es Kulturangebote in der jetzigen Form braucht. Die Kultureinrichtungen, aber auch deren Fördergeber*innen müssen sich deshalb überlegen, was sie tun können, um die Angebote nachhaltig für große Teile der Bevölkerung zugänglich zu machen und interessant zu halten. 
 
Was tun?
 
Ein Managementansatz, der schon seit den 1990er-Jahren immer wieder diskutiert wird, ist Audience Development. Audience Development ist eine Organisationsphilosophie, bei der es um die Haltung der Einrichtung und jeder Person geht, die in der Einrichtung arbeitet, um Publikum (zurück) zu gewinnen und zu binden. Das funktioniert nur als Querschnittsaufgabe, wenn die Abteilungen oder Personen in der Einrichtung auf Augenhöhe zusammenarbeiten, also Programm, Marketing, Vermittlung usw. Zudem braucht es eine umfassende Besucher*innenorientierung, für die es aber häufig nicht die notwendigen Daten gibt. 
 
Auf einer Matrix ergeben sich für die Umsetzung folgende Möglichkeiten: Man versucht, über bestehende, leicht veränderte oder neue Angebote bestehende oder regional andere Besucher*innen oder komplett andere Bevölkerungsgruppen zu erreichen. Bei den meisten Kultureinrichtungen liegt der Fokus auf den bestehenden und regionalen Besucher*innen, denn das Risiko steigt, wenn man ein komplett neues Angebot für Menschen entwickelt, mit denen man vorher nichts zu tun hatte, anstatt das Gleiche wie immer für die gleichen wie immer zu machen. Klassische Strategien bestehen dann darin, Menschen über langfristige Beziehungsarbeit an sich zu binden, zum Beispiel über Abonnements. Oder über immer neue Angebote, damit die Stammbesucher*innen permanent etwas Neues finden und man sie zu Wiederbesuchen anregen kann. Das ist für die Kultureinrichtungen ein erheblicher Arbeitsaufwand. Deshalb wird bei klassischem Audience Development das Produkt, also das Kulturangebot, aus den Überlegungen herausgenommen. Aber tatsächlich ist das Produkt oft das Problem, nämlich genau das, zu dem die Menschen keine Anknüpfung finden und was keinen Kontext zur Lebensrealität hat. Hieraus ergibt sich deshalb die Frage an die Fördergeber*innen, wie weit man ermöglichen kann, dass die Einrichtungen risikobereit werden - ohne die Sorge, dass die Auslastungszahlen sinken oder dass man das Stammpublikum verschreckt.
 
 
Zudem ist bei Audience Development mit Partizipation oder Teilhabe in der Regel passive Teilnahme gemeint, also Kulturbesuch. Das reicht nicht nur deshalb nicht aus, weil sich viele Menschen mehr Partizipation wünschen, sondern noch aus zwei weiteren Gründen: Zum ersten wird Audience Development in den seltensten Fällen konsequent umgesetzt. Oft sind nur einzelne Personen oder Abteilungen dafür zuständig sind, aber es ist keine Querschnittsaufgabe oder Organisationsphilosophie. Zudem passiert häufig gerade kein Zusammenspiel von allen Abteilungen auf Augenhöhe. Stattdessen werden - meist mit der Argumentation der Kunstfreiheit - Programme gestaltet, die Vermittlung, Marketing, Kommunikation und Vertrieb im Nachgang an das Publikum bringen sollen. Das ist aber nicht die Idee von Audience Development. Klassische Audience Development-Strategien sind beispielsweise, auf Mitgliedschaften und Abonnements zu setzen, Angebote häufig zu wechseln, regelmäßige Events zu veranstalten oder das Besuchserlebnis insgesamt besonders angenehm zu machen. Eine verstärkte Konzentration auf  Audience Development ist als erstes Mittel für die Rückgewinnung von Publikum nach der Pandemie auch sicherlich geeignet gewesen. Aber ich halte es vor dem Hintergrund der aktuellen Datenlage für unwahrscheinlich, dass die Häuser allein mit diesem Mittel wieder voll werden. Zugleich ist es wenig wahrscheinlich, dass Menschen aus allen Bevölkerungsgruppen von den Angeboten erreicht werden. 
 
Man kann eine hohe Bedeutung einer Kultureinrichtung für die Stadtgesellschaft jedoch auf anderen Wegen schaffen. Denn die Einrichtungen können für viele Menschen auch ohne Besuche ihrer Angebote zum relevanten Ort werden, den sie erhalten möchten.
 
Ein vielversprechenderer und möglichst ebenbürtig zum Audience Development zu verfolgender Ansatz könnte das Community Building bzw. Community Engagement sein. Auch das ist eine Organisationsphilosophie, eine Haltung der ganzen Einrichtung und ein Managementansatz auf Basis des Zusammenspiels aller Beteiligten im Haus. Der Fokus ist hierbei aber nicht, Besucher*innen zu gewinnen und zu binden, sondern liegt auf einem Beziehungsaufbau mit der Stadtbevölkerung. Das Ziel ist, Gemeinschaft zu stiften oder Teil einer Gemeinschaft zu werden. Es geht um aktive Teilhabe und wirklichen Kontakt auf Augenhöhe. Die Häuser sind nicht Einrichtungen für die Bevölkerung, sondern Einrichtungen der Bevölkerung. Dafür ist ein Umdenken seitens der Kultureinrichtungen und der Fördergeber*innen notwendig, denn dafür braucht es mehr Wissen, andere Kompetenzen und andere Messkriterien für Erfolg als Ausstellungs-/Veranstaltungsanzahl und Besuchs-/Auslastungszahl. 
 
Dabei können drei klassische Strategien zum Einsatz kommen: Beim Outreach man geht aus den Einrichtungen raus an Orte des Alltags, vom Supermarkt bis zum Park, und bietet dort Kultur an. Idealerweise erhöht man damit die Zugangschancen. Am besten geschieht das in Kooperation mit Akteur*innen vor Ort, damit man nicht nur ein Kunstwerk in den Supermarkt stellt, ohne dass einen Bezug zu den Menschen hat. Bei Partizipation bezieht man die Bevölkerung in die Angebotsgestaltung ein. Und beim Konzept des "dritten Ortes" gestaltet man einen Ort, der ähnliche Relevanz gewinnt wie das Zuhause und die Arbeitswelt und dadurch möglichst zugänglich, niedrigschwellig und ein Ort der Begegnung ist. Das kann alles Mögliche sein, von WLAN und freien Arbeitsplätzen im Eingangsbereich über die Pilates-Gruppe, die im Foyer trainiert, Kleidertauschpartys bis zur Öffnung von Ressourcen für Laiengruppen, etwa das Überlassen von Proberäumen. 
 
Das Hauptargument gegen ein konsequentes Umsetzen dieser beiden Ansätze sind seitens einiger Kultureinrichtungen die zumindest bei ihnen derzeit wieder guten Auslastungen. Dieses Argument greift aber höchst wahrscheinlich nicht, denn Dank verstärkten Marketingaktivitäten in den letzten Monaten der Pandemie wurden vermutlich vor allem ehemalige Stammbesucher*innen wieder aktiviert. Und auch, wenn es aktuell wieder viele Besuche gibt, sind das unter Umständen dennoch weniger Besucher*innen als vorher - die gleichen Personen kommen vielleicht einfach häufiger. Das ist nicht nur demografisch ein Problem, sondern aus Besuchszahlen kann man auch keine Prognose für die Zukunft ableiten. Dafür muss man wissen, wer das Publikum eigentlich ist und wer darin fehlt, also wie viele Erst- und Wiederholungsbesucher*innen es gibt, welchen Anteil junges Publikum ausmacht usw. Nur wenn das Publikum unterschiedlich zusammengesetzt und möglichst nahe an der Zusammensetzung der Gesellschaft ist, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass zukünftig Publikum da sein wird. Zugleich braucht es eine größere Bedeutung von Kultureinrichtungen für die Stadtgesellschaft jenseits von Besuchen.
 
Über das Argument der guten Auslastungen, (Nicht-)Besucher*innenstudien, Teilhabe und Publikumsorientierung haben wir mit Vera Allmannritter und Thomas Renz hier ausführlich gesprochen. 

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