08.03.2021
Themenreihe Corona
Autor*in
Jorin Zschiesche
gründete recordJet 2008 und ist bis heute in allen Unternehmensbereichen involviert. Zuvor war er bei der Berlin Music Commission eG und im Management Label und Vertrag tätig. Er gründete 2016 das Label Filter Music Group, bei dessen CEO er ist. Seit 2016 ist er zudem Vorstand im Verband unabhängiger Musikunternehmen (VUT).
Entwicklung der Musikindustrie 2020
Alles bleibt anders
Für Musiker*innen und Musikmanager*innen ist es gerade schwierig, rational zu bleiben. In solchen Situationen hilft ein Blick auf Statistiken, zum Beispiel der Musikvertriebsplattform recordJet. Dass sie für 2020 auch positive Entwicklungen zeigt, erklärt recordJet-Gründer Jorin Zschiesche.
Themenreihe Corona
KMN: Lieber Herr Zschiesche, nach dem wahrlich schwierigen Jahr 2020, wo steht die Musikbranche aktuell?
Jorin Zschiesche: Das kommt darauf an, welchen Bereich der Musikindustrie man betrachtet. Der Streaming-Sektor erlebt weiterhin ein erhebliches Wachstum, das durch die Pandemie sogar vorangetrieben wurde. Der Live-Sektor hingegen ist nach wie vor komplett stillgelegt und die meisten Veranstalter*innen rechnen erst wieder ab 2022 mit Normalbetrieb. Trotz des Wachstums im Streaming können die Verluste im Live-Bereich wohl nicht aufgefangen werden. Wir sind somit weit entfernt von einer Entwarnung in der Musikindustrie.
KMN: Welche Entwicklungen lassen sich spezifisch für den digitalen Musikvertrieb 2020 verzeichnen?
JZ: Corona stellte im Jahr 2020 nicht nur den Musikvertrieb auf den Kopf, die ganze Welt hat sich noch stärker in den digitalen Raum verlagert. Um ganz ehrlich und transparent zu sein: Der digitale Vertrieb profitierte von der Krise. Zwischen Januar und Oktober verzeichneten wir ein Unternehmenswachstum von 86 Prozent. Im gleichen Zeitraum registrierten wir um 59 Prozent mehr Song-Releases: Im Februar 2020 hatten wir zwischen 250 und 350 Song Releases pro Woche. Derzeit sind es 900 bis 1.000. Immer mehr Menschen wollen ihre Songs digital vertreiben, was sich auch in unseren Anmeldezahlen widerspiegelt. Diese haben sich seit dem letzten Jahr verdoppelt. Viele Musiker*innen haben sehr viel Musik produziert und veröffentlicht, möglicherweise auch um zu versuchen, die Ausfälle bei den Live-Einnahmen zu kompensieren.
KMN: Was bedeuten diese Entwicklungen für die Akteur*innen des Musikbereichs, also für die Musiker*innen, Labels, Musikmanager*innen usw. hinsichtlich Einnahmen, aber auch neuen Prozessen und Aufgaben?
JZ: Viele der Musiker*innen leben von der Mischung aus Digital-, Physisch-, Verlags- und Live-Einnahmen. Fällt eine dieser Komponenten weg, wie momentan das Live-Geschäft, fehlt ein großer Teil. Live-Auftritte sind aber aller Voraussicht nach bis Ende des Jahres nicht möglich. Die aktuelle Situation hat also gezeigt, dass Musiker*innen und Labels auf mehrere Einnahmequellen setzen und sich möglichst breit aufstellen müssen, um sich abzusichern. Zusätzliche Einnahmen durch Merchandise-Artikel, Streams und Plattformen wie die Crowdfunding-Plattform ‘Patreon’ - wo Musiker*innen ihre Inhalte exklusiv für zahlende Fans bereitstellen - helfen Künstler*innen, in der Krise weiterhin Einkommen zu generieren.
In der Not bleibt nur eines - Chancen verstehen und nutzen. Was nicht heißt, dass wir nicht großes Diskussionspotential und Nachholbedarf auf Seiten der Politik sehen, was Förderungen und allgemeine Unterstützung angeht. Dennoch sollten wir neue Formate, neue Kanäle und Möglichkeiten elaborieren, unter anderem die Nutzung und Ausweitung von - auch bezahlpflichtigen - Social Media Auftritten z.B. mit TikTok. Da die komplette Gesellschaft aktuell größtenteils digital konsumiert, können sich Musiker*innen auf digitale Kanäle fokussieren, um sich selbst und ihre Musik zu promoten.
KMN: Wie hat sich die Selbstvermarktung der Musiker*innen verändert?
JZ: Die Selbstvermarktung von Musiker*innen stützt sich schon länger auf den digitalen Raum, sei es Instagram, TikTok, virtuelle Konzerte über Portale wie Patreon oder Podcasts. Durch die Corona-Pandemie verstärkte sich dies natürlich nochmal, sie hat die Entwicklungen verstärkt, aber nicht grundlegend verändert. Unsere Mitglieder wollen noch eifriger Plätze auf den beliebtesten Playlisten von Spotify und Co ergattern.
Die Selbstvermarktung über eine aktuelle Homepage, die großen Social Media-Plattformen und seit neuestem über Clubhouse ermöglicht mehr direkte Einblicke. Sie sorgen dafür, dass Konsument*innen über das alltägliche Leben der Künstler*innen informiert sind - und die Künstler*innen können heute viel stärker selbst steuern, welche Informationen sie wie preisgeben möchten. Sie bauen so eine stärkere emotionale Bindung zu ihrer Community auf und halten die Beziehung aufrecht. Neben der Einbindung in das alltägliche Leben bieten auch Online-Konzerte die Möglichkeit, die eigene Community an die "guten alten Zeiten” zu erinnern und das Konzertfeeling wenigstens ein Stück weit in die eigenen vier Wände zu zaubern. Man glaubt es kaum, aber auch Radio ist noch immer einer der relevantesten Promotion Kanäle. Radioairplay wurde zudem gerade erst in die Chartswertung aufgenommen.
Grundsätzlich wichtig für den Imageaufbau von Künstler*innen ist es, Reichweite zu generieren. Je mehr Menschen man mit seiner Musik und seinem persönlichen Auftritt erreicht, desto besser. Um sich selbst als Marke zu positionieren, braucht man Follower*innen. So wird man als Künstler*in gleichzeitig auch ein*e attraktive*r Partner*in für Marken, was sich sowohl finanziell lohnen als auch die Reichweite enorm erhöhen kann.
KMN: Lassen sich daraus Verschiebungen innerhalb des Musikbereichs festmachen, beispielsweise hinsichtlich der Beliebtheit von Musikrichtungen oder dem Anteil an neuen Musiker*innen?
JZ: Es lassen sich einige Trends feststellen: Weiterhin im Wachstum ist der deutsche Rap. Hier scheint sich eine kleine Wachablösung prognostizieren, da viele neue, jüngere Künstler*innen im Vormarsch sind. Das Genre wird zudem immer poppiger, so dass einige Grenzen verschwimmen, denn auch Deutsch Pop bis hin zu Schlager sind noch immer gefragt bzw. im Wachstum. Tatsächlich schafft es auch gerade deutscher R&B, Marktanteile zu gewinnen, weil auch hier insbesondere in der Produktion die Grenzen zum Rap verschwimmen. Besonders freut mich, dass Frauen deutlich besser wahrgenommen werden, wofür wir uns besonders einsetzen. Auch die Stores haben inzwischen eigene Programme, um Frauen zu fördern. Ein weiterer großer Trend war und ist sicher Slaphouse, was sich außerordentlich erfolgreich in den Zahlen widerspiegelt.
KMN: Lässt sich schon etwas darüber sagen, ob sich die Trends langfristig in dieser Form fortsetzen werden, auch wenn wieder Live-Events stattfinden und physische Tonträger wieder leichter zugänglich sind?
JZ: Es wird sicher nicht alles zur Situation vor Corona zurückgehen. Insbesondere der Markt physischer Tonträger war schon davor erheblich eingebrochen. Auch werden viele Errungenschaften wie neue Vermarktungswege weiterhin genutzt, wenn auch vielleicht etwas weniger. Das Live-Geschäft wird sich ebenfalls wandeln, da nicht alle Bands die ausgefallenen Konzerte gleichzeitig nachholen können.
KMN: Was hat es mit dem 360° Modell recordJets auf sich?
JZ: Wir bei recordJet setzen auf unser Baukastensystem: Jede*r Künstler*in kann all das finden, was er oder sie individuell benötigt und wofür das Budget reicht, um die Vermarktung perfekt zu machen. In Zusammenarbeit mit unseren Service-Partner*innen bieten wir ein breites Spektrum an Dienstleistungen an, die Labels, Bands und Musiker*innen benötigen. Angefangen vom physischen Vertrieb über professionelle Promotion bis hin zu Merchandise, Digitalmarketing und Produktmanagement. Darüber hinaus bieten wir kostenfreie (Online-)Masterclasses an, um Künstler*innen wichtiges Wissen zu verschiedensten Themen zu vermitteln, beispielsweise zu Brandbuilding oder zur GEMA.
KMN: Welche Learnings kann die Musikbranche aus der Krise verzeichnen?
JZ: Auch wenn kleine Konzerte kurzerhand in den digitalen Raum verlegt wurden: Das Gefühl bei einem Live-Konzert ist unersetzbar. Wir haben zwar gelernt, aus Solidarität und Verantwortung zu verzichten, dennoch hoffen wir alle, bald wieder Live-Veranstaltungen besuchen zu können. Ich glaube, dass wir die emotionale Verbindung zu Musik und Acts im Allgemeinen in Zukunft noch mehr zu schätzen wissen - und dass uns bewusst wurde, wie sehr Künstler*innen von uns abhängig sind, sei es finanziell, aber auch von unseren Empfehlungen und Hörverhalten.
Ein weiteres Learning: Besondere Situationen beflügeln manchmal die Kreativität. Unsere Künstlerin ROLA erzählte uns zum Beispiel, dass sie in der Krise kreativer war als je zuvor. Auch die Vermarkter*innen haben neue, kreative Wege gesucht und gefunden: Die Club Commission hat beispielsweise innerhalb weniger Tage die United We Stream Plattform ins Leben gerufen, um Einnahmen für Clubs zu generieren. Eine echte Erfolgsgeschichte.
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