Podiumsdiskussion zu Theaterpädagogik
Kunst oder Bildung?
Autonomie oder Arbeit an der Wissensgesellschaft?
Adrienne Goehler (ganz links), ehemals Hochschulpräsidentin, Berliner Kultursenatorin, Kuratorin des Hauptstadtkulturfonds und Autorin der Streitschrift «Verflüssigungen» (Campus Verlag 2006), diskutiert mit Bühnenvereinspräsident Klaus Zehelein (ganz rechts), moderiert von Uwe Gössel, Vorstand der Dramaturgischen Gesellschaft und Leiter des Internationalen Forums des Berliner Theatertreffens, und Birgit Lengers, stellvertretende Vorsitzende der DG und Korrespondentin für Kulturmanagement Network
Adrienne Goehler (ganz links), ehemals Hochschulpräsidentin, Berliner Kultursenatorin, Kuratorin des Hauptstadtkulturfonds und Autorin der Streitschrift «Verflüssigungen» (Campus Verlag 2006), diskutiert mit Bühnenvereinspräsident Klaus Zehelein (ganz rechts), moderiert von Uwe Gössel, Vorstand der Dramaturgischen Gesellschaft und Leiter des Internationalen Forums des Berliner Theatertreffens, und Birgit Lengers, stellvertretende Vorsitzende der DG und Korrespondentin für Kulturmanagement Network
1. EINFÜHRUNG UND WARM-UP
Dramaturgische Gesellschaft
Wir begrüßen Sie zu unserer Podiumsrunde. Der Veranstaltung haben wir den Titel gegeben «Die Kunst der Vermittlung Chancen und Risiken für das Theater». Ist das allein eine Aufgabe der professionellen Kunstvermittler, der Theaterpädagogen? Oder hat es auch Folgen für die Künstler selbst? Denn auf den ersten Blick scheint die Vermittlungsarbeit von Kunst für alle Seiten Vorteile zu bieten. Vermittlung stärkt die Schlüsselqualifikationen, die Softskills junger Menschen, stiftet Dialoge über die Künste, über die Inhalte und über die Gegenstände, über tiefe Erfahrungen und tiefe Einsichten, beschert außerdem den Theatern neue und neugierige Zuschauer, generiert Arbeitsplätze für Künstler und Kunstpädagogen, schafft eine gesellschaftliche Legitimation für Kulturbetriebe, stellt neue Kontakte und Kooperationen zwischen Schulen und Theatern, Schülern und Künstlern her, verbessert das gesamtgesellschaftliche Klima. Es gibt natürlich auch Risiken. Vermittlungsaufgaben ziehen Gelder von der Kunstproduktion ab. Die Kunst gerät in Gefahr, funktionalisiert zu werden und verliert Autonomie und Zweckfreiheit im Schillerschen Sinne. Künstler konkurrieren in den Schulen mit Lehrern, Kunstvermittlung ersetzt den Fachunterricht, Vermittlung wird zum Marketinginstrument. Kunst wird heruntervermittelt, simplifiziert, für eindeutig erklärt, und den berühmten Modellprojekten, zum Beispiel «Rhythm is it», fehlt die Nachhaltigkeit. Da wird etwas angestoßen, aber man weiß nicht, wie es weitergeführt wird. Wir wollen noch mal den Fokus auf folgende Fragen richten: Welchen neuen Herausforderungen muss sich das Theater stellen? Das heißt, welche Vermittlungsaufgaben kann oder soll es überhaupt leisten? Und wer sind die Entscheidungsträger? Ist das die Finanzpolitik, die da gefragt ist, die Bildungspolitik, die Kulturpolitik, die Schulen, die Theater, die Künstler, die Ausbildungsstätten oder die Kanzlerin? Wir hören jetzt ein Statement von Adrienne Goehler, dann steigen wir in die Diskussion ein.
Wir begrüßen Sie zu unserer Podiumsrunde. Der Veranstaltung haben wir den Titel gegeben «Die Kunst der Vermittlung Chancen und Risiken für das Theater». Ist das allein eine Aufgabe der professionellen Kunstvermittler, der Theaterpädagogen? Oder hat es auch Folgen für die Künstler selbst? Denn auf den ersten Blick scheint die Vermittlungsarbeit von Kunst für alle Seiten Vorteile zu bieten. Vermittlung stärkt die Schlüsselqualifikationen, die Softskills junger Menschen, stiftet Dialoge über die Künste, über die Inhalte und über die Gegenstände, über tiefe Erfahrungen und tiefe Einsichten, beschert außerdem den Theatern neue und neugierige Zuschauer, generiert Arbeitsplätze für Künstler und Kunstpädagogen, schafft eine gesellschaftliche Legitimation für Kulturbetriebe, stellt neue Kontakte und Kooperationen zwischen Schulen und Theatern, Schülern und Künstlern her, verbessert das gesamtgesellschaftliche Klima. Es gibt natürlich auch Risiken. Vermittlungsaufgaben ziehen Gelder von der Kunstproduktion ab. Die Kunst gerät in Gefahr, funktionalisiert zu werden und verliert Autonomie und Zweckfreiheit im Schillerschen Sinne. Künstler konkurrieren in den Schulen mit Lehrern, Kunstvermittlung ersetzt den Fachunterricht, Vermittlung wird zum Marketinginstrument. Kunst wird heruntervermittelt, simplifiziert, für eindeutig erklärt, und den berühmten Modellprojekten, zum Beispiel «Rhythm is it», fehlt die Nachhaltigkeit. Da wird etwas angestoßen, aber man weiß nicht, wie es weitergeführt wird. Wir wollen noch mal den Fokus auf folgende Fragen richten: Welchen neuen Herausforderungen muss sich das Theater stellen? Das heißt, welche Vermittlungsaufgaben kann oder soll es überhaupt leisten? Und wer sind die Entscheidungsträger? Ist das die Finanzpolitik, die da gefragt ist, die Bildungspolitik, die Kulturpolitik, die Schulen, die Theater, die Künstler, die Ausbildungsstätten oder die Kanzlerin? Wir hören jetzt ein Statement von Adrienne Goehler, dann steigen wir in die Diskussion ein.
2. AUFSCHLAG GOEHLER
Adrienne Goehler
Wir leben in einer Zeit des umfassenden gesellschaftlichen Übergangs, in einer Zeit des «nicht mehr und noch nicht». Die Hoffnung auf «mehr, besser, schneller» ist nicht mehr. Eine Rückkehr zu Zeiten der Vollbeschäftigung wird es in Deutschland, wie in allen Hochpreisländern, nicht mehr geben, was an ihre Stelle treten soll, damit «der Mensch ein Mensch ist, bitte sehr», ist noch nicht Gegenstand öffentlichen Nachdenkens. Hier leben wir in einem Zwischenraum: Wir werden nicht mehr genügend vom Vater, vom Staat versorgt, und können noch nicht andere eigene Wege beschreiten, weil noch die Voraussetzungen für soziale Konstruktionen fehlen, die Hybride zwischen Fürsorge und Selbstorganisation erzeugen könnten. Mit dem Zerbröseln des Sozialstaats gehen, schon jetzt empfindlich spürbar, auch die Subventionen im Kultur- und Wissenschaftsbereich zurück, so sie nicht im Genuss sind, einem Exzellenzcluster anzugehören. Innerhalb der Künste und Wissenschaften haben wir es mit Gleichzeitigkeiten zu tun: Einem boomenden Kunstmarkt, wachsender Liebe zu Leuchtturmprojekten und Exzellenzcentern bei Politik und Feuilleton stehen immer mehr immer prekärer lebende KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen gegenüber, genauso wie darbende Institutionen. Die KünstlerInnen, PublizistInnen und die JungwissenschaftlerInnen bilden die Avantgarde der prekären Lebensverhältnisse, wir werden darin zum Rollenmodell für künftige Arbeitsverhältnisse. Es wird deshalb zu einer Überlebensfrage für die Künste und Wissenschaften werden, den immer kleiner werdenden Zoo, in den wir durch alle Parteien gleichermaßen gesperrt werden, zu verlassen und unsere gesellschaftliche und ökonomische Relevanz im Hinblick auf neue Lebens- und Arbeitstätigkeiten jenseits der Lohnerwerbstätigkeit zu finden, zu erfinden. Dass die Künste ihre Autonomie lange Zeit wie eine Monstranz vor sich hergetragen haben, hat sie ins Abseits des gesellschaftlichen Geschehens gedrängt. Aus dieser Randlage bewegen sich KünstlerInnen jetzt entschiedener hin auf Durchdringung der Formen und Zugänge. Wir brauchen die Erweiterung des künstlerischen Resonanzraums auch deshalb, weil wir immer mehr KünstlerInnen aller Sparten immer schlechter bezahlen können. Weil wir immer mehr ausbilden, die keine angestammten Plätze mehr vorfinden. Wir müssen uns neue Tätigkeitsfelder erschließen. Die sich durch Kunst verändernden Schulen sind dafür ein wichtiges Beispiel. Das deutsche Schulsystem ist durch die Künste nicht reformierbar, aber die Künste sind aufgerufen, zu seiner radikalen Veränderung beizutragen. Es geht nicht mehr mit Salbe! PISA hat dem Letzten offenbart, dass die deutsche Schule eine strukturell sinnen- und körperverachtende ist, die mehr mit Bismarck als mit Humboldt zu tun hat. Sie denkt hierarchisch und nicht in Zusammenhängen und Gleichgewichten, sie killt Zeit- und Rhythmusempfinden der Kids, sie trennt sie. Sie fordert den flexiblen Menschen, aber sie gibt ihnen dafür kein Rüstzeug an die Hand. Der Zeitmaßstab kommt nicht aus den Gegenständen von Forschung und Lehre, er wird in 45- Minuten-Wurstscheiben portioniert. Die 45 Minuten bilden den Maßstab der Wissensdosis. So verschwinden die Möglichkeiten, Spannungsbögen wahrzunehmen, gar sie zu erzeugen. Wie soll denn so schlecht ausgerüstet ein Leben zu bewältigen sein? Theater geht nur, wenn die, die zusammen auf, vor und hinter der Bühne stehen, miteinander kommunizieren. Das muss Schule auch können können. Wir können Schulen nicht den SchulexpertInnen überlassen. Sie, pardon, versauen das Schöpferische bei den Kids. Wir brauchen den Einzug anderer Biografien und Lebensmodelle in die Schule, wir brauchen dort den Tanz, wir brauchen Stadtraumerfahrung. Das Erkunden des Körpers und seiner Möglichkeiten im Raum sind nicht an Sprache gebunden. Wir brauchen andere Modelle, die ein Rein- und Rausgehen aus Schule ermöglichen. An andere Orte von Praxis, und von dort in Schule hinein. Zur eigenen Wahrnehmungserweiterung, zum eigenen Schutz. Enja Riegel, die ehemalige Direktorin der Helene-Lange-Schule, ist ein Vorbild, weil sie den Wurstscheibenunterricht aufgekündigt hat und gerade darüber in den PISA-Himmel gehoben wurde. Wir brauchen dringend neue Allianzen. Viele Kinder, Eltern, Lehrende, auch Schulleiter (meist Leiterinnen), Forschende wollen etwas grundsätzlich anderes; die Zunahme der Anmeldungen an Privatschulen sprechen eine deutliche Sprache. Denen sollten Sie, die DramaturgInnen, Verbündete sein. Sie haben das Rüstzeug, einem latent Möglichen eine Ausdrucksform zu geben. Machen Sie Modellprojekte, und lassen Sie diese durch Forschung begleiten. Und beeinflussen sie dadurch auch das Zusammenspiel von Theorie und Praxis. Die unterschiedlichen AkteurInnen, die es für die kollektive Anstrengung zum radikalen Umbau von Schule braucht weil alles gleichzeitig verändert werden muss , sind leicht zu benennen: Zusätzlich zu den «Dritten», also Kunst-, Sport- und Wissenschaftsprofis und anderen Berufstätigen von außerhalb der Schule, KindererzieherInnen und TheoretikerInnen, sind Menschen aus den Jugend-, Sozial-, Kultur- und Gesundheitsämtern unerlässlich. All deren Wissen, Fragen und finanzielle Möglichkeiten, die in zig Haushaltstitel aufgespalten sind, müssen füreinander durchlässig werden, um das System zu transformieren. Es braucht Verflüssigung.
Wir leben in einer Zeit des umfassenden gesellschaftlichen Übergangs, in einer Zeit des «nicht mehr und noch nicht». Die Hoffnung auf «mehr, besser, schneller» ist nicht mehr. Eine Rückkehr zu Zeiten der Vollbeschäftigung wird es in Deutschland, wie in allen Hochpreisländern, nicht mehr geben, was an ihre Stelle treten soll, damit «der Mensch ein Mensch ist, bitte sehr», ist noch nicht Gegenstand öffentlichen Nachdenkens. Hier leben wir in einem Zwischenraum: Wir werden nicht mehr genügend vom Vater, vom Staat versorgt, und können noch nicht andere eigene Wege beschreiten, weil noch die Voraussetzungen für soziale Konstruktionen fehlen, die Hybride zwischen Fürsorge und Selbstorganisation erzeugen könnten. Mit dem Zerbröseln des Sozialstaats gehen, schon jetzt empfindlich spürbar, auch die Subventionen im Kultur- und Wissenschaftsbereich zurück, so sie nicht im Genuss sind, einem Exzellenzcluster anzugehören. Innerhalb der Künste und Wissenschaften haben wir es mit Gleichzeitigkeiten zu tun: Einem boomenden Kunstmarkt, wachsender Liebe zu Leuchtturmprojekten und Exzellenzcentern bei Politik und Feuilleton stehen immer mehr immer prekärer lebende KünstlerInnen und WissenschaftlerInnen gegenüber, genauso wie darbende Institutionen. Die KünstlerInnen, PublizistInnen und die JungwissenschaftlerInnen bilden die Avantgarde der prekären Lebensverhältnisse, wir werden darin zum Rollenmodell für künftige Arbeitsverhältnisse. Es wird deshalb zu einer Überlebensfrage für die Künste und Wissenschaften werden, den immer kleiner werdenden Zoo, in den wir durch alle Parteien gleichermaßen gesperrt werden, zu verlassen und unsere gesellschaftliche und ökonomische Relevanz im Hinblick auf neue Lebens- und Arbeitstätigkeiten jenseits der Lohnerwerbstätigkeit zu finden, zu erfinden. Dass die Künste ihre Autonomie lange Zeit wie eine Monstranz vor sich hergetragen haben, hat sie ins Abseits des gesellschaftlichen Geschehens gedrängt. Aus dieser Randlage bewegen sich KünstlerInnen jetzt entschiedener hin auf Durchdringung der Formen und Zugänge. Wir brauchen die Erweiterung des künstlerischen Resonanzraums auch deshalb, weil wir immer mehr KünstlerInnen aller Sparten immer schlechter bezahlen können. Weil wir immer mehr ausbilden, die keine angestammten Plätze mehr vorfinden. Wir müssen uns neue Tätigkeitsfelder erschließen. Die sich durch Kunst verändernden Schulen sind dafür ein wichtiges Beispiel. Das deutsche Schulsystem ist durch die Künste nicht reformierbar, aber die Künste sind aufgerufen, zu seiner radikalen Veränderung beizutragen. Es geht nicht mehr mit Salbe! PISA hat dem Letzten offenbart, dass die deutsche Schule eine strukturell sinnen- und körperverachtende ist, die mehr mit Bismarck als mit Humboldt zu tun hat. Sie denkt hierarchisch und nicht in Zusammenhängen und Gleichgewichten, sie killt Zeit- und Rhythmusempfinden der Kids, sie trennt sie. Sie fordert den flexiblen Menschen, aber sie gibt ihnen dafür kein Rüstzeug an die Hand. Der Zeitmaßstab kommt nicht aus den Gegenständen von Forschung und Lehre, er wird in 45- Minuten-Wurstscheiben portioniert. Die 45 Minuten bilden den Maßstab der Wissensdosis. So verschwinden die Möglichkeiten, Spannungsbögen wahrzunehmen, gar sie zu erzeugen. Wie soll denn so schlecht ausgerüstet ein Leben zu bewältigen sein? Theater geht nur, wenn die, die zusammen auf, vor und hinter der Bühne stehen, miteinander kommunizieren. Das muss Schule auch können können. Wir können Schulen nicht den SchulexpertInnen überlassen. Sie, pardon, versauen das Schöpferische bei den Kids. Wir brauchen den Einzug anderer Biografien und Lebensmodelle in die Schule, wir brauchen dort den Tanz, wir brauchen Stadtraumerfahrung. Das Erkunden des Körpers und seiner Möglichkeiten im Raum sind nicht an Sprache gebunden. Wir brauchen andere Modelle, die ein Rein- und Rausgehen aus Schule ermöglichen. An andere Orte von Praxis, und von dort in Schule hinein. Zur eigenen Wahrnehmungserweiterung, zum eigenen Schutz. Enja Riegel, die ehemalige Direktorin der Helene-Lange-Schule, ist ein Vorbild, weil sie den Wurstscheibenunterricht aufgekündigt hat und gerade darüber in den PISA-Himmel gehoben wurde. Wir brauchen dringend neue Allianzen. Viele Kinder, Eltern, Lehrende, auch Schulleiter (meist Leiterinnen), Forschende wollen etwas grundsätzlich anderes; die Zunahme der Anmeldungen an Privatschulen sprechen eine deutliche Sprache. Denen sollten Sie, die DramaturgInnen, Verbündete sein. Sie haben das Rüstzeug, einem latent Möglichen eine Ausdrucksform zu geben. Machen Sie Modellprojekte, und lassen Sie diese durch Forschung begleiten. Und beeinflussen sie dadurch auch das Zusammenspiel von Theorie und Praxis. Die unterschiedlichen AkteurInnen, die es für die kollektive Anstrengung zum radikalen Umbau von Schule braucht weil alles gleichzeitig verändert werden muss , sind leicht zu benennen: Zusätzlich zu den «Dritten», also Kunst-, Sport- und Wissenschaftsprofis und anderen Berufstätigen von außerhalb der Schule, KindererzieherInnen und TheoretikerInnen, sind Menschen aus den Jugend-, Sozial-, Kultur- und Gesundheitsämtern unerlässlich. All deren Wissen, Fragen und finanzielle Möglichkeiten, die in zig Haushaltstitel aufgespalten sind, müssen füreinander durchlässig werden, um das System zu transformieren. Es braucht Verflüssigung.
3. DISKUSSION MIT BALLWECHSELN
DG
Vielen Dank für den engagierten Beitrag. Ich gebe das Wort an Herrn Zehelein.
Klaus Zehelein
Ich möchte einige Anmerkungen zu Adrienne Goehlers Statement machen. Zum Beispiel wurde die Abseitslage der Künste als ein Voraustragen der Monstranz «Autonomie» kritisiert. Ich glaube, das Problem ist ambivalent anzugehen. Ich erinnere daran, dass die Künste in den 60er und 70er Jahren ganz und gar nicht im «Abseits» standen: Vielen schien dies z.B. zu viel Politik auf dem Theater. Die Vergangenheit ist weder dadurch gekennzeichnet, dass dieses «Abseits» der Künste ein Tatbestand war, noch, dass die Abseitslage der Künste etwas Furchtbares ist. Es empfiehlt sich doch sehr, diesen vermeintlichen Tatbestand angesichts der grundsätzlichen Ökonomisierung des gesamten Denkens zu diskutieren. Diese Ökonomisierung des gesamtgesellschaftlichen Verhaltens und auch des wissenschaftlichen Denkens drängt uns in eine Ecke, wo wir Antworten geben sollen, die wir vielleicht gar nicht geben wollen, weil wir damit etwas aufgäben, was künstlerischen Prozessen immanent ist: Unabhängigkeit oder wenn Sie so wollen Autonomie gegenüber der Vorherrschaft einer Rationalität, die sich im Wesentlichen als Ökonomie des Kosten-Nutzen-Denkens begreift. Es wird uns doch gesagt, welche Aufgaben wir zu erfüllen haben, zum Beispiel in der Ganztagsschule. Jetzt sollen die Künstler an die Schulfront. Das ist verhältnismäßig einfach, kann aber auch einfach scheitern. Wenn es zum Beispiel in der Politik nicht gelingt, ein grundsätzliches Zusammengehen von Kunst und Kultusministerium zu dieser Frage herzustellen, können wir lange darüber diskutieren, wie ästhetische Erziehung auszusehen habe. Die Arbeit, die gemacht werden muss, ist erstmal eine politische Arbeit. Es ist nicht die ästhetische Arbeit, sondern eine politische Arbeit, die deutlich skizziert, auf welchem Feld ästhetische Bildung überhaupt bewegungsfähig sein kann. Zum Beispiel ist in Baden-Württemberg die Dreiviertel- Schulstunde längst kein Problem mehr; und ein Drittel des Unterrichts können die Lehrer frei definieren. Nur, wer hilft Lehrern, fachübergreifend und interdisziplinär zu agieren, d.h. diese Arbeit neu zu bestimmen? Wir bewegen uns in einem Raum, in dem viele der Initiativen, die Schule und Künstler zusammenbringen, lobenswert sind in erster Linie aber deswegen, weil sie billig sind. Konzepte zur Ganztagsschule verheißen da Schlimmes. Solange der Begriff von Arbeit für diese sich verändernde Gesellschaft ausschließlich diskutiert wird unter dem vordergründigen Kosten-Nutzen- Diktat, solange werden die Künstler in einen ihnen fremden Raum eingebunden sein.
Adrienne Goehler
Herr Zehelein, ich habe das in meinem Beitrag in den Mittelpunkt gestellt und lege in meinem Buch «Verflüssigungen » nahe, dass das Grundeinkommen die Grundvoraussetzung ist für eine Kulturgesellschaft, die mehr meint als eine Wissensgesellschaft. Der Begriff der Wissensgesellschaft muss wieder fallen gelassen werden, er ist geprägt aus der Ökonomisierung des Denkens. Wenn wir über Wissensgesellschaft sprechen, meinen wir den immer neu flexiblen Menschen, der sich die letzten Kognitionen ins Hirn meißelt. Da gibt es keinen Körper, da gibt es keine Psyche, da gibt es keinen Zusammenhang im Menschen. Und den müsstet ihr doch ein bisschen stärker machen.
DG
Die Kernfrage ist doch die nach der Rolle, die wir Dramaturgen, Theaterleute, Künstler nun spielen sollen. Herr Zehelein, Sie haben Frau Goehler mit der «Autonomie-Monstranz» zitiert, die die Kunst vor sich herträgt, und sagen, dass die Abseitslage ein Potenzial der Kunst sei, dass sie zudem bestimmte Aufgaben nicht lösen kann, denn da sei die Politik gefragt. Und wenn ich Frau Goehler richtig verstehe, drängt sie auf ein In-die-Pflicht-Nehmen der Künstler und der Wissenschaft, die die Politiker nicht alleine lassen dürfen und sollen und gestalterisch mit ihrem kreativen Potenzial mitarbeiten müssen.
Adrienne Goehler
Ich bin jetzt nicht von der Heilsarmee und sage, lasst doch diese armen Politiker nicht allein. Ich unterscheide mich durchaus von Ihnen, Herr Zehelein. Dieses «erst müssen wir für die politischen Bedingungen sorgen, damit», diese Art des Denkens ist obsolet. Da drüben ist einfach kein Partner. Wenn Sie eine Regierung vor sich sitzen haben, verteidigt da jede Person ihr Ressort mit der Maschinenpistole und sagt sofort: Das ist deine Zuständigkeit. Es gibt kein gemeinsames Denken. Es gibt kein Regierungsprogramm. Es gibt keine Verantwortung. Politik übernimmt keine Verantwortung, sondern Politik hat Zuständigkeiten. Und in diese Zuständigkeit passt in der Regel das, was uns beschäftigt, nicht hinein. Und jetzt zu sagen, da müsste erstmal ein politischer Kampf geführt werden und das hätte nichts mit Ästhetik zu tun, das glaube ich eben nicht.
Klaus Zehelein
Von Kampf habe ich nicht gesprochen.
Adrienne Goehler
Sie haben gesagt, das sei zunächst ein politischer Kampf. Und ich erlaube mir zu sagen, wie wäre es denn, wenn wir über die Ästhetik auch die Politik verändern können, weil wir ein gnadenloses Wahrnehmungsdefizit in dieser Politik haben und natürlich auch in den ökonomischen Gewordenheiten. Ich gebe Ihnen vollkommen Recht, die Chance des Theaters besteht gerade darin, dass es gegenläufig ist, das heißt doch aber nicht, dass man an dieser Monstranz festhält! Das ist doch grauenvoll, was die Häuser zum Teil bieten! Davon abgesehen, die unterscheiden sich überhaupt nicht von einer Behörde.
Klaus Zehelein
Ich will hier nicht die Zustände in der deutschen Theaterlandschaft diskutieren, will aber das aufgreifen, was Sie eingangs äußerten: Sie haben gesagt, die Schule sei nicht durch Schulexperten zu verändern, und Sie haben die Künste in die Pflicht genommen, um die Schulen neu zu gestalten. Das ist der Punkt, der uns so große Schwierigkeiten macht: Die Künste werden die Schule nicht neu definieren können, dazu fehlt ihnen das Vermögen, die Kompetenz, die pädagogische Fantasie.
Adrienne Goehler
Die brauchen keine Pädagogik, die sind durchpädagogisiert bis obenhin. Die brauchen eure Leidenschaft, die brauchen andere Menschen!
Klaus Zehelein
Wir kennen doch jene Schulen, die den Aufbruch begonnen haben. Sie haben die Helene-Lange-Schule in Wiesbaden erwähnt, erwähnenswert wäre neben anderen Modellen die Bodensee-Schule; es ist doch eine gesellschaftliche Wirklichkeit, dass die Leute einfach nur hinsehen müssten, um darauf zu reagieren. Ich denke, das ist eine Frage der Sensibilisierung, und dafür sind wir vielleicht sogar zuständig.
DG
Das Theater kann also eine Wahrnehmung schärfen, es kann eine Öffentlichkeit herstellen und den Fokus lenken. Und wenn ich die gestrigen Beiträge des FPD-Abgeordneten Hans Joachim Otto und Ulrich Khuon zusammenfasse, dann ist das Ergebnis eine schlechte Nachricht: Das Theater und die Kulturbetriebe bekommen nach und nach immer mehr Aufgaben zugewiesen, nämlich nicht nur den Spielplan zu füllen, sondern auch noch die Vermittlungsaufgaben zu leisten. Und neu, durch Herrn Otto formuliert, auch die Legitimation für diese Vermittlung in die Gesellschaft zu leisten plus die Argumente für die Politik, warum das relevant ist. Die einzig gute Nachricht ist, dass man den Künstlern und Theatern wunderbarerweise zutraut, das alles zu leisten. Herr Zehelein, Sie bereiten in der Münchner Theaterakademie jetzt die Studierenden auf ihre berufliche Zukunft an den Bühnen vor. Wie führen Sie dort die Diskussion, wenn Sie sagen, wir müssen erst eine politische Arbeit leisten und dann zur ästhetischen Arbeit übergehen?
Klaus Zehelein
Ich habe gesagt, wir können die Politik nicht aus der Politik entlassen. Das ist lang genug geschehen. Natürlich arbeiten wir in einem gesellschaftspolitischen Raum, aber es wäre angesichts dessen, dass die Politik sich selbst entpolitisiert hat und die Ökonomie das Feld beherrscht, vermessen zu glauben, wir würden über die ästhetische Arbeit etwas Grundsätzliches verändern. Die Vermittlung ästhetischer Bildung zielt doch auf die direkte Auseinandersetzung mit Kunst in der Befähigung, sein Leben auch anders wahrzunehmen als nur in Abhängigkeiten. Hegel sagt, die Arbeit der Vermittlung sei das Unmittelbare. Das heißt doch, Vermittlungsarbeit zielt auf die Totale in einem utopischen Raum. Unsere Arbeit an der Vermittlung ästhetischer Erfahrungen sollte von der Vorsicht geleitet sein, unmittelbare Wirkung anzustreben. Künstlerische Arbeit setzt den Menschen vielleicht in ein anderes Verhältnis zu seinem Körper, seinen Sinnen und ermöglicht damit als Prozess der Sensibilisierung eine verändernde Wahrnehmung seines, unseres Lebenszusammenhangs.
Manfred Beilharz
Ich habe festgestellt, dass in den zwei verschiedenen Positionen diejenige von Frau Goehler die optimistische ist: Traut euch, und es wird Wirkung haben. Und die von Herrn Zehelein ist die pragmatische: Lasst uns nicht unsere Möglichkeit überschätzen. Natürlich ist unsere Position als Theater und als Dramaturgische Gesellschaft, die gerade das Interesse auf die Frage lenkt, was können wir denn aus eigenem Engagement leisten, nicht als Legitimation zu sehen, um den Ausbildungsdefiziten in der ästhetischen Bildung und Sensibilisierung unter die Arme zu greifen. Es ist sicher richtig, dass wir nicht alles schaffen können, wenn da nicht die entscheidenden Hilfen von anderer Seite kommen. Die wir aber einfordern müssen, sonst wird uns das nicht gelingen. Es gibt ja Beispiele, wie es funktionieren könnte. Die Helene-Lange-Schule ist keine Schule, die sich zum Ziel gesetzt hat, Künstler heranzubilden, die sich aber den angeblichen Luxus leistet, dass jede neunte Klasse drei Monate lang nur Theater spielt. Die Bestätigung durch PISA stellt dar, dass sie im schulischen Vergleich nicht schlechter abschneiden. Was wir auf jeden Fall leisten können, ist, darauf hinzuweisen und zu fordern, dass das nicht kleine erratische Einzelbeispiele sind, dass man das als Modellbeispiel weiter überdenkt und fordert, dass das ein allgemeines Denken wird.
DG
Wie kommt es dazu? Warum gibt es diese Helene-Lange-Schule? Ist das die Initiative einer einzelnen Person?
Manfred Beilharz
Ganz einfach: Es ist zunächst die Initiative einer Schulleiterin gewesen, ihre Schule umzustrukturieren. Die Schule ist UNESCO-Schule geworden.
DG
Und wie lässt sich das verallgemeinern?
Adrienne Goehler
Möglicherweise ist Verallgemeinern genau falsch. Die Politik sucht immer Großflächen und Ewigkeitslösungen. Sie scheitern alle, beziehungsweise enden im kleinsten gemeinsamen Nenner. Aber euer Vermögen ist doch, auf ganz andere Modelle zu setzen und die als Modelle nach vorne zu bringen. Und da liegen die Allianzen eigentlich auf der Straße herum. Sie müssen nur gebündelt werden. Es ist nun mal so, dass wir keine Gesellschaft mehr haben wie noch in den 70er Jahren, wo es tatsächlich eine Bürgerbeteiligung gab. Das muss erst wieder neu entwickelt werden.
DG
Eine Qualität von Theater ist es, Öffentlichkeit herstellen zu können. Bislang werden nur die Projekte öffentlich wahrgenommen, über die die vierte Macht im Staat, die Medien, berichten. Diese Projekte finden gewissermaßen medial überhöht statt, und Ulrich Khuon hat darauf hingewiesen, dass es seit 30 Jahren derartige Projekte gibt, über die aber öffentlich nicht so dezidiert gesprochen wurde. Und dann glaubt die Politik, dass es das auch nicht gibt. Die Bevölkerung kennt den nicht zu kleinen Teppich von Projekten aber sehr wohl. Also lautet die Frage: Wie stellt man außerhalb von Theatern diese Öffentlichkeit her? Denn nur, was öffentlich ist, das wird wahrnehmbar.
Klaus Zehelein
Natürlich müssen wir nach neuen Darstellungsformen für unsere Arbeit mit Kindern und Jugendlichen suchen (wie diese Tagung der Dramaturgischen Gesellschaft), aber den vielleicht wirkungsvollsten Weg sollten wir meiden, nämlich leichtfertig denen zuzusprechen, die meinen, dass unsere Arbeit grundlegende Defizite der Gesellschaft auszugleichen vermag. Ich warne davor, einfach zu akzeptieren, was uns überantwortet wird. Ich warne davor, zu glauben, die Schule verändern zu können über das, was ästhetische Bildung heißt. Wir werden die Schule nicht über die Ästhetik verändern. Wir werden die Schule vielleicht über einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs zum Nachdenken bringen, zu dem auch die Theater aufgerufen sind.
Adrienne Goehler
Absolute Gegenrede: Nur über die Ästhetik! Wir haben längst den Punkt überschritten, wo wir nur über die 2 bis 4 Prozent Kulturaffinen sprechen. Sondern wir reden darüber, dass der Rohstoff des 21. Jahrhunderts die Kreativität ist, weshalb wir uns mit der Kreativität möglicherweise eher nach unseren Kriterien als nach den Verwertbarkeitsvorstellungen der Politik und der Ökonomie auseinandersetzen sollten. Die Kids wollen sich mit etwas, das sich bewegt, auseinandersetzen, das einen Atem kennt, das nicht einen Schuljahranfang und ein Schuljahrende hat, das Zyklen hat, im Grunde genommen ein dramaturgisches, ein dramatisches Schema, das Auf-und-Ab kennt; dieses Bedürfnis ist so fundamental, und das ist euer Metier. Natürlich müsst ihr Schule verändern. Da gebe ich Herrn Zehelein recht, es kann nicht sein, dass wir jetzt auf diese Kognitionsschraube was Schönes draufschmieren, sondern wir müssen radikal anders denken in Schulen. Und dazu seid ihr tatsächlich aufgefordert.
Das Gespräch führten unsere Korrespondentin Birgit Lengers und Uwe Gössel
(Erstabdruck in Theater Heute 03/07, S. 5-9)
Vielen Dank für den engagierten Beitrag. Ich gebe das Wort an Herrn Zehelein.
Klaus Zehelein
Ich möchte einige Anmerkungen zu Adrienne Goehlers Statement machen. Zum Beispiel wurde die Abseitslage der Künste als ein Voraustragen der Monstranz «Autonomie» kritisiert. Ich glaube, das Problem ist ambivalent anzugehen. Ich erinnere daran, dass die Künste in den 60er und 70er Jahren ganz und gar nicht im «Abseits» standen: Vielen schien dies z.B. zu viel Politik auf dem Theater. Die Vergangenheit ist weder dadurch gekennzeichnet, dass dieses «Abseits» der Künste ein Tatbestand war, noch, dass die Abseitslage der Künste etwas Furchtbares ist. Es empfiehlt sich doch sehr, diesen vermeintlichen Tatbestand angesichts der grundsätzlichen Ökonomisierung des gesamten Denkens zu diskutieren. Diese Ökonomisierung des gesamtgesellschaftlichen Verhaltens und auch des wissenschaftlichen Denkens drängt uns in eine Ecke, wo wir Antworten geben sollen, die wir vielleicht gar nicht geben wollen, weil wir damit etwas aufgäben, was künstlerischen Prozessen immanent ist: Unabhängigkeit oder wenn Sie so wollen Autonomie gegenüber der Vorherrschaft einer Rationalität, die sich im Wesentlichen als Ökonomie des Kosten-Nutzen-Denkens begreift. Es wird uns doch gesagt, welche Aufgaben wir zu erfüllen haben, zum Beispiel in der Ganztagsschule. Jetzt sollen die Künstler an die Schulfront. Das ist verhältnismäßig einfach, kann aber auch einfach scheitern. Wenn es zum Beispiel in der Politik nicht gelingt, ein grundsätzliches Zusammengehen von Kunst und Kultusministerium zu dieser Frage herzustellen, können wir lange darüber diskutieren, wie ästhetische Erziehung auszusehen habe. Die Arbeit, die gemacht werden muss, ist erstmal eine politische Arbeit. Es ist nicht die ästhetische Arbeit, sondern eine politische Arbeit, die deutlich skizziert, auf welchem Feld ästhetische Bildung überhaupt bewegungsfähig sein kann. Zum Beispiel ist in Baden-Württemberg die Dreiviertel- Schulstunde längst kein Problem mehr; und ein Drittel des Unterrichts können die Lehrer frei definieren. Nur, wer hilft Lehrern, fachübergreifend und interdisziplinär zu agieren, d.h. diese Arbeit neu zu bestimmen? Wir bewegen uns in einem Raum, in dem viele der Initiativen, die Schule und Künstler zusammenbringen, lobenswert sind in erster Linie aber deswegen, weil sie billig sind. Konzepte zur Ganztagsschule verheißen da Schlimmes. Solange der Begriff von Arbeit für diese sich verändernde Gesellschaft ausschließlich diskutiert wird unter dem vordergründigen Kosten-Nutzen- Diktat, solange werden die Künstler in einen ihnen fremden Raum eingebunden sein.
Adrienne Goehler
Herr Zehelein, ich habe das in meinem Beitrag in den Mittelpunkt gestellt und lege in meinem Buch «Verflüssigungen » nahe, dass das Grundeinkommen die Grundvoraussetzung ist für eine Kulturgesellschaft, die mehr meint als eine Wissensgesellschaft. Der Begriff der Wissensgesellschaft muss wieder fallen gelassen werden, er ist geprägt aus der Ökonomisierung des Denkens. Wenn wir über Wissensgesellschaft sprechen, meinen wir den immer neu flexiblen Menschen, der sich die letzten Kognitionen ins Hirn meißelt. Da gibt es keinen Körper, da gibt es keine Psyche, da gibt es keinen Zusammenhang im Menschen. Und den müsstet ihr doch ein bisschen stärker machen.
DG
Die Kernfrage ist doch die nach der Rolle, die wir Dramaturgen, Theaterleute, Künstler nun spielen sollen. Herr Zehelein, Sie haben Frau Goehler mit der «Autonomie-Monstranz» zitiert, die die Kunst vor sich herträgt, und sagen, dass die Abseitslage ein Potenzial der Kunst sei, dass sie zudem bestimmte Aufgaben nicht lösen kann, denn da sei die Politik gefragt. Und wenn ich Frau Goehler richtig verstehe, drängt sie auf ein In-die-Pflicht-Nehmen der Künstler und der Wissenschaft, die die Politiker nicht alleine lassen dürfen und sollen und gestalterisch mit ihrem kreativen Potenzial mitarbeiten müssen.
Adrienne Goehler
Ich bin jetzt nicht von der Heilsarmee und sage, lasst doch diese armen Politiker nicht allein. Ich unterscheide mich durchaus von Ihnen, Herr Zehelein. Dieses «erst müssen wir für die politischen Bedingungen sorgen, damit», diese Art des Denkens ist obsolet. Da drüben ist einfach kein Partner. Wenn Sie eine Regierung vor sich sitzen haben, verteidigt da jede Person ihr Ressort mit der Maschinenpistole und sagt sofort: Das ist deine Zuständigkeit. Es gibt kein gemeinsames Denken. Es gibt kein Regierungsprogramm. Es gibt keine Verantwortung. Politik übernimmt keine Verantwortung, sondern Politik hat Zuständigkeiten. Und in diese Zuständigkeit passt in der Regel das, was uns beschäftigt, nicht hinein. Und jetzt zu sagen, da müsste erstmal ein politischer Kampf geführt werden und das hätte nichts mit Ästhetik zu tun, das glaube ich eben nicht.
Klaus Zehelein
Von Kampf habe ich nicht gesprochen.
Adrienne Goehler
Sie haben gesagt, das sei zunächst ein politischer Kampf. Und ich erlaube mir zu sagen, wie wäre es denn, wenn wir über die Ästhetik auch die Politik verändern können, weil wir ein gnadenloses Wahrnehmungsdefizit in dieser Politik haben und natürlich auch in den ökonomischen Gewordenheiten. Ich gebe Ihnen vollkommen Recht, die Chance des Theaters besteht gerade darin, dass es gegenläufig ist, das heißt doch aber nicht, dass man an dieser Monstranz festhält! Das ist doch grauenvoll, was die Häuser zum Teil bieten! Davon abgesehen, die unterscheiden sich überhaupt nicht von einer Behörde.
Klaus Zehelein
Ich will hier nicht die Zustände in der deutschen Theaterlandschaft diskutieren, will aber das aufgreifen, was Sie eingangs äußerten: Sie haben gesagt, die Schule sei nicht durch Schulexperten zu verändern, und Sie haben die Künste in die Pflicht genommen, um die Schulen neu zu gestalten. Das ist der Punkt, der uns so große Schwierigkeiten macht: Die Künste werden die Schule nicht neu definieren können, dazu fehlt ihnen das Vermögen, die Kompetenz, die pädagogische Fantasie.
Adrienne Goehler
Die brauchen keine Pädagogik, die sind durchpädagogisiert bis obenhin. Die brauchen eure Leidenschaft, die brauchen andere Menschen!
Klaus Zehelein
Wir kennen doch jene Schulen, die den Aufbruch begonnen haben. Sie haben die Helene-Lange-Schule in Wiesbaden erwähnt, erwähnenswert wäre neben anderen Modellen die Bodensee-Schule; es ist doch eine gesellschaftliche Wirklichkeit, dass die Leute einfach nur hinsehen müssten, um darauf zu reagieren. Ich denke, das ist eine Frage der Sensibilisierung, und dafür sind wir vielleicht sogar zuständig.
DG
Das Theater kann also eine Wahrnehmung schärfen, es kann eine Öffentlichkeit herstellen und den Fokus lenken. Und wenn ich die gestrigen Beiträge des FPD-Abgeordneten Hans Joachim Otto und Ulrich Khuon zusammenfasse, dann ist das Ergebnis eine schlechte Nachricht: Das Theater und die Kulturbetriebe bekommen nach und nach immer mehr Aufgaben zugewiesen, nämlich nicht nur den Spielplan zu füllen, sondern auch noch die Vermittlungsaufgaben zu leisten. Und neu, durch Herrn Otto formuliert, auch die Legitimation für diese Vermittlung in die Gesellschaft zu leisten plus die Argumente für die Politik, warum das relevant ist. Die einzig gute Nachricht ist, dass man den Künstlern und Theatern wunderbarerweise zutraut, das alles zu leisten. Herr Zehelein, Sie bereiten in der Münchner Theaterakademie jetzt die Studierenden auf ihre berufliche Zukunft an den Bühnen vor. Wie führen Sie dort die Diskussion, wenn Sie sagen, wir müssen erst eine politische Arbeit leisten und dann zur ästhetischen Arbeit übergehen?
Klaus Zehelein
Ich habe gesagt, wir können die Politik nicht aus der Politik entlassen. Das ist lang genug geschehen. Natürlich arbeiten wir in einem gesellschaftspolitischen Raum, aber es wäre angesichts dessen, dass die Politik sich selbst entpolitisiert hat und die Ökonomie das Feld beherrscht, vermessen zu glauben, wir würden über die ästhetische Arbeit etwas Grundsätzliches verändern. Die Vermittlung ästhetischer Bildung zielt doch auf die direkte Auseinandersetzung mit Kunst in der Befähigung, sein Leben auch anders wahrzunehmen als nur in Abhängigkeiten. Hegel sagt, die Arbeit der Vermittlung sei das Unmittelbare. Das heißt doch, Vermittlungsarbeit zielt auf die Totale in einem utopischen Raum. Unsere Arbeit an der Vermittlung ästhetischer Erfahrungen sollte von der Vorsicht geleitet sein, unmittelbare Wirkung anzustreben. Künstlerische Arbeit setzt den Menschen vielleicht in ein anderes Verhältnis zu seinem Körper, seinen Sinnen und ermöglicht damit als Prozess der Sensibilisierung eine verändernde Wahrnehmung seines, unseres Lebenszusammenhangs.
Manfred Beilharz
Ich habe festgestellt, dass in den zwei verschiedenen Positionen diejenige von Frau Goehler die optimistische ist: Traut euch, und es wird Wirkung haben. Und die von Herrn Zehelein ist die pragmatische: Lasst uns nicht unsere Möglichkeit überschätzen. Natürlich ist unsere Position als Theater und als Dramaturgische Gesellschaft, die gerade das Interesse auf die Frage lenkt, was können wir denn aus eigenem Engagement leisten, nicht als Legitimation zu sehen, um den Ausbildungsdefiziten in der ästhetischen Bildung und Sensibilisierung unter die Arme zu greifen. Es ist sicher richtig, dass wir nicht alles schaffen können, wenn da nicht die entscheidenden Hilfen von anderer Seite kommen. Die wir aber einfordern müssen, sonst wird uns das nicht gelingen. Es gibt ja Beispiele, wie es funktionieren könnte. Die Helene-Lange-Schule ist keine Schule, die sich zum Ziel gesetzt hat, Künstler heranzubilden, die sich aber den angeblichen Luxus leistet, dass jede neunte Klasse drei Monate lang nur Theater spielt. Die Bestätigung durch PISA stellt dar, dass sie im schulischen Vergleich nicht schlechter abschneiden. Was wir auf jeden Fall leisten können, ist, darauf hinzuweisen und zu fordern, dass das nicht kleine erratische Einzelbeispiele sind, dass man das als Modellbeispiel weiter überdenkt und fordert, dass das ein allgemeines Denken wird.
DG
Wie kommt es dazu? Warum gibt es diese Helene-Lange-Schule? Ist das die Initiative einer einzelnen Person?
Manfred Beilharz
Ganz einfach: Es ist zunächst die Initiative einer Schulleiterin gewesen, ihre Schule umzustrukturieren. Die Schule ist UNESCO-Schule geworden.
DG
Und wie lässt sich das verallgemeinern?
Adrienne Goehler
Möglicherweise ist Verallgemeinern genau falsch. Die Politik sucht immer Großflächen und Ewigkeitslösungen. Sie scheitern alle, beziehungsweise enden im kleinsten gemeinsamen Nenner. Aber euer Vermögen ist doch, auf ganz andere Modelle zu setzen und die als Modelle nach vorne zu bringen. Und da liegen die Allianzen eigentlich auf der Straße herum. Sie müssen nur gebündelt werden. Es ist nun mal so, dass wir keine Gesellschaft mehr haben wie noch in den 70er Jahren, wo es tatsächlich eine Bürgerbeteiligung gab. Das muss erst wieder neu entwickelt werden.
DG
Eine Qualität von Theater ist es, Öffentlichkeit herstellen zu können. Bislang werden nur die Projekte öffentlich wahrgenommen, über die die vierte Macht im Staat, die Medien, berichten. Diese Projekte finden gewissermaßen medial überhöht statt, und Ulrich Khuon hat darauf hingewiesen, dass es seit 30 Jahren derartige Projekte gibt, über die aber öffentlich nicht so dezidiert gesprochen wurde. Und dann glaubt die Politik, dass es das auch nicht gibt. Die Bevölkerung kennt den nicht zu kleinen Teppich von Projekten aber sehr wohl. Also lautet die Frage: Wie stellt man außerhalb von Theatern diese Öffentlichkeit her? Denn nur, was öffentlich ist, das wird wahrnehmbar.
Klaus Zehelein
Natürlich müssen wir nach neuen Darstellungsformen für unsere Arbeit mit Kindern und Jugendlichen suchen (wie diese Tagung der Dramaturgischen Gesellschaft), aber den vielleicht wirkungsvollsten Weg sollten wir meiden, nämlich leichtfertig denen zuzusprechen, die meinen, dass unsere Arbeit grundlegende Defizite der Gesellschaft auszugleichen vermag. Ich warne davor, einfach zu akzeptieren, was uns überantwortet wird. Ich warne davor, zu glauben, die Schule verändern zu können über das, was ästhetische Bildung heißt. Wir werden die Schule nicht über die Ästhetik verändern. Wir werden die Schule vielleicht über einen gesamtgesellschaftlichen Diskurs zum Nachdenken bringen, zu dem auch die Theater aufgerufen sind.
Adrienne Goehler
Absolute Gegenrede: Nur über die Ästhetik! Wir haben längst den Punkt überschritten, wo wir nur über die 2 bis 4 Prozent Kulturaffinen sprechen. Sondern wir reden darüber, dass der Rohstoff des 21. Jahrhunderts die Kreativität ist, weshalb wir uns mit der Kreativität möglicherweise eher nach unseren Kriterien als nach den Verwertbarkeitsvorstellungen der Politik und der Ökonomie auseinandersetzen sollten. Die Kids wollen sich mit etwas, das sich bewegt, auseinandersetzen, das einen Atem kennt, das nicht einen Schuljahranfang und ein Schuljahrende hat, das Zyklen hat, im Grunde genommen ein dramaturgisches, ein dramatisches Schema, das Auf-und-Ab kennt; dieses Bedürfnis ist so fundamental, und das ist euer Metier. Natürlich müsst ihr Schule verändern. Da gebe ich Herrn Zehelein recht, es kann nicht sein, dass wir jetzt auf diese Kognitionsschraube was Schönes draufschmieren, sondern wir müssen radikal anders denken in Schulen. Und dazu seid ihr tatsächlich aufgefordert.
Das Gespräch führten unsere Korrespondentin Birgit Lengers und Uwe Gössel
(Erstabdruck in Theater Heute 03/07, S. 5-9)
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