08.05.2020

Themenreihe Digitale Formate

Autor*in

Michael Sommer
begann seine Theaterlaufbahn in Berlin und arbeitete ab 2003 elf Jahre lang am Ulmer Theater. 2015 begann er mit dem YouTube-Kanal "Sommers Weltliteratur to go" und stellt seitdem wöchentlich ein Werk der Weltliteratur in zehn Minuten vor, dargestellt durch sein ziemlich großes Playmobil-Ensemble. Hierfür erhielt er 2018 einen Grimme Online Award. 
Veronika Schuster
ist ausgebildete Kunsthistorikerin und Kulturmanagerin. Sie hat mehr als 10 Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Co-Kuratorin für verschiedene Ausstellungsprojekte und Kultureinrichtungen gearbeitet. Sie verantwortet bei Kultur Management Network die Leitfäden und Arbeitshilfen und arbeitet als Lektorin und Projektleiterin für unterschiedliche Publikationsformate.
Streaming in den Darstellenden Künsten

Vernetzt zu neuen künstlerischen Wegen

Streaming, so sollte man meinen, scheint ein Geschenk für die Bühnen zu sein, sind damit doch ganz andere Möglichkeiten hin zu neuen Zielgruppen entstanden. Doch damit das zu Experimenten inspiriert, braucht es eine neue mediale Denkweise.

Themenreihe Digitale Formate

KMN: Lieber Herr Sommer, warum hätte Streaming für Theater längst ein Thema sein sollen?
 
Michael Sommer: Wir befinden uns in einer Zeit des medialen Umbruchs, der so stark ist wie seit Langem nicht. Zugleich hat das Theater nach wie vor einen hohen Reiz. Aber um junge Menschen zu erreichen, müssen Theater lernen, endlich die geeigneten Kanäle zu benutzen. Denn man darf nicht ignorieren, dass junge Menschen eine völlig andere Mediennutzung haben. Sie schalten nicht einmal mehr den Fernseher ein, von der Lektüre einer gedruckten Zeitung oder dem Feuilleton ganz zu schweigen. Das heißt nicht, dass sie sich nicht informieren, aber über die altbewährten Medien kommt man nicht an sie heran. Theater sollten, um über ihre Arbeit kommunizieren zu können, also weitere sendende Kanäle wie ein Streaming nutzen. Dabei geht es keineswegs darum, das Liveerlebnis zu ersetzen, sondern um eine neue Art der Kommunikation. 
 
KMN: Mit welchen Bedenken waren Sie bei Ihrem Streaming-Angebot am Theater Ulm konfrontiert? Und wie haben Sie Lösungen gefunden? 
 
MS: Das Standardargument war, dass die Menschen, wenn sie die Aufführungen gratis von zuhause schauen können, nicht mehr ins Theater kommen würden. Das ist natürlich Unsinn. Konzerte etwa werden seit Jahrzehnten live oder in Konserve übertragen und es hat nicht dazu geführt, dass die Besucherzahlen schrumpfen - im Gegenteil. Konzerte werden mehr denn je besucht, denn eine Übertragung ersetzt das Liveerlebnis eben nicht. Menschen haben ein Bedürfnis danach, live und gemeinsam Kultur zu erleben. Und auch das Streaming-Angebot in Ulm hatte keine reduzierte Besucherzahl zur Folge. Der Stream war in diesem Fall ein neuer Kanal für die Öffentlichkeitsarbeit. Die viel größere und sicher berechtigte Skepsis war und ist die Frage nach der rechtlichen Grundlage, um Theaterstücke zu streamen - insbesondere mit Blick auf die Rechte der Darsteller*innen und Musiker*innen. Hier haben wir eine sehr pragmatische Lösung gefunden: Da der Stream vor allem für die Öffentlichkeitsarbeit eingesetzt wurde, waren die Künstler*innen per Vertrag verpflichtet, bei "Veranstaltungen der Öffentlichkeitsarbeit" mitzuwirken. Es hört sich nach Zwang an, aber ich denke das Bewusstsein dafür, dass Theater neue Wege gehen muss, herrscht durchaus vor. 
 
KMN: Livestream ist eine Möglichkeit die Zugänge für längst aufgegebene Zielgruppen zu öffnen. Ist es so leicht? 
 
MS: Nein, natürlich reicht das nicht. Es kann nur ein Bestandteil eines ganzen Bündels an Maßnahmen sein. Ein Beispiel: Ich bin aus beruflichen Gründen sehr intensiv auf YouTube unterwegs und das ist eine Plattform, die gerade von jungen Menschen viel frequentiert wird. Aber was mir dort in der Regel von Theatern begegnet, ist ausgesprochen langweilig und spricht keinen jungen Menschen an. Warum das so ist? Gut gemachte Trailer und Clips kosten schlicht viel Geld und noch mehr Ressourcen. Ein Live-Stream ist zwar vergänglich, aber ergänzt kostengünstig die Möglichkeiten der Öffentlichkeitsarbeit. Natürlich findet man von großen, finanzkräftigen Institutionen sehr souveräne Arbeit, aber gerade die kleineren und mittleren Theater könnten mit einem Stream durchaus etwas erreichen, ohne viel Geld investieren zu müssen. 
 
KMN: Eine Plattform wie YouTube ist sicher eine große Möglichkeit - gerade für Theater. Was müsste passieren, welche Dramaturgie müsste es für Kanäle wie YouTube geben, um was erreichen zu können?
 
MS: Ich habe nun mehr aus Sicht der Öffentlichkeitsarbeit gesprochen und hier kann das Netz sehr viel mehr möglich machen, wenn man sein Potenzial nutzt. Aber tatsächlich sollte das Theater offener sein, um mit neuen medialen Formaten künstlerisch und auf der Bühne zu experimentieren. Es geht um neue Erzählweisen, die man finden muss. So kann sich das, was im Theater passiert, auch im Netz niederschlagen. In Ulm sind wir schon erste Wege hin zu vernetzten Projekten gegangen. Nach meinem Wechsel nach München konnte ich dann ein großes vernetztes Projekt mit einer Gruppe in England und in Griechenland realisieren. Wir haben zusammen ein Theaterstück entwickelt, dass über Skype verbunden war und bei dem man sich den neuen Kommunikationsmöglichkeiten durch das Internet bedienen konnte. So könnten sich stark lokal verwurzelte Theater über die Grenzen hinaus vernetzen und vielfältig austauschen, interagieren, sich entwickeln. Solche vernetzt gedachten Produkte lassen sich zudem ganz anders kommunizieren und zugänglich machen, da sie sich in die mediale Welt von heute viel besser einpassen lassen. Das ist natürlich nicht etwas, das ein Theater ausschließlich tun sollte. Aber Theater kommen nicht darum herum, neue Produkte zu entwickeln, die einem vernetzten künstlerischen Denken und Handeln entgegenkommen. 
 
KMN: Aber warum fehlt es an diesem Engagement, sind Theater noch zu sehr auf die Bühnen fixiert?
 
MS: Es hat vielleicht mit einer guten Portion Konservatismus zu tun und die sichere Bank steht hier im Fokus, man will nicht noch mehr Besucher*innen verlieren, als es ohnehin schon der Fall ist. Zudem ist es eine Generationsfrage. Und es gehört Experimentierfreude dazu und die Bereitschaft, sich auf ein sehr ungewisses Terrain zu begeben. Das Theater hat zwar den großen Vorteil, dass es zunächst völlig unabhängig von Technik agieren kann. Es konzentriert sich auf das menschliche Handwerk. Audiovisuelle Medien dagegen benötigen ein ganz anderes technisches Wissen, einen anderen künstlerischen Zugang und sehr viel Erfahrung. Sich auf ein völlig neues Medium einzulassen und dann auch noch damit zu experimentieren, ist nicht so einfach. So eine Annäherung hat auch immer viel mit scheitern zu tun. Aber es wird letzten Endes die Mischung sowohl aus bekannten als auch neuen künstlerischen Zugängen ausmachen. 
 
KMN: Ist es auch ein wenig die Angst, dass man in einem vernetzten Agieren sich auch viel mehr kritisieren lassen muss? Denn das findet ja online sehr offensiv statt.
 
MS: Das glaube ich weniger. Es ist eher der Umgang mit der Kunst selbst. In vielen Bereichen der freien Szene hat man sich schon weit vom Werkcharakter von Theaterstücken wegentwickelt. In institutionellen Einrichtungen dagegen herrscht eher ein klassischer Umgang mit diesen vor. Und wenn man hier, in einem Stadttheater, ein*e junge*r aufstrebende*r Künstler*in ist, möchte man vorrangig seine Kunst machen und etwas zum Genießen und Bewundern für die Besucher*innen produzieren. Es ist sehr viel weniger ein spielerischer, experimenteller, diskursiver Prozess, der angestrebt wird. Ich bin der Überzeugung, es muss beides möglich sein. Aber es ist eine Frage der Zeit, und eines Generationenwechsels beim Publikum und den Theaterschaffenden. Junge Künstler*innen im Netz zeigen bereits, wie avantgardistisch man mit diesen Medien umgehen kann. 
 
KMN: Was könnte aber ein Streaming-Angebot noch sein? Kann es mehr sein, als "nur" die Aufführungen selbst zugänglich zu machen? Muss es eigene Aufführungen geben, die dafür konzeptioniert werden?
 
MS: Das gibt es bereits, es heißt nur nicht Theater. Es macht das Theater aus, dass Menschen zusammenkommen, um gemeinsam Kunst zu erleben. Und man kann dort immer noch unendlich viele Entdeckungen machen. Doch das Netz bietet die einmalige Möglichkeit, so leicht wie nie zu vielen unterschiedlichen Menschen weltweit Kontakt aufzunehmen. Die Stärke von Theatern, die lokal stark verwurzelt sind, ist es, dass sie die Bedürfnisse der Menschen vor Ort aufnehmen können. Und es ist ungemein spannend, nun zwischen diesen beiden Polen "lokal" und "global" die Schnittmengen zu finden. Hier neue Formate explizit für das Netz zu konzipieren, liegt natürlich nahe und wird verstärkt eine Rolle spielen. Dafür spricht alleine schon der finanzielle und organisatorische Aspekt, der vieles sehr viel leichter macht. 
 
KMN: Aber wird das auch die jungen Menschen, die noch keinen Bezug bekommen haben, ins Theater locken? Wird das Netz es diese Brücke schlagen können? 
 
MS: Da bin ich zuversichtlich: Wir erleben im Augenblick eine unerhörte Jugendbewegung. Die Fridays for Future-Bewegung speist sich aus einem eigentlich sehr abstrakten Anliegen - Klimawandel ist ja nicht wirklich fassbar. Aber sie kommen zu den Demonstrationen zusammen, der Protest ist sinnlich und lustvoll und doch in diesem Moment entfremdet von der Lebenswirklichkeit der jungen Menschen. Natürlich existiert auch diese große Lust am Tabubruch - wie etwa dafür die Schule zu schwänzen. Aber dass sich junge Leute für etwas derart begeistern und sich gemeinsam sinnvoll und sinnstiftend engagieren, ist doch ungemein ermutigend. Es zeigt auch, dass wir es bei der jungen Generation keineswegs ausschließlich mit "Smartphone-Zombies" zu tun haben. Wenn junge Leute so engagiert und voller Energie zusammen kommen, um etwas zu bewegen, dann gibt es allen Grund zu hoffen, dass die Spielform Theater noch lange existieren wird. 
 
Dieses Interview erschien zuerst im Kultur Management Network Magazin "Video killed the Radio Star"

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