30.01.2010

Themenreihe Besucherforschung

Autor*in

Martina Märki
Diana Betzler
forscht und unterrichtet an verschiedenen Hochschulen und Universitäten in den Bereichen Kulturmanagement, Kulturpolitik und Philanthropie. Regelmäßig ist sie als Gutachterin und Evaluatorin von kulturellen Programmen und Kulturpolitiken tätig. 
Besucherforschung

Theater mit den Neuen Alten

Der Konsumenten-Markt hat sie längst entdeckt, ebenso die Musikbranche und Hollywood. Nur den Theatermachern sind sie noch wenig bewusst: die Neuen Alten. Obwohl die älteren Menschen die grösste Besuchergruppe darstellen, gehen die Theater wenig bewusst auf diese ein. Welche Potenziale und Präferenzen haben die Neuen Alten, welche Chancen bietet sich den Theatern und welche Ansätze gibt es bereits?

Themenreihe Besucherforschung

Bis weit in die 90er Jahre des vorigen Jahrhunderts hinein war das Alter ein ungeliebtes und eher unattraktives Thema. Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur also auch die Theater - orientierten sich seit Aufkommen der Jugendkultur in den Sechzigerjahren an der Jugend. Entsprechend gering war das Interesse am älteren Menschen. Dies änderte sich in den letzten Jahren. Eine bisher wenig beachtete gesellschaftliche Gruppe betrat in Gestalt der Neuen Alten die Bühne der Werbung und der öffentlichen Debatte. Worauf sich viele Marktbranchen längst eingestellt haben; die Neuen Alten, sind in der Kulturpraxis noch wenig präsent. Insbesondere im Theater klafft hier eine Lücke; man interessierte sich in den letzten Theatern vor allem für den Bereich Kinder- und Jugendtheater. Obwohl ältere Menschen die grösste Besuchergruppe darstellen, gehen die Theater wenig auf diese ein. Das ist schade, nicht nur aus Marktgründen. Das Theater verpasst hier eine gesellschaftliche Entwicklung, die ähnlich weitreichende Folgen haben könnte wie die Jugendbewegung der 60er Jahre. Denn es sind die von ihr geprägten Generationen, die jetzt um das Bild eines neuen Alters ringen.

Potenzial und Präferenzen
Dass die Alterung der Gesellschaft und damit auch des Kulturpublikums Realität ist, belegt ein kurzer Blick in die Statistiken. So waren um 1990 bereits 19,2% der Schweizerinnen und Schweizer 60 und mehr Jahre alt. Für die Zukunft prognostizieren die Demographen aufgrund von Projektionen des Bundesamts für Statistik einen Anstieg der 60jährigen und Älteren in der Gesellschaft auf 26,8% im Jahr 2020. Im Jahr 2050 wäre mehr als ein Drittel der Schweizer Bevölkerung 60 und mehr Jahre alt. Diese Trends sind in allen Ländern Europas ähnlich.

In Bezug auf die kulturellen Aktivitäten ist das Profil der Alten zwiespältig. In vielen Studien, so auch in den Schweizer Studien zum Freizeitverhalten älterer Menschen zeigt sich, dass Präferenzen für Aktivitäten und Kulturinteressen bereits in jungen Jahren gebildet werden und sich mit dem Alter nicht grundsätzlich ändern. Der Wunsch nach kultureller Betätigung hat in den letzten Jahren jedoch deutlich zugenommen, wie eine vergleichende Befragung aus den Jahren 1991 und 2000 bei Personen zwischen 50 und 80 Jahren in der Schweiz zeigt. Ebenso deutlich zugenommen haben der Wunsch zu reisen und das Bedürfnis nach Weiterbildung. Eine Studie aus dem Jahr 2001 zu den monatlichen Freizeitaktivitäten in Deutschland zeigt, dass die wichtigste Rolle im Spektrum der Kulturaktivitäten älterer Menschen (alltags)kulturelle Veranstaltungen einnehmen, wie zum Beispiel Kino, Feste, Tanz und Sportveranstaltungen. Sie werden jedoch direkt gefolgt von Theater, Konzert und Museumsbesuchen. Gerade die Altersgruppe zwischen 55 und 70 Jahren zeigt danach ein überdurchschnittlich hohes Interesse an Theater und Konzertbesuchen.

Eine der wenigen Forscherinnen, die den älteren Menschen im Kulturpublikum wirkliche Aufmerksamkeit widmet, ist Gerda Sieben. Sieben (2005) zieht aus den vorliegenden Daten zu den Interessen des Kulturpublikums den Schluss, dass sich ältere Menschen in ihrem Kulturverhalten nicht wesentlich von jüngeren Menschen unterscheiden, dass aber ein grosses ungenutztes Potenzial vorhanden sei. Denn Noch-Berufstätige haben hohe Erwartungen an ihr Kulturleben nach der Pensionierung.

Ähnliche Schlüsse kann man aus Martkforschungsstudien ziehen. Eine Studie des Institut für Marketing und Handel der Universität St. Gallen zum Kauf- und Konsumverhalten der 55plus-Gerneration in der Schweiz (2001) zeigt, dass ganz im Gegensatz zum Fremdbild des Alters, das Alter mit grau, krank und inaktiv gleichsetzt, sich die Werthaltungen der älteren Generation an die Werte der jüngeren Menschen in unserer Gesellschaft angleichen. In der heutigen Wohlstandsgesellschaft geht der Trend auch bei den älteren Menschen hin zu den genuss- und freizeitorientierten Werten. Ältere Menschen möchten sich gerne beruflich betätigen, nutzen die Neuen Medien und suchen den sozialen Kontakt in AltersWGs und Mehrgenerations-Wohnprojekten. Entsprechend fühlen sich die heutigen Älteren auch nicht alt, sondern um rund neun bis zehn Jahre jünger. Laut einer Befragung von 45 80 jährigen im Rahmen der Studie Die freie Generation aus dem Jahr 2009 beginnt das wahre alt sein mit rund 77 Jahren. Die 55plus Generation führt ein abwechslungsreiches und aktives Leben und hat ähnliche Interessen wie die jüngere Generation. Das Interesse an Bildung, Wissen und Lernen lässt nicht nach, sondern steigt eher im Alter. Die kulturellen Angebote (Theaterbesuche, Museumsbesuche, Opernvorstellungen) werden interessiert wahrgenommen. Besonders wichtig ist dabei der soziale Aspekt. Nach Aussagen der Experten sind die Sozialkontakte bei kulturellen Veranstaltungen mindestens ebenso wichtig wie die Inhalte, da das Zusammengehörigkeitsgefühl einer Gruppe und der Gedankenaustausch für ältere Menschen besonders wertvoll sind. Gleichzeitig gewinnen Fragen nach dem Sinn des Lebens und nach neuen Handlungsspielräumen der freien Generation an Bedeutung.

Das Bild des älteren Menschen muss demnach gründlich revidiert werden. Hier ist eine neue Generation im Entstehen, die aktiv nach neuen Lebensformen und Sinngebung sucht.

Chancen fürs Theater
Theater könnte gerade für die Neuen Alten heute attraktiv sein, weil es einerseits der zunehmenden Aktivität und Fitness der neuen Altersgenerationen entgegenkommen kann, weil es ein soziales Gemeinschaftserlebnis ist, und zudem, weil es als Kunstform potenziell utopisch orientiert ist. Kunst vermittelt neue Sicht- und Handlungsweisen auf Gesellschaft und Alltag sie könnte also auch helfen, ein neues Verständnis über das Altern zu entwickeln. Die Theater müssten aber vermutlich langfristig stärker als bisher den hedonistischen Bedürfnissen der neuen Altengenerationen entgegenkommen. Die Bedürfnisse der Erlebnisgesellschaft sind bereits generationenübergreifend. Unabhängig vom Alter sind interdisziplinäre, eventorientierte Veranstaltungsformen, bei denen Geselligkeit und Kommunikation wichtiger Bestandteil sind, am beliebtesten. Generell wird die traditionelle Trennung von Bildung und Unterhaltung mehr und mehr obsolet.

Dass Seniorenkultur nicht nur ein potenziell grosses Reservoir an Publikum ansprechen kann, sondern auch neue kreative und künstlerische Impulse freisetzen kann, ist eine These, die bisher nur von wenigen vertreten wird. Gerda Sieben (2005) fragt als eine der ganz wenigen Autoren bewusst nach den Chancen, die sich durch den Zuwachs der Älteren für die Kultur ergeben könnten. Entschieden tritt sie der These entgegen, die Alterung des Publikums vermindere das kulturelle Innovationspotenzial. Im Gegenteil: Innovationen fänden hier bereits statt, sie würden nur nicht genügend beachtet und fielen teilweise auch durch die Wahrnehmungs- und Definitionsstandards einschlägiger Untersuchungen über das Kulturpublikum. Alltagskulturell, soziokulturell oder interkulturell geprägte Aktivitäten ebenso wie hybride Kulturformen werden im Seniorenbereich bisher zu wenig beachtet. Doch gerade hier zeigen sich neue Interessenlagen, selbstorganisierte Kulturformen, und Trends. Dies bringe neue Ideen in die Kulturlandschaft generell: Entwicklungen kommen in Gang, die auch den Jüngeren nutzen: Kulturell aktive Ältere beleben den Dialog der Generationen, Künstlerinnen und Künstler finden ein sachkundiges Publikum, Kinder und Jugendliche profitieren von neuen Angebotsformen.

Das Theater hat Zukunft. Tatsache ist, dass die Gesamtzahl der Theaterbesucher in der Schweiz in den vergangenen zwanzig Jahren kontinuierlich gestiegen ist, und zwar um 600000 oder 17,4 Prozent auf fast 3,8 Millionen. Es finden also mehr Leute den Weg ins Theater, und es hat eine Wanderung stattgefunden vom Stadttheater in andere Theaterformen, hin zur Freien Szene und zum Volkstheater. Oder sie machen gleich selbst mit: Jeder hundertste Schweizer, jede hundertste Schweizerin ist Mitglied in einem der über sechshundert Theatervereine. Die Neuen Alten sind mit dabei. Heute gibt es allein rund 50 60 aktive Seniorenbühnen in der deutschen Schweiz und in der französischen Schweiz. In der Saison 2002/03 spielten in der Schweiz 401 Frauen und 203 Männer aktiv auf Seniorenbühnen.

Der Tanz der Generationen beginnt
Theatermacher erkennen diese Chancen noch zu wenig. Gründe dafür gib es mehrere: Die neuen Altersgenerationen sind gerade erst dabei, das Bild des Alters zu wandeln. Die alten Vorstellungen und tradiertes Wissen über die Alten stimmen nicht mehr, aber die neuen Alterskulturen und Alterssubkulturen sind noch nicht so gefestigt, dass sie bereits klar sichtbar wären. So überlagern sich traditionelle und neue Altersvorstellungen auch innerhalb der gleichen Generation. Das führt dazu, dass es relativ schwierig ist, einfache Strategien zu entwickeln. Die Alten lassen sich nicht einfach über einen Leisten schlagen, alte und neue Bedürfnisse bestehen nebeneinander.

Seniorenkultur ist deshalb ein Phänomen, das von den Kulturschaffenden und Anbietenden zwar wahrgenommen, aber noch sehr zwiespältig bewertet wird. Dies zeigen die Gespräche mit Vertretern von vier unterschiedlichen Theatertypen in der Schweiz. So wird das ältere Publikum zwar als treues, aber nicht besonders umworbenes oder zu umwerbendes Publikum gesehen. Da den Theatermachern vor allem das Fernbleiben der jungen Generation Sorgen macht, verlieren sie das ältere Publikum leicht aus dem Blickfeld. Wenn Ressourcen knapp sind, wendet man sich dem offensichtlich drängenderen Problem zu.

Einfache Massnahmen im Bereich des Customer Relationship Management wie eine Anpassung der Vorstellungszeiten, Einführung von Matineen und Sonntagnachmittagvorstellungen, werden bereits von relativ vielen Theatern erfolgreich angewendet. Angebote für Menschen im höheren Alter, stärker aktiv am Theater beteiligt zu sein, wie sie etwa in der Theaterpädagogik für Kinder und Jugendliche längst etabliert sind, werden jedoch nur vereinzelt erprobt. Ansätze, insbesondere für aktivierende und generationsübergreifende Projekte, gehen wenn vorhanden auf Initiativen aus dem Volkstheater, aus dem freien Theater oder aus der Theaterpädagogik zurück. Noch sind sie aber im Versuchsstadium und meist nicht Teil eines strategischen Schwerpunkts. Das führt dazu, dass sie rasch fallengelassen werden, wenn sich nicht sofortiger Erfolg einstellt, punktuell und wenig vernetzt agieren und so kaum Breitenwirkung erzielen können. Für die direkt Beteiligten sind sie aber meist ein wichtiges und spannendes Erfahrungsfeld. Eine Annäherung von Profi- und Laientheater böte Chancen, auch auf Seiten des Publikums Zugangsbarrieren zum Theater zu senken.

In der Theatersaison 2008/9 machten in Winterthur ältere Menschen und junge Profitänzer gemeinsam Theater. 24 ältere LaientänzerInnen und zehn junge professionelle TänzerInnen und ChoreografInnen entwickelten unter dem Titel Tanz der Generationen vier kurze Tanzstücke. Sie erzählten vom Alltag und dem Ungewöhnlichen, vom Verstehen und Mitmachen, vom Schatten und vom Licht. Vor allem aber erzählten sie von ungebändigter und ungebremster Bewegungslust und dem Willen, physisch auf den anderen einzugehen und miteinander zu kommunizieren. Tanz der Generationen vereinte junge professionelle Tanzschaffende und ältere Laientänzer in einem auf mehrere Monate ausgelegten Tanzprojekt, das in Bühnenaufführungen mündete. Tanz der Generationen verführte dazu, die separierten Lebenswelten von Jung und Alt zu verlassen und (wieder) miteinander ins Gespräch zu kommen. Aus dem eher gleichgültigen Nebeneinander wird ein respekt- und freudvolles Miteinander.
Entstanden ist Tanz der Generationen aufgrund von Erfahrungen mit dem Tanztheater Dritter Frühling und auf Initiative der Choreografen Christiane Loch und Silvano Mozzini . Das Theater Winterthur und das Theater am Gleis in Winterthur luden die Macher dazu ein, das Projekt für Winterthur mit Winterthurer Tanzschaffenden und Laientänzern zu entwickeln. Die Aufführungen fanden im Mai 2009 im Theater am Gleis statt. Der Vorhang hebt sich, Junge und alte Menschen treten ins Rampenlicht, füllen den Raum mit ihrer Präsenz, verschmelzen in gemeinsamer Bewegung: Der Tanz der Generationen beginnt.

Die Autoren:
Martina Märki studierte Germanistik, Publizistik und Pädagogik in Zürich. Sie leitete mehrere Forschungsprojekte im Bereich Medienforschung und Kultur. Langjährige Berufserfahrung in den Bereichen Public Relations und Corporate Publishing kombinierte sie schliesslich mit einer Ausbildung zur Kulturmanagerin an der ZHAW (MAS Arts Management). Ihr besonderes Interesse gilt gesellschaftlichen Veränderungsprozessen.
Diana Betzler studierte Politikwissenschaften und Management an der Universität in Konstanz (D). Sie leitet Forschungs- und Dienstleistungsprojekte am Zentrum für Kulturmanagement der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) und unterrichtet in der Weiterbildung. Neue Entwicklungen in Kultur, Management und Gesellschaft stehen im Zentrum ihres Interesses.

Literatur:
Frick, Karin: Generation Gold. GDI-Studie Nr. 18, Gottlieb Duttweiler Institut, Rüschlikon 2005.

Gassmann, Oliver und Gerrit Reepmeyer: Wachstumsmarkt Alter. Innovationen für die Zielgruppe 50+. Carl Hanser Verlag, München, 2006.

KarstadtQuelle Versicherungen (Hrsg.): Die freie Generation 2009. Das Lebensgefühl der Menschen ab 45 Jahre, Eine empirische Studie der Forschungsgruppe 50+.

Hock, Eva-Maria und Bruni Bader: Kauf und Konsumverhalten der 55plus-Generation. Ergebnisse einer empirischen Studie in der Schweiz. THEXIS, St. Gallen 2001. (Institut für Marketing und Handel der Universität St. Gallen, Fachbericht für Marketing 2001/3).

Höpflinger, François und Astrid Stuckelberger: Demographische Alterung und individuelles Altern: Ergebnisse aus dem nationalen Forschungsprogramm Alter. Seismo, Zürich 1999. (Synthesebericht NFP 32).

Kofmehl-Heri, Katharina: Die Seniorenbühne. Ein neues Stück populärer Theaterkultur in der Schweiz. Dissertation am Institut für Populäre Kulturen der Universität Zürich, Zürich 2006.

Kotte Andreas und Frank Gerber: Zum davonlaufen? Das Theater um die Theaterkrise. In: Pro Helvetia (Hrsg.): Kulturpublikum!? Passagen Nr. 40, Zürich 2005, S. 54-56.

Märki, Martina: Theater, demografischer Wandel und die Neuen Alten. Audience Development für ältere Menschen. Masterthesis Nachdiplomstudiengang Kultumanagement, Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften, 2009.

Mandel, Birgit (Hrsg.): Audience Development, Kulturmanagement, Kulturelle Bildung. Konzeptionen und Handlungsfelder der Kulturvermittlung. kopaed, München 2008.

Sieben Gerda: Mehr ältere Menschen im Publikum! In: Wagner, Bernd (Hrsg.): Jahrbuch für Kulturpolitik 2005. Thema: Kulturpublikum. Klartext-Verlag, Essen 2005, S. 269-280. (Reihe des Instituts für Kulturpolitik der Kulturpolitischen Gesellschaft).

Tillmanns, Christophs 2008: Senioren in Deutschland. Konsum- und Kaufverhalten der Generation Silber, GfK Panel Services Deutschland, http://www.gfk.de
 

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