05.10.2008

Autor*in

Heinrich Kreibich
Heinrich Kreibich leitete ab 1994 als Geschäftsführer die Stiftung Lesen. Der studierte Diplompädagoge war bereits zuvor viele Jahre für die Programme und Projekte der Stiftung verantwortlich und realisierte ein breites Spektrum an Leseförderungsund Forschungsinitiativen.
Lesen fördern

Am Anfang stand eine Medienrevolution

Interview mit Heinrich Kreibich, Geschäftsführer der Stiftung Lesen.
Das Gespräch führte Veronika Schuster.
 
KM Magazin: Was gab den Anstoß zur Gründung dieser Stiftung - was waren wichtige Stationen ihrer Entwicklung? Welche sind ihre wichtigsten Ziele und Aufgaben?
 
Heinrich Kreibich: Am Anfang stand eine Medienrevolution: Als die Stiftung Lesen 1988 ins Leben gerufen wurde, stand bereits in jedem dritten bundesdeutschen Haushalt ein Computer - Tendenz stark steigend. Das wurde von vielen Kulturverantwortlichen als positiver Schritt hin zur Informationsgesellschaft empfunden, aber auch als Bedrohung der traditionellen Medienkultur. Hier sollte nach dem Willen der Stiftung Lesen-Gründer - Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Kultur - die Arbeit der neuen Institution ansetzen, die an die Erfahrungen der 1977 gegründeten Vorgängerinstitution "Deutsche Lesegesellschaft" anknüpfen konnte: Zentrales Ziel der Stiftung Lesen ist laut Satzung die "Stärkung der Lesekultur in allen Bevölkerungskreisen". Schnell stellte sich dabei heraus, dass diese Arbeit nicht in ideologischer Gegnerschaft, sondern nur im Verbund mit den neuen Medien gelingen kann - nicht zuletzt deshalb, weil die damals als "Medienrevolution" empfundene Entwicklung längst ganz andere Dimensionen angenommen hat: Heute stehen beispielsweise in neun von zehn bundesdeutschen Haushalten moderne Computer, neben denen die Modelle der 80er Jahre wie Oldtimer wirken.
Zu den wichtigsten Entwicklungsstationen der Stiftung Lesen-Tätigkeit zählt der Ausbau von Leseförderungsprojekten im Medienverbund: Mediendidaktisch ausgefeilte Schulprojekte zu aktuellen Kinofilmen wecken die Begeisterung für Lesestoff, TV-Spots im ZDF sensibilisieren für die Bedeutung regelmäßigen Vorlesen - oder wecken schlicht und einfach den Lese-Appetit. Daneben ist es uns mit Hilfe starker Partner wie der Deutschen Bahn AG, der Deutschen Post AG, der Wochenzeitung DIE ZEIT oder der Verlagsgruppe Random House gelungen, öffentlichkeitswirksame Events als "Lese-Feste" mit nachhaltiger Wirkung zu etablieren: vom Welttag des Buches am 23. April bis hin zum jährlichen bundesweiten Vorlesetag im November. Der aktuell wichtigste Entwicklungsschritt konnte vor wenigen Wochen realisiert werden: Mit Unterstützung des Verbandes Deutscher Maschinen- und Anlagenbauer (VDMA) und zahlreicher Einzelunternehmen können wir im Rahmen des Projektes "Lesestart" in Kooperation mit Kinderärzten 500.000 junge Familien mit Leseförderungs-Startsets versorgen, die bereits in der frühen Kindheit wichtige Impulse für die Sprachentwicklung vermitteln - und den späteren "Lebenslauf des Lesens" maßgeblich beeinflussen. Diesen Lebenslauf möchten wir in jeder Phase mit Orientierungshilfen und Angeboten begleiten sowie die entsprechenden Multiplikatoren in ihrer Arbeit unterstützen: von Erzieherinnen über Lehrkräfte und Bibliotheken bis hin zum Buchhandel.
 
KM: Wie wird die Stiftung rechtlich, strukturell und finanziell geführt?
 
HK: Traditionell steht die Stiftung Lesen unter der Schirmherrschaft des Bundespräsidenten. Es freut uns sehr, dass uns Bundespräsident Horst Köhler im Rahmen zahlreicher Veranstaltungen persönlich unterstützt. Viele weitere Personen und Institutionen fördern unser Anliegen ebenfalls in herausragender Weise. Problematisch ist jedoch, dass die Stiftung Lesen so gut wie keine staatliche Grundfinanzierung erhält: 90 Prozent ihres Etats in Höhe von jährlich 4,5 Millionen Euro muss sie stets neu akquirieren. Das ist nicht nur ein erheblicher Kräfte-Aufwand, sondern führt auch dazu, dass die strategische Planung mit langfristiger Perspektive erschwert wird. Dieses finanzielle Handicap kann die Stiftung Lesen zur Zeit durch ein festes und von gegenseitigem Vertrauen geprägtes Sponsoren-Netzwerk wett machen: Viele Unternehmen, aber auch einige Bundesländer und andere Stiftungen, sind dem Stifterrat der Stiftung Lesen beigetreten. Die derzeit 40 Mitglieder unterstützen unsere Arbeit durch feste Zuwendungen. Im Stiftungsrat, der zweiten Kammer, sind zur Zeit 19 Institutionen Mitglied, die in Form von Beratung und Kooperation unsere Anliegen fördern. Aus diesen Gremien setzt sich der ehrenamtliche Vorstand zusammen. Die laufenden Projekte, die von rund 30 Mitarbeitern realisiert werden, akquirieren und initiieren wir als Team und ich als hauptamtlicher Geschäftsführer. Zum Tätigkeitsspektrum der Stiftung Lesen zählen auch die Projekte des Instituts für Lese- und Medienforschung der Stiftung Lesen sowie die Tätigkeit der Akademie für Leseförderung der Stiftung Lesen an der Gottfried Wilhelm von Leibniz Bibliothek Hannover. Als Mitglied der europäischen Leseförderungsplattform EU Read und im Rahmen weiterer Kooperationen ist die Stiftung Lesen auch international gut vernetzt. Ein aktuelles Projektbeispiel: Leseclubs in Deutschland und Israel, die vom Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert werden.
 
KM: Passt Lesen als Kulturtechnik noch in die heutige Zeit oder anders gefragt: Warum ist Lesen noch immer wichtig für den Menschen?
 
HK: Die digitale Medienrevolution erfordert nur vordergründig ganz neue Kompetenzen von den Nutzern: Wer die Strukturen dieser Medien genauer analysiert, stellt schnell fest, dass Lesen weiterhin eine Grundkompetenz darstellt. Ohne das Vermögen, Texte verstehen zu können, lässt sich auch das Internet nicht sinnvoll nutzen. Hinzu kommt: Es geht um weit mehr als um das Entziffern von Zeichen. Lesen schult das Sprachvermögen - und Vorlesen schafft in der frühen Kindheit ganz buchstäblich die organischen Voraussetzungen, um auf komplexe Weise denken zu können. Denn in diesem Alter formen sich durch die Lese-Impulse die Strukturen der Hirnzellen.
 
KM: Ist Deutschland noch ein Leseland - oder wird das "Lesen" in Deutschland immer weiter zurückgedrängt?
 
HK: Eine Schere öffnet sich immer weiter - und sie wird für große gesellschaftliche Verwerfungen sorgen, wenn wir nicht handeln: Die Kluft zwischen den kompetenten Viel-Lesern, die außerdem souverän die neuen Medien nutzen, und denjenigen, die nur rudimentär lesen können, weitet sich aus. Schon jetzt haben wir in Deutschland rund vier Millionen Erwachsene, die als so genannte sekundäre Analphabeten gelten: Sie haben zwar irgendwann das ABC gelernt, können jedoch einen Artikel in einer regionalen Tageszeitung nicht verstehen. Ein Fünftel unserer Schulabgänger ist akut gefährdet, ebenfalls ein Leben lang sekundärer Analphabet zu sein. Hier leistet die Stiftung Lesen mit ihren Projekten Präventionsarbeit. Diese muss jedoch in einem weit größeren Maßstab unterstützt werden, um der Dimension des Problems gerecht zu werden
 
KM: Welche Entwicklungen bestimmen das Handeln der Stiftung Lesen in den nächsten Jahren? Wie möchten Sie diese Herausforderungen angehen?
 
HK: Bildung ist ein Trend-Thema. Das spiegelt sich in vielen festlichen Reden wider, aber noch viel zu wenig im Leseförderungs-Alltag. Hier hat die Stiftung Lesen klare Forderungen an die Politik. Sie mahnt jedoch nicht nur an, sondern macht differenzierte Projektangebote, die den gesamten "Lebenslauf den Lesens" umfassen. Darüber hinaus bietet sie ihr Know-how allen Verantwortlichen an, damit Leseförderung professionell, effizient und abgestimmt auf die Rahmenbedingungen einer gesellschaftlich immer stärker ausdifferenzierten Gesellschaft gelingen kann. Es gibt nicht "den Adressaten" von Leseförderungs-Maßnahmen, sondern eine Vielzahl von Personengruppen mit sehr unterschiedlichen Bedürfnissen. Deshalb muss die Kernbotschaft: "Das Lesen fördern heißt Lebenschancen vermitteln" ganz buchstäblich in viele verschiedene Sprachen übersetzt werden.
 

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