28.05.2009

Autor*in

Veronika Schuster
ist ausgebildete Kunsthistorikerin und Kulturmanagerin. Sie hat mehr als 10 Jahre als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Co-Kuratorin für verschiedene Ausstellungsprojekte und Kultureinrichtungen gearbeitet. Sie verantwortet bei Kultur Management Network die Leitfäden und Arbeitshilfen und arbeitet als Lektorin und Projektleiterin für unterschiedliche Publikationsformate.
Raum für Kultur

Hybrid mit viel Freiheit

Ein Gespräch mit dem Kulturunternehmer Jochen Sandig über das Projekt Radialsystem V New Space for the Arts, Berlin, gab Aufschluss darüber, welche Neuansätze in einem alten Pumpwerk verwirklicht werden können.
Streift man durch die Straßen und Gassen, abgelegenen Viertel und Randbezirke deutscher Städte, findet man in jeder von ihnen eine Vielzahl alter Gebäude des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, Bürgerhäuser, Industrieanlagen, Kinos oder Theater, Verwaltungs- und Bürokomplexe alle zumeist verlassene Zeugen eines ehemals umtriebigen Lebens. Oft sind es beinahe Ruinen, aber mit einem morbiden, manchmal diffusen Charme. Sie erinnern an Zeiten der unvorstellbar harten Arbeit in Zechen und Kraftwerken, als Dienstmädchen oder Knechte in spartanischen Kammern hausten und als der Arbeitstag noch keine sieben Stunden kannte. Sie sprechen aber auf der anderen Seite von einem mondänen Leben mit Tanz, Theater und Kunst, von freudiger Faszination über technische und wissenschaftliche Errungenschaften wie das Telefon, das Fahrrad und Auto, die Luftfahrt oder das Kino mit seinen bewegten Bildern. Letztlich sind sie aber auch durch ihre Architektur Meilensteine der Geschichte geworden.
 
Städte und Einrichtungen wie die Deutsche Stiftung Denkmalschutz versuchen mit Engagement diese Fragmente unserer Vergangenheit zu bewahren. Doch sind es bei weitem zu viele, eine flächendeckende Sicherung der Bausubstanz ist unmöglich. Daher wird die Zusammenarbeit mit den verschiedensten Institutionen sowie privaten Partnern gesucht und das häufig mit großem Erfolg, wie zum Beispiel bei dem ehemaligen Berliner Pumpwerk Radialsystem V. Das in seiner Erscheinung an eine Brauerei erinnernde Gebäude nahe der sogenannten Mediaspree, wurde 1881 an deren Ufer erbaut, musste bereits 1905 erweitert werden und diente vornehmlich zur Entwässerung der wegen des rasanten Wachstums der Stadt Berlin benötigten Gebiete. Somit war es Teil einer modernen, von Fortschrittsvisionen getragenen Stadtplanung. Die Reste der durch den Krieg dezimierten Anlage standen bereits seit 1980 unter Denkmalschutz, die Nutzung blieb unverändert. Doch eine vergleichbar spannende Rolle, wie in seinen ersten Jahren, nimmt das Radialsystem V erst wieder im 21. Jahrhundert ein als Namensgeber einer Gesellschaft, die ihm eine völlig neue Aufgabe zugewiesen hat.
 
Im Jahr 2006 eröffnete die neue Spielstätte Radialsystem V New Space fort the Arts, das von der gleichnamigen GmbH und deren Geschäftsführer Jochen Sandig und Folkert Uhde geleitet wird. Bereits 2003 verkauften die Berliner Wasserbetriebe das Gebäude an die Bochumer Telamon Vermögensverwaltung OHG, die sich von Gerhard Spangenberg, versierter Architekt für revitalisierenden Umbau, für das Bauwerk und dessen Umnutzung überzeugen ließen. Dies allerdings nur unter der Bedingung eines vorher vertraglich gebundenen Mieters. Somit nahm der zukünftige Nutzer an den bautechnischen Sitzungen von Beginn an teil und konnte seine präzisen Vorstellungen für die spätere Nutzung miteinbringen. Und die hatten sie, die beiden Kulturmanager, genaue Vorstellungen was in diesen neuen, alten Räumen passieren soll. Die nötigen beruflichen Erfahrungen brachten sie ohnehin mit: Jochen Sandig gründete u. a. die Produktionsstätte Sophiensaele in Berlin Mitte und wechselte später als Mitglied der künstlerischen Leitung und als Dramaturg an die Schaubühne am Lehniner Platz. Der Musiker Folkert Uhde ist Manager und Dramaturg der Akademie für Alte Musik Berlin mit jahrelanger Erfahrung im Musikmanagement. Der private Investor brachte nun die Summe von 8 Million Euro für den Um- und Neubau ein. Unbedingt zu erwähnen ist bereits hier, dass keine öffentlichen Gelder fließen oder geflossen sind, einzig der Lotteriefonds subventionierte mit 1,2 Mill. Euro die Anschaffung der Bühnentechnik. Entstanden ist ein Glaskubus, der sich wie eine Ergänzung zu den zerstörten Teilen an- und auf die alte Bausubstanz setzt, charakterisiert durch fächerartige Fensterlamellen, die sich um den ganzen Komplex ziehen. Erstes Ziel war, besonders für die Radialsystem V GmbH, die größtmögliche Flexibilität der Nutzungsmöglichkeiten in und mit den Räumen. Für diese stehen nun im Altbau eine 600 qm große Halle und ein Saal mit 400 qm zur Verfügung, ergänzt durch zwei große Studios, Verwaltungs- sowie Nutzräume und Foyer inklusive Café im Neubau. Durch die gelungene Kombination der Architekturen entstand zudem ein großes Sonnendeck mit Blick zur Spree. Der Innenausbau wurde in enger Zusammenarbeit und bei wöchentlichen Sitzungen der verschiedenen Partner an den spezifischen Bedürfnissen ausgerichtet. Dies war auch unbedingt für die neue Nutzung nötig, da der ursprüngliche Plan ein Bürogebäude vorsah. Ergebnis dieses "Feintunings der Innenausstattung" waren ein minimaler Anteil an Verwaltungsräumen sowie die unbedingt flexible Verwendung der Räume.
 
Der Reiz des Gebäudes lag für Jochen Sandig nicht darin, dass ein Altbau renoviert wird, sondern in der Transformation eines alten Bauwerks zu etwas ganz Neuem mit Hilfe gänzlich modern gedachter Architektur. Durch diesen Dialog von Alt und Neu sei ein Hybrid entstanden, der auch auf die Arbeit des Radialsystems übertragen werden kann. Zum einen betrifft das die alte und neue Baumasse, die jeweils die Hälfte der 4000 qm umfassen. Zum anderen berührt dies das Betriebssystem des Radialsystems: Es handelt sich dabei um eine Mischfinanzierung sowohl aus kulturellen Aktionen, als auch zu einem substanziellen Anteil aus gewerblichen Vermietungen. Damit unterscheidet es sich grundsätzlich von öffentlich geförderten Häusern und verfolgt einen kulturunternehmerisch Neuansatz. Die Grundidee der Radialsystem V GmbH war es, ein Haus so zu organisieren, das es sich jederzeit auf jede Art der Nutzung bzw. auf die jeweilige Nutzeridee ausrichten kann. Jochen Sandig macht dieses Prinzip mit einem Computer vergleichbar: Das Gebäude sei die Hardware, das Radialsystem stelle das Betriebssystem und der jeweilige Kunde, der Künstler oder das Ensemble habe den Anspruch sein Programm, seine Software adäquat ablaufen zu lassen. Sandig sieht dieses System für jedes andere Gebäude anwendbar, von Bedeutung sei dabei einzig die Kernidee der Flexibilität. Dementsprechend sind für die zahlreichen Projekte nationale und internationale Partner verschiedenster Couleur zu Gast, Hochschulen, Orchester, Festivals, Museen oder Galerien und unabhängige Veranstalter aus Wirtschaft, Politik und Medien mieten sich ein.
 
Für Künstler und Kunden mit besonderen Raumnutzungswünschen habe sich das Radialsystem innerhalb von kurzer Zeit zur ersten Adresse in Berlin entwickelt, so der Kulturunternehmer. Besonders experimentelles Theater, neue Musikformen erfordern diese Flexibilität und Freiheit in der Bespielung eines Raumes, wie es das Radialsystem zur Verfügung stellen kann. Es unterscheidet sich somit von spezialisierten Häusern wie anderen Theatern, Bühnen oder auch Museen. Der Raum ist die Bühne und das ist Teil des Konzeptes. Letztlich treffen in der kulturunternehmerischen Hybridstruktur Wirtschaft und Kunst aufeinander, befruchten sich gegenseitig und durch die kommerziellen Einkünfte wird die künstlerische Ausrichtung der Institution möglich: Interdisziplinarität und die Verbindung von verschiedenen Künsten in einer Symbiose von Tradition und Moderne sollen bei allen Projekten ein wichtiger Kernbestand der künstlerischen Idee sein. Ein Beispiel wären hierfür choreografische Konzerte, bei denen auch die Musiker Teil der Inszenierung sind. Die verschiedenen Kunstgattungen sollen aufeinander treffen, sich ergänzen, reiben und somit innovativ nach vorne gebracht werden. Die Schwerpunkte des künstlerischen Programms liegen im zeitgenössischen Tanz und der Alte Musik, die vor allem durch die Prozesse der Ensembles Sasha Waltz & Guest, Akademie für Alte Musik Berlin und Vocalconsort Berlin mit- und weiterentwickelt wurden. Die Arbeit des Radialsystems V ist geprägt von der Weiterentwicklung neuer Ideen im Bereich Kulturvermittlung und stellt seinen Gästen durch die Kooperation mit ausgesuchten Partnern eine hohe inhaltliche Qualität der Veranstaltungen zur Verfügung.
Eine Bilanz könne man nach dieser kurzen Zeit von zweieinhalb Jahren zwar noch nicht ziehen, so Jochen Sandig, doch erwartet die Radialsystem V GmbH die schwarze Null im Herbst diesen Jahres. Zudem wurde eine gemeinnützige Stiftung gegründet, u. a. mit dem hochgesteckten Ziel, irgendwann das Radialsystem V zur Sicherung des Projektes erwerben zu können. So dient das alte Pumpwerksgebäude, wie schon vor 100 Jahren einer mit viel Visionen und Engagement vorangetriebenen Idee.
 

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