Kulturhauptstadt Marseille
Kulturaustausch im Zeichen des arabischen Frühlings
Vor 2600 Jahren von Griechen gegründet und jahrhundertelang ein Brückenkopf zwischen Europa und Afrika, ist nun Marseille und die Provence 2013 europäische Kulturhauptstadt. Wir trafen Ulrich Fuchs vom Management-Team zum Interview.
KMN: Seit wann sind Sie mit den Vorbereitungen für das Kulturhauptstadtjahr 2013 beschäftigt?
Ulrich Fuchs: Ich bin jetzt seit Mai 2010 in Marseille, nachdem mich noch 4 Monate die Nachbereitungen zu Linz 2009 in Anspruch genommen hatten. Das war in Linz nicht nur die Abwicklung der GmbH, sondern die dauerhafte Sicherung einiger kultureller Projekte, die wir dank einer Reserve im Budget von immerhin 1,7 Millionen Euro noch erreichen konnten. Bereits Ende 2009 wußte ich aber schon, dass ich nach Marseille gehen würde. Das Team der Kulturhauptstadt 2013 war mehrfach in Linz, und mich sprach während eines solchen Aufenthalts der Intendant für die heutige Managementaufgabe an. Die Vorbereitungen insgesamt setzten freilich schon unmittelbar nach Bekanntgabe der Nominierung von Marseille-Provence im September 2008 ein.
KMN: Nun liegt Marseille direkt am Mittelmeer, und diese Lage soll nun impulsgebend für das Kulturprogramm sein. Wie sehen thematisch die Anknüpfungspunkte konkret aus?
UF: Einer der überzeugendsten Argumente für die Jury war die Orientierung von Marseille und der Provence zum Mittelmeer hin. Mit diesem Konzept der sog. Region Euroméditerranée hat letztlich den Ausschlag gegeben, und man konnte sich damit gegen so bedeutende Städte wie Lyon, Bordeaux oder Toulouse durchsetzen.
Ein zweiter, mindestens genauso wichtiger Grund war, dass es von den vier in der Endrunde befindlichen französischen Städten - um es salopp zu sagen - Marseille am nötigsten hat. Die anderen sind in ihrer Entwicklung viel weiter fortgeschritten, und gerade in seiner kulturellen Infrastruktur, aber auch im Bekanntheitsgrad hat Marseille durchaus Defizite.
Wie sich diese beiden Hauptargumente nun auf die Programmgestaltung auswirken, wird an zwei Hauptachsen deutlich. Zum einen gehört auch die Provence zur diesjährigen Kulturhauptstadt. Vergleichbar mit Ruhr.2010 ist damit wieder eine ganzes Region in das Geschehen einbezogen. So gehören Städte wie Aix-en-Provence oder Arles dazu, die kulturell fast bekannter sind als Marseille. Die zweite Achse besteht mit der Einbindung der Partner, sprich der Künstler und kulturellen Einrichtungen des gesamten Mittelmeerraums, also z.B. aus Marokko, Tunesien oder Israel. Dieser Bezugsraum spielte schon immer für Marseille eine besondere Rolle, war die Stadt doch Eingangstor nach Europa. Bis heute kann man verfolgen, wie sich diese Menschen in der Stadt und die Umgebung integrieren. Was bei der Nominierung 2008 noch gar nicht absehbar war, kommt jetzt dem Kulturhaupstadtjahr zugute: die politischen Veränderungen, die sich mit dem Begriff des arabischen Frühlings verbunden haben. Sie haben entsprechend bei der Programmgestaltung eine große Bedeutung erlangt.
KMN: Da stellt sich die Frage, wie Ihnen angesichts einer so tiefgreifenden Umwälzung, die mehrere Länder - Tunesien, Libyen oder Ägypten - ganz unterschiedlich betrifft, hier überhaupt eine angemessene Würdigung gelingt. Und ist es beabsichtigt und realistisch, dass auch Besucher aus Nordafrika kommen? Oder wendet sich das Kulturjahr eher in besonderen Maße an die Migranten in Marseille und der Provence?
UF: Eher letzteres. Das Projekt zielt nicht darauf ab, einen Tourismus aus Nordafrika auszulösen - das wäre in der Tat wenig realistisch, weil es allein schon an den ökonomischen Voraussetzungen scheitert. Andererseits liegt Marseilles Partnerstadt Algier näher als Paris. Es gibt entsprechend einen intensiven Austausch mit den algerischen Verwandtschaft. In Marseille leben mehr Migranten aus Nordafrika als in Paris oder Berlin.
Unser Hauptziel ist, dass Menschen aus Europa, wenn sie 2013 nach Marseille und in die Provence kommen, Künstler und Kunstformen aus den arabischen Ländern antreffen, die hierzulande nahezu unbekannt sind.
KMN: Haben Sie im Team überhaupt die personellen Voraussetzungen, ein Programm mit diesen interkulturellen Bezügen authentisch zu konzipieren? Und wie sieht das Programm denn konkret aus? Wo findet es vor allem statt?
UF: Das Team in Marseille ist recht international zusammengesetzt. Neben mir als einzigen Deutschen gibt es zahlreiche Kollegen algerischer Herkunft sowie Franzosen, deren Wurzeln häufig in anderen Ländern des Mittelmeerraums liegen. Ein größeres Projekt unter dem Titel "Atelier Euromediterranneé" bindet Künstler aus dem arabischen Raum ein, die eine Zeit lang in Marseille leben und dort Gegenwartskunst schaffen. Darunter sind Maler ebenso wie Tänzer, Choreografen oder Videokünstler. Diese Artists-in-Residence werden zur Hälfte aus unserem Budget und zur Hälfte von denjenigen finanziert, die sie beherbergen. Das Besondere daran: die Ateliers befinden sich nicht an künstlerischen Orten, sondern in Unternehmen, Bibliotheken, Archiven oder Hospitälern. Ein ägyptischer Künstler beispielsweise ist schon seit Anfang 2012 hier in der Nähe von Marseille tätig und arbeitet am Thema Kreuzzüge aus Sicht der arabischen Welt. Er stellt dabei Marionetten her, die die Figuren der Kreuzzüge darstellen. An diesem Projekt sind allein 200 Leute beteiligt - darunter auch Teile der Bevölkerung. Daraus wird ein Film entstehen, der nun 2013 gezeigt werden wird. Wael Shawky ist vielen in Deutschland übrigens von der letzten documenta bekannt.
KMN: Nun ist neben Marseille-Provence auch Kosice in diesem Jahr Kulturhauptstadt. Gerade vor dem Hintergrund des von Ihnen gerade geschilderten, ambitionierten Programms: hat die kleine slowakische Stadt überhaupt eine Chance, wahrgenommen zu werden? Und gibt es eigentlich eine Zusammenarbeit zwischen beiden Regionen?
UF: Ich glaube schon, dass Kosice wahrgenommen werden wird, wenngleich in einem anderen Radius. Die Stadt liegt an der Außengrenze der EU unweit der Ukraine und wird daher sicherlich auch Gäste aus anderen Ländern haben als die, die ihren Weg nach Südfrankreich nehmen. Zudem ist Kosice eine kleinere Stadt. Nur war dies 2010 mit dem Ruhrgebiet und Pecs genauso.
Wir haben mit dem Team in Kosice relativ viel Kontakt und dabei frühzeitig zwei Themen ausfindig gemacht, die uns verbinden und nun in 10-15 verschiedenen Projekten bearbeitet werden. Das eine sind die Sinti und Roma, die sowohl in Marseille als auch in Kosice als ethnische Minderheiten in schwierigen Verhältnissen leben. Uns war es daher wichtig, sich der Kultur der Sinti und Roma ausführlich zu widmen. Entsprechend gibt es einen intensiven künstlerischen wie organisatorischen Austausch mit Kosice.
Das zweite Thema, was beide Regionen verbindet, ist ihre Lage an der Außengrenze des Schengen-Raums. Marseille ist wie Kosice ein Eingangstor nach Europa, sodass wir uns an beiden Standorten mit der Frage beschäftigen, was dies für das gesellschaftliche Leben bedeutet, welche realen und welche mentalen Grenzen es gibt.
KMN: Wir wünschen Ihnen jedenfalls gutes Gelingen und viel Zuspruch für das Kulturstadtprogramm in diesem Jahr! Danke für das Gespräch!
Das Gespräch führte Dirk Heinze von Kulturmanagement Network. Er wird im Juli 2013 auch in Kosice vor Ort sein und anschließend vom Kulturhauptstadtjahr dort berichten.
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