12.09.2008

Autor*in

Reinhard Stroemer
Rückblick ICCPR-Konferenz 2008

Furiose Debatten am Bosporus

Mehr als 150 Kulturpolitikforscher aus nahezu allen Teilen der Welt kamen im August dieses Jahres in Istanbul zur ICCPR-Konferenz 2008 zusammen, um aktuelle Forschungsergebnisse vorzustellen, miteinander zu diskutieren und offene Fragen zu beraten. Sie präsentierten mehr als 100 Arbeiten zu 13 Themenfeldern von durchweg hoher Qualität vor.
Kein Wunder also, dass bei dieser Vielfalt und Fülle des Angebots spätestens gegen Ende der Konferenz die Suche nach Generalthemen, die als Signatur der kulturpolitischen Gegenwart fungieren konnten, begann. Ein "buzzword", das in den Abschlussstatements der Veranstalter und den Pausengesprächen immer wieder auftauchte, bot sich dafür an: Bullshit. In einem furiosen Vortrag hatte Eleonora Belfiore von der Universität Warwick in England die Kulturpolitik und die Kulturpolitikforschung verdächtigt, viel zu häufig Bullshit zu produzieren. "Schwachsinn" wäre hierfür eine umgangssprachliche korrekte Übersetzung, aber Belfiore gebrauchte den Begriff (unter Bezug auf den aus dem akademischen Abseits zum Bestseller gewordenen Buchs "On Bullshit" des amerikanischen Moralphilosophen Harry G. Frankfurt) theoretisch anspruchsvoll, um Aussagen zu kennzeichnen, denen der Bezug auf Wahrheit gleichgültig ist, weil ihre Urheber glauben, der Zweck heilige die Mittel. Kulturpolitischer Bullshit würde vor allem ungeprüft empirisch nachweisbare sozio-ökomische Effekte von Kultur behaupten. Dass Kulturpolitiker mitunter so schreiben und sprechen, belegte Belfiore an schlagenden Beispielen von Englands kulturpolitischer Prominenz aber Kulturpolitikforscher? Das war starker Tobak.
 
Mit Belfiores Attacke geriet eine tatsächlich fragwürdige Haltung ins Zwielicht, die in den vergangenen Jahren akademische Ehrenrettung erfahren hatte: Advocacy Anwaltschaft. Kulturpolitikforscher hatten sich als Interessenvertreter einer vor allem durch Ökonomisierung bedrohten Kultur verstanden. Dass dabei ihre wissenschaftlich gebotene Neutralität unter die Räder zu kommen drohte, hatte in derselben Session wie Belfiore die norwegische Forscherin Sigrid Royseng in einem nicht minder furiosen Vortrag über Rituale in der Kulturpolitik und Kulturpolitikforschung ausgeführt. In ihrer anthropologisch und religionswissenschaftlich inspirierten Analyse wurde deutlich, dass Advocacy für Kultur oft genug ein idealisiertes Bild von magischer kultureller Wirkungsmacht konstruiert oder sollte man besser sagen: phantasiert? das der Wirklichkeit unmöglich standhalten kann. Royseng verglich die Klage über "instrumentelle Kulturpolitik" mit archaischen Praktiken ritueller Reinigung durch Beschwörung einer heiligen Instanz. Der fanatische Eifer, mit dem kulturpolitische Kontroversen mitunter ausgetragen werden, wurde in diesem Licht verständlich.
Dass Künstler die Welt retten könnten, wünschen sich Menschen, seitdem der religiöse Glaube sie verlassen hat. Dass die Welt der Rettung bedarf, wurde den Konferenzteilnehmer spätestens bei Ausflügen in die 15-Millionen-Metropole Istanbul klar. Ein Verkehrsinfarkt drohte nahezu rund um die Uhr. Da "Fahrweisen soziale Verhaltensweisen" sind, wie Peter Rühmkorf vor Jahren schrieb, liegt es nahe, das Thema Ökologie in den ständig wachsenden Katalog der sozialen Handlungsfelder kultureller Arbeit aufzunehmen. Gut möglich, dass hierüber auf der nächsten Konferenz, mutmaßlich in Südkorea, zumindest aber in einem der stark vertretenen ostasiatischen Länder, intensiver diskutiert werden wird. Bis dahin können deutsche Interessierte an dem Thema sich über die Forschungen zur "Klimakultur" auf dem Internetportal des Kulturwissenschaftlichen Instituts Essen informieren.
Für die kaum vertretenen deutschen Praktiker und Forscher wäre der Beitrag von Gesa Birnkraut über Evaluationsverfahren für institutionell geförderte Kultureinrichtungen interessant gewesen. Für Birnkraut sind Evaluationen in erster Linie ein Anreiz, um qualitätssichernde Lernprozesse in Institutionen anzustoßen. Vertrauen ist dafür die Basis. Die notwendigen Vorleistungen hierfür scheint die Berliner Kulturverwaltung, mit der Birnkraut zusammenarbeitet, geben zu wollen, indem sie darauf verzichtet, Daten zu Sanktions- oder schlimmstenfalls Selektionszwecken zu missbrauchen. Ein lange mit viel Herzblut geführter Streit zwischen staatlichen Zuwendungsgebern und Kultureinrichtungen über Berichtspflichten dürfte damit einem Ende näher kommen. Der Teufelskreis aus wechselseitigen Unterstellungen, entweder an Kontrollzwang oder an Verfolgungswahn zu leiden, könnte durchbrochen werden. Das wäre ein großer Erfolg.
Häufiges Thema der Konferenz war natürlich das Thema Kulturwirtschaft. Den modischen Status als "next big thing" hatte es allerdings verloren. Richard Florida wurde eher als Begründer eine politisch wirkungsvollen Rhetorik denn als ernstzunehmender Forscher zitiert. Seine These, dass das wirtschaftliche Wachstum von Städten mit tolerantem Milieu und technischer Infrastruktur vor allem dem Zuzug einer "kreativen Klasse" zu verdanken sei, galt als empirisch kaum belegt. Schon der Terminus "kreative Klasse", so schmeichelhaft er auch für die Angesprochenen auch wirken mochte, schien unscharf, und ob die unbestrittenen Korrelationen zwischen den berühmten 3 Ts und ökonomischem Erfolg als Kausalität zu interpretieren seien, stellten manche Forscher mit mildem Spott in Frage.
Zum Abschluss richtete ein prominent besetztes Podium einen selbstkritischen Blick nach vorn. Die wichtigsten Perspektiven: Die Kulturpolitikforschung muss sich freimachen, von der Themenvorgabe durch finanzstarke Auftraggeber, vor allem aus den "Creative Industries" und der Stadtentwicklung; Forscher und Themen aus Afrika fehlen vollkommen, aus Lateinamerika weitgehend; Pop und Populärkultur werden vernachlässigt, die Neuen Medien ebenso (Ausnahme: Valtysson Bjarki)
Gewarnt wurde auch davor, dass die Kulturpolitikforschung ihren kulturpolitischen Einfluss überschätzen könnte. Dazu passt, dass Politik im eigentlichen Sinne des Wortes, d.h. als politische Macht, die es braucht, um Mehrheiten für Entscheidungen zu gewinnen und sie anschließen durchzusetzen, auf der Konferenz eine überraschend geringe Rolle spielte. Nicht nur in Deutschland haben die Politikwissenschaftler als die eigentlichen Experten für diese Fragen sich des Themas Kulturpolitik kaum angenommen. Die Kulturpolitikforscher stammen häufig aus anderen Disziplinen, sind Soziologen, Pädagogen, Ökonomen, Philosophen, Kultur- oder Verwaltungswisssenschaftler. Vielleicht geriet deshalb die Machtdimension der Kultur etwas aus dem Blickfeld. Die Teilnehmer der abschließenden Podiumsdiskussion sahen hier eine Entwicklungsaufgabe für die Zukunft der Konferenz. Gut möglich aber auch, dass die "Ökonomisierung der Kultur" der Politik den Rang als gestaltende Kraft abgelaufen hat, womit die Kulturpolitikforschung ihren eigentlichen Gegenstand bis auf Weiteres - verloren hätte. Kulturpolitische Macht, soviel wurde auf der Konferenz deutlich, entsteht in modernen Gesellschaften über Diskurshoheit. Ideologiekritik ist daher die Forderung des Tages. Dafür bot dieses Treffen einige brillante Beispiele. Sie sind auf der Homepage der Konferenz nachzulesen. In gedruckter Form werden einige Beiträge in den nächsten Ausgaben des "International Journal for Cultural Policy Research" zu finden sein.
REINHARD STRÖMER geboren 1949 in Westcott / England, nach dem Abitur Studium der Psychologie, Soziologie und Philosophie an der Universität Hamburg sowie Ästhetischer Theorie an der Hochschule für bildende Künste Hamburg; Psychotherapeut in nervenärztlicher Praxis, Musiker in diversen Rockbands, Journalist, Künstlerischer Leiter und Geschäftsführer von Kulturzentren, Leiter und Koordinator international Kulturfestivals, Musikreferent im niedersächsichen Kulturministerium, Leitung des Kulturamts Wiesbaden, Leitung der Kulturabteilung beim Senator für Kultur in Bremen, seit 2006 Leitung des Studiengangs "Musikund Kulturmanagement" an der Hochschule Bremen.
 

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