07.02.2020

Themenreihe Zukunft der Arbeit

Autor*in

Silvester Schmidt
ist Experte für neue Organisationsformen - wie agile Organisationen und Schwarmorganisationen - im Kontext der Digitalisierung. Seiner Überzeugung nach können die Chancen der Digitalisierung nur dann erfolgreich genutzt werden, wenn die Persönlichkeit der handelnden Menschen in den Mittelpunkt gestellt wird. 
Persönlichkeit und Entwicklung agiler Führungskräfte

Freiräume gestalten

Wie können agile Strukturen und neue, eigenverantwortliche Formen des Arbeitens in Kultureinrichtungen etabliert werden? Vor allem braucht es dafür qualifizierte und engagierte Führungskräfte und Mitarbeiter*innen, die Veränderung gestalten und die Grenzen des Möglichen erweitern wollen.

Themenreihe Zukunft der Arbeit

Vor einigen Jahren war ich in ein Projekt eingebunden, dessen Ziel die Steigerung der Arbeitgeberattraktivität deutscher Ministerien war. Wir führten eine Reihe von Ideen-Workshops mit unterschiedlichen und zum Teil gemischten Teilnehmer*innen durch: mit Beschäftigten der Ministerien, mit Schüler*innen und Studierenden, mit Führungskräften. Dabei waren die diskutierten Themen immer dieselben, egal ob Führungskräfte dabei waren oder nicht. Auch die Ergebnisse der Diskussionen waren ähnlich. Im Mittelpunkt standen die Grenzen des Machbaren angesichts des TVöD und der Gesetzeslage. Dieses Beispiel zeigt, dass bestimmte Organisationsformen aufgrund fehlender Gestaltungsmöglichkeiten gar keine "echte Führung" brauchen, also die Formulierung sinnstiftender Ziele, die Schaffung neuer Möglichkeiten für die Mitarbeiter*innen und deren persönliche und fachliche Entwicklung. Das geht in einer Behörde nämlich nicht, ihre Struktur gibt den Mitarbeiter*innen vor, was diese zu tun haben, lässt darüber hinaus aber keinen Freiraum. 
 
Anhand der sogenannten S-Matrix können wir unterschiedliche Organisationsformen verorten und deren Entwicklung nachzeichnen. Sie wird durch die beiden Dimensionen Regeln (dazu gehören auch detaillierte Prozessbeschreibungen, definierte Standards und Normen, Betriebsvereinbarungen usw.) und Hierarchie aufgespannt: 
 
  • In einer reinen Hierarchie gilt das gesprochene Wort der Vorgesetzten. Es gibt kaum festgelegte Regeln, an die sich Führungskräfte oder Mitarbeiter*innen halten müssten. In solchen Organisationen findet sich selten Führung in Form der Entwicklung von Menschen und der Freisetzung intrinsischer Motivation. Hier herrscht eher ein Command-and-Control-Regime. 
  • Eine Projektorganisation zeichnet sich durch eine flache Hierarchie aus. Alle Aufgaben werden in Form von Projekten bearbeitet. Die Führungskräfte befassen sich vornehmlich mit deren Management und Koordination. Die Mitarbeiter*innen orientieren sich mithilfe detaillierter Regelwerke, die ihnen Sicherheit geben. In einem so stark regulierten Umfeld bleibt kaum Raum für Führung, die auf die Gestaltung von Freiräumen durch Führungskräfte und Mitarbeiter*innen abzielt. 
  • Wenn beides - Hierarchie und Regeln - auf die Organisation einwirken, bleibt keine Zeit für Führung. Denn dann sind Führungskräfte damit beschäftigt, in der politischen Gemengelage Claims abzustecken und zu verteidigen. Und die Mitarbeiter*innen bedienen die Bürokratie. Diese Situation finden wir vor allem in Matrixorganisationen, etwa Ministerien. 
  • Führung wird erst wichtig, wenn wir bei flachen Hierarchien die Regelwerke verschlanken und regulierten Organisationsformen zu Wachstumsorganisationen kommen. Zu diesen gehören neben der Agilen zum Beispiel auch die Schwarmorganisation. Dann sind die Mitarbeiter*innen gefordert, die entstehenden Lücken durch kluge Entscheidungen mutig und schnell zu füllen. Das können nur Persönlichkeiten, die Verantwortung übernehmen wollen - für die meisten Menschen keine einfache Aufgabe. 
Die Überwindung dieser Kluft schaffen die meisten - in klassischen Organisationen sozialisierten - Mitarbeiter*innen nicht allein. Hier sind echte Führungskräfte gefordert, die Mitarbeiter*innen bei ihrer Entwicklung zu unterstützen. Das Ziel ist die Stärkung der Kompetenzen Selbstverantwortung und Selbstorganisation, um von Regelwerken und Anweisungen unabhängig zu werden. 
 
Führung ermöglicht Selbstorganisation 
 
Gute Vorbilder für selbstorganisierte Teams und ihre Führungskräfte sind Sportmannschaften und ihre Trainer*innen. Die Mannschaften erbringen im Spiel Höchstleistungen. Dazu fällen die aktiven Spieler*innen rasch gute Entscheidungen, die jedes Mannschaftsmitglied mitträgt. Die Mannschaft lernt in jedem Spielzug (Zyklus) dazu. Sie passt sich an neue Situationen blitzschnell an. Dazu werden Aufgaben und Rollen sowie die mit ihnen verbundene Verantwortung immer wieder neu verteilt und von den Teammitgliedern angenommen. 
 
Trainer*innen bereitet Mannschaften darauf vor. Sie motivieren durch große Visionen und anspruchsvolle Ziele. Sie entwickeln jedes Mitglied der Mannschaft entsprechend seiner Anlagen und Fähigkeiten. Sie stärken das Selbstvertrauen der Mannschaft und jedes Einzelnen. Sie sorgen für eine gutes, von Vertrauen und Offenheit geprägtes Klima und schützen das Team vor schädlichen Einflüssen von außen. 
 
Übertragen wir diese Erkenntnisse auf Organisationen, so entsteht Selbstorganisation unter folgenden Bedingungen: 
 
  • Eine klare Vision dient als "Leitstern" für die Menschen einer Organisation und vermittelt Sinn. Die Führungskraft gibt deren wesentliche Inhalte vor und führt deren Weiterentwicklung und Verbreitung an. Sie verkörpert die Vision! 
  • Aus der Vision ableitbare inspirierende, motivierende, anspruchsvolle und einigende Ziele ermöglichen eine konstruktive Zusammenarbeit und "echte" Teams. Die Führungskraft begleitet die Aushandlung dieser Ziele und sorgt für Akzeptanz. 
  • Selbstorganisation braucht Persönlichkeiten mit einem passenden Wertesystem, denn nur diese wollen und können Verantwortung übernehmen. Sie sind persönlich und fachlich ausreichend kompetent und den anstehenden Herausforderungen gewachsen. Im agilen Kontext sprechen wir von einem Agilen Mindset. Geeignete Persönlichkeiten werden von der Führungskraft identifiziert. 
  • Sinnvolle Leitplanken markieren zielführende Korridore der Selbstorganisation. Die zugehörigen Regeln ermöglichen die Zusammenarbeit innerhalb des Teams und mit außenstehenden Menschen und Bereichen. Sie werden von der Führungskraft gemeinsam mit dem Team definiert. 
  • Selbstorganisation spielt ihre Stärken umso mehr aus, je weniger sie durch Überbleibsel "klassischer Organisationen" behindert und durch Störfeuer von außen gelähmt wird. Sie ist innerhalb der Leitplanken frei von Machthierarchie. Die Führungskraft beseitigt Hindernisse aus der klassischen Welt und bietet Schutz vor schädlichen äußeren Einflüssen. 
  • Selbstorganisation bedeutet völlige Gestaltungs- und Handlungsfreiheit für die Mitarbeiter*innen innerhalb der Leitplanken. Die Führungskraft sorgt für diese Freiheit. 
  • -Die Führungskraft gibt - inhaltliche oder psychologische - Impulse und wirkt als Mediator. Sie verhindert ideologische Grabenkämpfe um den besten Lösungsweg und sorgt für konstruktive Konfliktlösungen. 
Identifikation von Menschen mit einem agilen Mindset 
 
Je mehr förderndes Verhalten die Führungskraft zeigt, desto ausgeprägter ist die Selbstorganisation in ihrem Verantwortungsbereich. Es gibt aber ein notwendiges Führungsverhalten, ohne das Selbstorganisation und agiles Arbeiten nicht möglich sind. Dabei handelt es sich um die hohe Kunst der Identifikation und Förderung von Menschen mit einem agilen Mindset. Um solche Menschen zu finden, muss man deren Persönlichkeit kennen. Es reicht nicht, von dem Verhalten eines Menschen in einer klassisch geprägten Organisation auf seine Eignung für die Mitwirkung in einer agilen Organisation zu schließen. Das gilt für Expert*innen wie für Führungskräfte gleichermaßen und liegt an der Fähigkeit von uns Menschen, unser Verhalten der jeweiligen Situation in gewissem Maße anzupassen. 
 
Die Variabilität unseres Verhaltens hat aber Grenzen aufgrund unserer stabilen, unveränderlichen Persönlichkeitsstruktur. Sie ist von individuellen Grundbedürfnissen und -motiven geprägt, die uns antreiben. Zudem beeinflusst die Persönlichkeitsstruktur indirekt unser Verhalten, denn sie hat einen starken Einfluss auf unsere Möglichkeiten des Kompetenzerwerbs. Wir lernen nur das, was unseren Grundmotiven nützt. Andernfalls können wir uns nicht dauerhaft motivieren, uns mit einem Thema gründlich zu befassen.
 
 
Nun kann die Persönlichkeitsstruktur eines Menschen zu einer agilen Organisationsform passen oder eher nicht. Im ersten Fall sprechen wir davon, dass die Person über ein agiles Mindset verfügt. Sie möchte Neues entdecken und ausprobieren sowie Veränderungen anstoßen. Sie sucht Herausforderungen und ist bereit, Risiken einzugehen und die Verantwortung dafür zu übernehmen. Sie möchte immer besser werden. Und frei sein! 
 
Die agile Führungskraft muss in der Lage sein, Menschen mit einem agilen Mindset zu erkennen. Das ist selbst dann schwierig, wenn man eine Person gut kennt, denn man kennt sie meist aus ihrem bisherigen Kontext und kann nicht abschätzen, wie sie in ein agiles Ökosystem passt. Hat man einen Menschen mit agilem Mindset gefunden, wird er oder sie intuitiv die Chancen agiler Konzepte für sich erkennen und kann leicht gewonnen werden. Sie wird in einer agilen Organisation zur Hochform auflaufen und glücklich sein. Das ist übrigens auch der erste Test: Sucht eine Person bei der Vorstellung agiler Ideen sofort nach Gründen, warum das alles nicht funktionieren kann, verfügt sie vermutlich nicht über ein agiles Mindset. Denkt sie aber über Wege nach, wie eine agile Organisation eingeführt oder weiterentwickelt werden kann, ist sie ein vielversprechender Kandidat.
 
Organisationsformen 
 
Auch Menschen mit einem agilen Mindset brauchen Führung. Diese unterscheidet sich aber stark von der Art Führung, wie wir sie in klassisch-hierarchischen Organisationen finden. Zur Beleuchtung der Unterschiede in der Führung in verschiedenen Organisationsformen nutzen wir wieder die S-Matrix und definieren Rollen, die eine Führungskraft in verschiedenen Organisationsformen einnimmt. Der Vorteil von Rollen ist, dass sie Aufgaben, Verantwortung, Befugnisse und Kompetenzen von Führungskräften konkret greifbar machen. Und sie lassen sich relativ einfach an die spezifische Situation im jeweiligen Unternehmen anpassen. Damit ist die Grundlage für die zielgerichtete Weiterentwicklung von Führungskräften gelegt.
 
In der Hierarchie und der Matrixorganisation nimmt die Führungskraft meist folgende Rollen ein: Entscheider*in, Expert*in, Controller*in oder Administrator*in. In der Projektorganisation ändert sich das bereits und die Führungskraft nimmt meist folgende Rollen ein: begleitende Entscheider*in, Berater*in, Mentor*in oder Manager*in. 
 
In agilen und anderen selbststeuernden Organisationsformen sollte die Führungskraft folgende Rollen einnehmen: 
 
  • Guide: Ich sorge für klar definierte Rollen im Team bzw. der Organisation. Jede Rolle trägt jeweils ihren Teil der Verantwortung für das Team bzw. Unternehmen und entscheidet eigenverantwortlich. 
  • Advisor: Ich berate bei der Bildung von Teams, damit die richtigen Leute in einem Projekt oder an der Lösung einer Aufgabe selbstverantwortlich arbeiten können. 
  • Coach: Ich unterstütze die Mitarbeiter*innen und Teams in ihrer persönlichen und fachlichen Weiterentwicklung, damit sie ihre Aufgaben eigenverantwortlich erfüllen können.
  • Facilitator: Ich fördere die Entwicklung unserer Organisation gemäß folgenden Prämissen: Selbstorganisation statt Hierarchien, Teams statt Organisationseinheiten und Enabler statt Führungskräfte.  
Wer kann eine agile Führungskraft sein?
 
Die Anforderungen und Aufgaben an eine agile Führungskraft sind also enorm. Es stellt sich daher die Frage, wer kann die alle erfüllen? Die Antwort müsste lauten: Die agile Führungskraft ist ein "Superheld" oder eine "Superheldin"! Und tatsächlich fühlen sich viele heutige Superheld*innen auf den Chefetagen klassisch-hierarchischer Unternehmen dazu berufen, auch diesen "agilen Job" zu meistern. Aber Führungskräfte sind Menschen und unterliegen denselben Gesetzen wie gewöhnliche Sterbliche. Und dazu gehört auch, dass sie sich nicht beliebig weit von ihrem authentischen - manchmal hierarchischen - Kern entfernen können, ohne in eine Überforderung zu geraten. Für Führungskräfte gibt es also Grenzen, die ihnen ihre Persönlichkeitsstruktur auferlegen. 
 
Die von den Grundbedürfnissen der Führungskraft definierte Persönlichkeitsstruktur muss demnach ebenso geeignet sein, die beschriebenen Rollen einer agilen Führungskraft authentisch einnehmen zu können. Und die individuelle Motivstruktur muss den Aufbau der erforderlichen Führungskompetenzen ermöglichen. Auch hier haben wir wieder die Situation, dass nicht jede Führungskraft einer klassisch-hierarchischen zu einer agilen Organisation passt. Und umgekehrt bisher unauffällige Projektmitarbeiter enorme Führungsstärken im agilen Umfeld entwickeln. Es reicht aber nicht, einige geeignete agile Führungskräfte an Bord zu haben. Der schiere Umfang und die Natur der Anforderungen können trotzdem nicht von einzelnen oder wenigen Personen geschultert werden. 
 
Wie kann agile Führung gelingen? 
 
Die Lösung liegt darin, sich von der intrapersonalen Führung zu verabschieden. Dabei liegt die gesamte Verantwortung bei wenigen Führungskräften. In selbststeuernden Organisationen erlebend wir stattdessen interpersonale Führung. Hierbei werden klassische Führungsaufgaben auf viele Köpfe in der Organisation verteilt. Die Mitglieder einer agilen Organisation übernehmen für ihren Teil der Führungsarbeit die Verantwortung. Dabei handelt es sich meist um die Gestaltung von Prozessen und Arbeitsbedingungen sowie des Vorgehens zur Lösung eines Problems. Hierfür werden sie von der Organisation uneingeschränkt ermächtigt. Die dezidierten agilen Führungskräfte konzentrieren sich ganz auf die beschriebenen Tätigkeiten als Guide, Coach, Advisor und Facilitator. 
 
Die ausführliche Version dieses Beitrags erschien zuerst im Kultur Management Network Magazin "Dynamik". 

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