01.11.2021
Themenreihe Digitale Formate
Autor*in
Julian Stahl
promoviert am WÜRTH Chair of Cultural Production an der Zeppelin Universität in Friedrichshafen zu den Schnittstellen von Organisationstheorie und Kulturmanagement. Darüber hinaus verantwortet er seit 2016 den Digitalbereich PODIUM.Digital von PODIUM Esslingen und ist Host des PODIUM Podcasts. Nach dem Kulturmanagement-Studium war er Co-Founder von HENRY, einer digitalen Experimentalplattform für zeitgenössische Kunstmusik.
Social-Media-Arbeit von Kulturinstitutionen
Fremde Wesen im bunten Treiben?
Social-Media-Kanäle waren für Kulturinstitutionen in den 2020er Jahren glücklicherweise kein Neuland mehr. Sie hatten es unter ihre Kontrolle gebracht: Sie vermaßen Reichweiten, zeichneten Redaktionspläne und entwarfen aufwendige Kommunikationsstrategien für das neue Territorium. Einziger Haken an der Sache: Ihre Werkzeuge beruhten auf alten Annahmen und die Erfolgsmessung bestätigte sich im selbst gebauten Konstrukt zwangsläufig selbst. Sie hatten zwar das Gefühl endlich im Internet angekommen zu sein, doch wirkten sie auf Digital Natives oft wie fremde Wesen im bunten Treiben. Ein Kommentar.
Themenreihe Digitale Formate
Vielleicht ist es nur mein persönlicher Eindruck, aber auch wenn die meisten Kulturinstitutionen inzwischen auf unterschiedlichen Social-Media-Kanälen präsent sind, so wirkt Vieles, was sie dort veröffentlichen, künstlich und fremd. Anne Aschenbrenner schrieb dazu erst kürzlich auf Twitter: "Wenn (junge) Menschen Social Media für Kulturinstitutionen machen, fallen sie oft in eine unnatürliche Marketingsprache. Als ob plötzlich eine Schublade aufginge mit marktschreierischen Vokabeln. Ich finde das unmöglich, Social Media muss Einladung zum Gespräch sein." Oft bleibt die Kommunikation verlängerter Arm des Marketings, Servicemeldungen und Veranstaltungsankündigungen versanden in ausgetrockneten Kanälen. Und Reichweiten, deren Messung kaum jemand versteht, werden zum alleinigen Qualitätsmerkmal. Woran liegt das? Die Social-Media-Gegenwart ist so bunt, so laut, so vielfältig, so kreativ, dass es Anlässe genug gibt, sich von diesem lebendigen Treiben anziehen zu lassen und mitzumischen. Inspirierende Beispiele gibt es viele, wenn Sie ein wenig Zeit haben, lassen Sie sich einmal entlang des Hashtags #lernenmittiktok treiben oder folgen Sie Deutschland3000 auf Instagram.
Die Welt der Digital Natives
Das künstlerische Team vom FFT Düsseldorf prägt seit einigen Jahren in Anlehnung an John Perry Barlow den Begriff der Digital Natives "als Bezeichnung für eine jüngere Generation, die eine sich transformierende Welt (anders) bewohnt". Eine Welt, in der "digitale Kultur längst nicht mehr die Spielwiese einiger, vermeintlich nerdiger Menschen" ist. Stattdessen ist sie "ein Feld kulturellen Handelns […], das durch eine anders strukturierte Form des Zugangs und der Partizipation gesellschaftliche Gruppen in einen kulturellen Diskurs geholt hat, die über Jahrzehnte und teilweise Jahrhunderte von Gate-Keepern herausgehalten wurden", wie Simon Sahner in seinem fantastischen Essay schreibt. Was macht diesen Raum aus und warum tun sich etablierte Institutionen so schwer damit, ihn zu erkunden?
Referentialität und Gemeinschaftlichkeit sind in der Beobachtung von Felix Stalder zwei von drei wesentlichen Grundformen der digitalen Kultur, die "ein neues Set an Möglichkeiten und Erwartungen bilden, mittels dessen jeder Einzelne sich selbst und die Welt konstituieren und begreifen kann". Die kollektive Verhandlung von Bedeutung sei in der digitalen Kultur geprägt davon, Bezüge herzustellen: "Bereits mit Bedeutung versehenes Material […] wird verwendet, um neue Bedeutung zu schaffen." So wie beispielsweise jüngst das "Sondierungsselfie" der FDP und Grünen vielfach bearbeitet und mit neuem Kontext versehen wurde. (An dieser Stelle eine große Empfehlung an den Newsletter "Phoneurie" von Berit Glanz).
Die Bezüge und Verweise setzen einen gemeinsamen Wissenshorizont voraus, innerhalb dessen gemeinschaftlich Bedeutungen produziert werden. Aufmerksamkeit entsteht nicht durch die gewichtige Stellung von Expert:innen, sondern folgt anderen, gemeinschaftlich verhandelten Logiken. Was auf Social-Media relevant wird, bestimmen nicht einzelne große Akteure, sondern entscheidet sich dynamisch, folgt aktuellen Trends und den Interessen unterschiedlicher Communities. Das Geschehen ist laut und unübersichtlich und nicht kontrollierbar. Das fordert Kulturinstitutionen heraus, und das nicht nur, weil ihr traditionelles Selbstverständnis dem oft konträr gegenübersteht. Auch aus ganz praktischen Gründen.
Social-Media-Kommunikation ist verdammt anspruchsvoll
Um das hochvirtuose Spiel aus Verweisen und Bezügen spielen zu können, braucht es vielfältige Kompetenzen: Erstens ein technisches Verständnis des jeweiligen Social-Media-Kanals, zweitens ein tiefgehendes Verständnis für die Inhalte und Programme der Institution, drittens ein Verständnis aktueller Diskurse und digitaler Phänomene und viertens die Schnelligkeit und Übung diese drei Ebenen zusammenzubringen. Abgesehen davon, dass sich bisher nur wenige Institutionen überhaupt kontinuierlich arbeitende Social-Media-Redakteur:innen leisten wollen, ist das ein verdammt anspruchsvolles Anforderungsprofil und nicht nebenbei zu machen. Ohne eine dauerhafte, gut bezahlte Besetzung des Bereichs mit ausreichend Zeit und Verantwortung geht es nicht.
Strukturell braucht es ebenso ein Umdenken und eine viel stärkere Verknüpfung von inhaltlicher und redaktioneller Arbeit. Offenheit und Sensibilität für relevante Communities und der Wille zum konstanten Austausch auf Augenhöhe sind dafür zwingende Voraussetzungen. Und zwar nicht nur dann, wenn noch schnell Tickets für die schlecht gefüllte Veranstaltung am nächsten Abend verkauft werden sollen. Andernfalls bleibt es beim klassischen Senden von Botschaften, in der vagen Hoffnung, dass sie von Irgendjemandem für relevant erachtet werden. Dabei liegen in guter Social-Media-Kommunikation so viele Chancen, wenn Kulturinstitutionen sich auf diese wandelnden Welten einlassen und mit jüngeren Generationen und vielfältigen Communities neue Interaktions- und Produktionsräume erproben. Spannend ist zum Beispiel zu beobachten, was sich aktuell in einigen Projekten des Förderprogramms dive in der Kulturstiftung des Bundes oder #creatorsfordiversity von TikTok entwickelt, gerade weil beide Programme zentral auf Dialog und Partizipation setzen. Das geht nicht von heute auf morgen, wird aber umso spannender, wenn gemeinschaftlich und voller Neugierde Neues entsteht.
Vom Autor empfohlene Artikel zum Weiterlesen:
- Grundformen der Digitalität von Felix Stalder
- Das Theater der Digital Natives von Irina-Simona Barca, Katja Grawinkel-Claassen und Kathrin Tiedemanns
- Der Stoff aus dem Meme-Träume sind - Deepdive in die digitale Kultur von Simon Sahner
- Begleitender Twitter-Hashtag zur Tagung "Soziale Medien. Schreibweisen der Gegenwart nach der Digitalisierung"
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War was?16.12.2020
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von Rainer Glaap , 30.12.2021 18:54»Viele Jahre habe ich Zusammenhang mit Social Media in der Kultur bei meinen Fragen zu Erfolgsmessungen, ROI etc. sehr oft zu hören bekommen, dass seien untaugliche Methoden. Bei Social Media sei alles anders, das könne man mit den üblichen Marketingmethoden nicht vergleichen, es ginge um Qualität, die könne man gar nicht messen ... Wenn ich wissen wollte, wie viele Besucher seien mehr bekommen, wie viele Tickets seien verkauft worden, habe ich nur Unverständnis geerntet.
Dabei gibt es Kampagnen mit messbaren Erfolgen. Wenn man die Zielgruppe um Auge hält.
Und da kann man TikTok für die dollste Erfindung seit geschnittenem Brot halten, man wird keine Opernkarten darüber verkaufen und auch sonst kenne Bindung herstellen.
Auch wenn vielleicht, wie die New York Times gerade schrieb, sich vermehrt junge Leute an und in der Met einfinden. Aber leider: Oper egal, Hauptsache Selfie.
(Ich bin ein Digital Native, trotz Jahrgang 1956. Mehr erste E-Mail habe ich ca. 1984 verschickt, das Internet nutze ich seit 1992).«