28.08.2019

Buchdetails

Nicht-Besucherforschung: Audience Development für Kultureinrichtungen
von Martin Tröndle
Verlag: Springer VS
Seiten: 145
 

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Autor*in

Tibor Kliment
ist Professor für Empirisches Medien- und Kulturmanagement an der Rheinischen Fachhochschule Köln. Er studierte Sozial- und Wirtschaftswissenschaften an Universität Bochum und promovierte an der FU Berlin. Er hatte Lehraufträge an zahlreichen Universitäten und Fachhochschulen, u.a. an der Universidad Nuevo Mundo/ Mexico City. Seine fachlichen Schwerpunkte sind Marketingforschung, Evaluationsstudien und Kommunikationsplanung.
Buchrezension

Nicht-Besucherforschung. Audience Development für Kultureinrichtungen

Nicht-Besucher von Hochkultur-Einrichtungen waren lange unbekannte Wesen, von denen Kulturmanager zwar vieles glaubten, aber wenig wussten. Seit einigen Jahren bemüht sich die Forschung nun, mehr konkretes Wissen über Nicht-Besucher zu generieren. Die neueste Publikation dazu ist diese empirische, quantitativ-qualitative Untersuchung von Martin Tröndle, durchgeführt an ca. 1.300 Berliner und Potsdamer Studierenden.
 
Langsam, aber stetig setzt sich in Kultureinrichtungen die Erkenntnis durch, dass eine Zukunftssicherung allein durch das bestehende Publikum nicht gelingt. Zwar sorgt der demografische Wandel mit seinem großen Segment älterer, konsumstarker und kulturinteressierter Menschen aktuell noch für eine gewisse Entspannung. Auf Dauer aber wird das bestehende Angebot ohne neues Publikum nicht zu erhalten sein. Deshalb wird zunehmend der sog. Nicht-, Selten- oder Fast-Besucher ins Visier genommen, der zudem die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung ausmacht. In diesen Forschungszweig ordnet sich das von Martin Tröndle herausgegebene Buch ein, das 2019 bei Springer erschienen ist. 
 
Der Klappentext des Buches verspricht dem Leser auf 127 Seiten so einiges: Einen "fundierten Überblick zum Stand der internationalen Nicht-Besucherforschung", "umfangreiche quantitativ-qualitative Analysen zu den Gründen des Nicht-Besuchs" von Kultureinrichtungen sowie eine "empirisch begründete, praxisnahe Theorie zur Besuchergewinnung". Das Buch wird von den Verfassern deswegen auch als "erste umfangreiche Arbeit zur Nichtbesucherforschung in Deutschland" apostrophiert. Wissend, dass es in den letzten Jahren schon zahlreiche Publikationen zu diesem Thema gab, steigt man mit entsprechend hohen Erwartungen in die Lektüre ein.
 
Die Klassiker
 
Zu Beginn werden die einschlägigen Klassiker der Kultursoziologie aufgearbeitet, angefangen bei Wolfgang Simmel über Pierre Bourdieu und Richard Petersen bis zu Gerhard Schulze. Deren Theoriemodelle lassen die Verfasser gut nachvollziehbar Revue passieren, sie haben jedoch für die weitere empirische Untersuchung wenig Relevanz. Dichter am Thema ist da schon die darauffolgende Durchsicht einiger US-amerikanischer und europäischer Studien zur Nicht-Besucherforschung. Hier handelt es sich allerdings nur um eine Handvoll zumeist älterer Untersuchungen aus den Jahren 1980 bis 2001 sowie zwei kleineren Befragungen mit 90 Jugendlichen in Italien (2006) und Besuchern/Nicht-Museumsbesuchern in Columbus (Ohio) in 2009. Offensichtlich gelingt diese Recherche nur sehr oberflächlich. Die ausgesprochen zahlreichen und sehr umfangreichen Publikumsstudien aus GB, den USA sowie innerhalb der EU zur kulturellen Partizipation wären gut zu verwenden gewesen, fehlen aber leider ganz.  
 
Ähnlich lückenhaft fällt die anschließende Durchsicht von Untersuchungen aus Deutschland aus. Auch hier konzentriert sich der Verfasser auf weniges: Zitiert werden bekannte (Kirchberg, Deutscher Bühnenverein, Renz) und kleinere Studien (Höge, Bartsch et al) aus den Jahren 1996 bis 2016. Die zahlreichen Arbeiten zu den Determinanten der Kulturnutzung, wie sie hierzulande regelmäßig u.a. von Mandel, Keuchel oder Reuband vorgelegt werden, spielen leider gar keine Rolle, obwohl sie viel zu der Thematik beitragen könnten. Die Verfasser resümieren ihren Überblick mit einer Kritik an der fehlenden Vergleichbarkeit der Studien in Bezug auf Begrifflichkeiten und Konzepte (etwa beim uneinheitlich verwendeten Begriff "Nicht-Besucher") und an der insgesamt mangelhaften Forschungslage. Dennoch seien die genannten Untersuchungen insofern von Belang, als hier Ansätze für die eigene, spätere Erhebung übernommen würden. Wo und wie das genau geschieht, ist allerdings nur punktuell erkennbar.
 
Die Nicht-Besucherbefragung
 
In der empirischen Untersuchung näherten sich Tröndle et al dann über einen qualitativ-quantitativen Forschungsansatz an: Zunächst erfolgte eine quantitative Befragungen unter 1.263 Studierenden an vier Berliner bzw. Potsdamer Universitäten per persönlichem, standardisiertem Interview in den dortigen Mensen und Cafeterien. Eine Begründung für diese spezielle - vermutlich forschungsökonomisch geleitete - Probandenauswahl geben die Autoren nicht.  Von einer "umfassenden" Analyse der Nicht-Besucher in Deutschland kann deswegen leider schon an dieser Stelle nicht mehr gesprochen werden. 
 
Als "Nicht-Besucher" werden dann solche Studierenden eingestuft, die in den letzten 12 Monaten keine Theater-, Konzert- oder Opernaufführung besucht haben. Ähnliches wird auch für Galerien/ Kunstmuseen und Rock-Pop Konzerte abgefragt, aber diese spielen in den weiteren Darlegungen keine Rolle. Leider geben die Verfasser keine Erläuterung für die 12-Monatsabgrenzung, noch deckt sie sich mit vergleichbaren Untersuchungen: Nach der Einteilung der erwähnten Studie des Deutschen Bühnenvereins beispielsweise liegt bei den Nicht-Besuchern der letzte Aufführungsbesuch mindestens vier Jahre zurück, bei der Potenzialstudie von Gerdes gingen die Nicht-Besucher "seltener als ab und zu" ins Theater, bei Höge "fast nie", bei Mandel besuchen die Nicht-Besucher "nie" Aufführungen, in einer Untersuchung des Rezensenten ebenso, wobei hier noch Einstellungsmerkmale der Probanden zur Klassifizierung hinzukommen. 
 
Aus der Gruppe der einjährigen Nicht-Besucher wurden dann in einem zweiten Schritt Studierende ausgewählt, die auf Einladung eine Theater-, Musik oder Opernaufführung in Berlin besuchten. Diese Personen wurden vor und nach dem Besuch mit einem teil-strukturiertem Interview befragt. 
 
Was den (Nicht-)Besuch ausmacht
 
Im Ergebnis kommt Tröndle auf knapp 60% Nicht-Besucher bzw. 40% Besucher unter den Studierenden. Dieser vergleichsweise hohe Anteil von Nicht-Besuchern bei einer insgesamt hoch gebildeten und kulturaffinen Zielgruppe resultiert vermutlich aus der sehr restriktiven Definition der Nicht-Besucher. Anschließend werden die Unterschiede zwischen Besuchern und Nicht-Besuchern analysiert. Dabei wird im Wesentlichen Bekanntes verhandelt: Einen positiven Einfluss auf den Kulturbesuch haben ein weibliches Geschlecht, ein formal hoch gebildetes Elternhaus, frühe Besuche von Theatern und Konzerten mit den Eltern und der Schule, eigene künstlerische Aktivitäten in der Vergangenheit, ausreichende Informationen sowie persönliche Empfehlungen. Hinzu kommen ein kulturaffiner Freundeskreis, der auch als Begleitung zum Aufführungsbesuch fungiert, ein allgemein enger Bezug zur Kunst sowie ein positives Image der Kultureinrichtung. Wirklich Neues erfährt man dabei zwar kaum, dafür werden vorhandene Erkenntnisse im Kontext studentischer Probanden bestätigt.
 
Fallstricke der Empirie
 
Zusätzlich zu der im Ganzen eher überschaubaren Ausbeute stechen auch einige methodische Probleme ins Auge: Eine Befragung ausschließlich im studentischen Berliner/ Potsdamer Milieu (inkl. einer Kunsthochschule) erlaubt zwar Aussagen zu den Besuchshemmnissen unter Studierenden. Eine Übertragung auf andere, ältere, weniger gebildete, nicht urbane oder sozioökonomisch anders ausgestattete Nicht-Besucher scheint jedoch wie erwähnt kaum möglich. Die spontane Auswahl der Befragten in den Cafeterien und Mensen (statt der gezielten Selektion über ein Verzeichnis o.ä.) beinhaltet zudem ein stark subjektives Moment. Wegen der eingeschränkten Probandenbasis kann die Erhebung auch keine Grundlage bieten, auf der Hochrechnungen oder Potenzialbestimmungen von Nicht-Besuchern vorgenommen werden könnten. Die Aussage, dass sich auf Basis der Ergebnisse der Anteil aktiver Besucher an Kultureinrichtungen verdoppeln lassen würde (S. 108), mutet daher sehr gewagt an. 
 
Ein anderes Problem liegt in der problematischen Definition von "Nicht-Besuchern". Man muss Zweifel daran haben, ob die einjährige Abwesenheit von Aufführungsbesuchen allein zur Typisierung einer Nicht-Besucher Zielgruppe ausreicht. Ist ein Studierender, der ab und an ins Theater geht, es aber aufgrund von Prüfungsbelastungen, Umzug, Auslandssemester etc. in einem Jahr einmal nicht schafft, tatsächlich schon ein kulturell distanzierter Nicht-Besucher? Es liegt auf der Hand, dass diese spezielle Typisierung einen erheblichen Einfluss auf die Analyseergebnisse hat und die Unterschiede zwischen Besucher und Nicht-Besucher zwangsläufig verringert. Die Analyse der Differenzen zwischen beiden Gruppen erfolgt zudem in Form von Signifikanztest der einzelnen Gruppenmittelwerte. Diese können aber die vielfältigen Wechselwirkungen, beispielsweise zwischen Alter, Geschlecht, eigener künstlerischer Aktivität, Bildung u.v.m., gar nicht berücksichtigen. Hier bietet der Instrumentenkasten der Statistik viele bessere, leider nicht genutzte Möglichkeiten. 
 
Und schließlich: Die Autoren haben dankenswerterweise den verwendeten Fragebogen offengelegt. Beim Blick darauf stellt sich allerdings die Frage, ob die in der Mitte und am Ende des umfangreichen, achtseitigen Fragebogens platzierten Fragen zum Kulturbesuch bzw. Besuchsinteresse noch eine neutrale Aussage erlauben. Wer sich durch die zahlreichen kulturbezogenen Fragen hindurchgearbeitet hat, wird am Ende differenzierter und möglicherweise anders (interessierter?) zum Kulturbesuch stehen als zuvor bzw. als nicht befragte Nicht-Besucher. All dies setzt hinter die Ergebnisse zahlreiche Fragezeichen. 
 
Einladung der Nicht-Besucher als experimenteller Ansatz
 
Interessanter ist da schon der qualitative Ansatz. Hier wurden ca. 80 Nicht-Besucher aus der Gruppe der Studierenden in verschiedene Opern- und Theateraufführungen eingeladen und mittels Leitfadeninterviews im Vorfeld zu ihren Erwartungen der Aufführung bzw. im Nachgang zu ihren Besuchserfahrungen befragt. Die Ergebnisse sollen mit einem spezialisierten Textanalyseprogramm (MAXQDA) codiert und später inhaltsanalytisch verdichtet worden sein. Wie genau das geschieht, wird zwar nicht wirklich transparent gemacht, ist aber zumindest insofern zu verschmerzen, als die Ergebnisse anschaulich und zitatenreich dargelegt werden. Hier zeigt sich, dass die Nicht-Besucher vor den Aufführungen recht festgelegte Vorstellungen darüber hatten, was sie erwartet. Danach mussten sie ihre vorgefassten Meinungen häufig in verschiedener Hinsicht modifizieren. Dies betraf etwa die Räumlichkeiten und Atmosphäre, den Service im Haus, die wahrgenommene soziale Distanz zum übrigen Publikum und insbesondere die Aufführungen selbst. Leider wird nichts darüber gesagt, wie viele der eingeladenen Nicht-Besucher sich nach dem Aufführungsbesuch zukünftig weitere Besuche vorstellen konnten. Tröndle et al sind aber der Auffassung, dass die Häuser deutlich näher an der Lebenswirklichkeit und den Interessen der Nicht-Besucher sind, als sie selbst glauben bzw. als es ihrem Image entspricht. 
 
"Nähe" als Dispositiv
 
Entscheidend für die Gewinnung von Nicht-Besuchern ist für Tröndle et al, dass sie einen Moment der "Nähe" erfahren. Dies sei einmal inhaltlich-lebensweltlich zu verstehen, also durch den künstlerischen bzw. kulturellen Inhalt selbst, der Momente der Identifikation bietet und dem zu folgen man geistig in der Lage ist. Andererseits geht es um kontextuelle Aspekte, etwa die Architektur, die einladende Gestaltung der Räumlichkeiten, die Wohlfühlatmosphäre sowie ein dem Besucher ähnliches Publikum. Tröndle spricht hier von "Nähe als Dispositiv", welches beispielsweise das Stück und die Inszenierung, aber auch das Ambiente, das Image, das soziale Miteinander und die Willkommenskultur des Hauses einschließt. Wichtige Aspekte seien dabei die Chance, in den Häusern auf Menschen zu treffen, unter denen man sich wohlfühlt und die eine geringe Altersdistanz aufweisen, und dass eine Begleitung zur Verfügung stehe. Hier kann den Autoren gefolgt werden, auch wenn diese Erkenntnis ebenfalls nicht neu ist. In der Frage, wie dieses Dispositiv konkret umzusetzen sei, fallen Tröndle et al allerdings wieder hinter die eigene Analyse zurück. Relativ blass erscheint da der Vorschlag zur Entwicklung von Apps, die (Nicht-)Besuchern helfen sollen, für sie interessante Veranstaltungen zu selektieren und zugleich die passende Begleitung zu finden.
 
Was bleibt
 
Im Ergebnis hinterlässt die Arbeit einen sehr zwiespältigen Eindruck. Wer das Buch an seinen hoch gehängten Versprechungen misst, wird zwangsläufig enttäuscht. Der Forschungsstand wird an anderen Stellen besser abgebildet, die Methodik ist mit etlichen Fragezeichen versehen, die untersuchte studentische Zielgruppe repräsentiert nur ein sehr spezielles Segment von Nicht-Besuchern in Deutschland und die Analysen zur Besuchergewinnung enthalten weitgehend bekannte Elemente. 
 
Lässt man dies beiseite, gewinnt die Studie aber mit dem originellen Ansatz, die Nicht-Besucher mit konkreten Aufführungserlebnissen zu konfrontieren. Dieses ermöglicht das Herausarbeiten von deren vorgefassten Erwartungs- und Erlebnismustern. Das Buch thematisiert die psychologischen und soziokulturellen Barrieren, die Nähe oder Distanz zur Kultur stiften, und veranschaulicht, inwieweit das konkrete Besuchserlebnisses die Kraft besitzt, diese Dinge zu verändern. Insofern ist die Studie zwar nicht der apostrophierte große Wurf, aber ein interessantes, zusätzliches Puzzlestück der Nicht-Besucherforschung.
 
Das Buch ist damit für Kulturschaffende und Kulturmarketing relevant, für Studierende der Kulturwissenschaften und alle, die einen schnellen Einstieg in das Thema Nicht-Besucherforschung suchen.

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